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Bolitho dachte an Carwithen und seine Handvoll Männer, die außen herum gingen, um dem einsamen Wächter in den Rücken zu fallen. Sie mußten jetzt ungefähr am Ziel sein. Carwithens brutale Wildheit fiel ihm wieder ein — ob er den unglücklichen Posten inzwischen niedergemacht hatte?

Unvermittelt erklang eine Stimme in der Dunkelheit, und Bolitho dachte schon, Carwithen sei aufgehalten worden. Aber die Stimme kam vom Boot her, und trotz der fremden Sprache hörte Bolitho, daß der Mann eine Frage stellte. Oder vielleicht einen Namen rief.

Allday flüsterte:»Sie suchen nach dem Vermißten, Captain. «Er ließ sich auf die Knie nieder, um das Boot gegen die hellere Brandung besser erkennen zu können.»Sechs sind es.»

Leise sagte Bolitho:»Aufpassen, Jungs! Laßt sie rankommen. «Er hörte, wie einer der Männer mit den Zähnen knirschte: gespannt, nervös, das waren sie alle, verängstigt vielleicht durch die ungewohnte Umgebung.

«Einer klettert drüben den Abhang zum Ausguck hinauf«, flüsterte Allday.

Vorsichtig zog Bolitho seinen Degen. Natürlich. Dort mußte jemand zuerst hingehen und den Posten fragen, ob er den Vermißten gesehen hatte. Die anderen fünf schlenderten den Strand entlang und unterhielten sich, sorglos ihre Waffen schwingend.

Bolitho warf einen Blick hinter sich. Seine Männer knieten fast unsichtbar, duckten sich hinter Felsen oder lagen im flachen Wasser. Er wandte sich wieder um und beobachtete die näherkommenden Schatten. Noch zwanzig Yards, noch fünfzehn. Jetzt mußten sie bald entdeckt werden.

Ein furchtbarer Schrei zerriß die Stille und hing noch in der Luft über der Felsenkante, als der Mann schon tot war.

Die fünf Schatten fuhren erschrocken herum — der Todesschrei mußte von ihrem Wachtposten oben gekommen sein.

«Drauf, Leute!«brüllte Bolitho.

Wortlos sprangen alle hoch und stürzten sich auf die fünf Gestalten, die auf die Brandung zurannten. Einer rutschte aus, fiel lang hin, versuchte aufzustehen, wurde aber vom Entersäbel eines Matrosen niedergeschlagen und blieb als winselnder Haufen liegen, während der Matrose weiterlief. Die anderen hatten das Boot erreicht, konnten es aber, da zwei Mann fehlten, nicht sofort ins tiefere Wasser schieben. Stahl blitzte in der Dunkelheit auf, die Matrosen waren über ihnen, es kam zu einem wilden und mörderischen Kampf. Ein Matrose blieb mit dem Fuß in einer Ducht hängen, fiel hin und wurde, ehe er wieder hochkommen konnte, von einem langen Säbel buchstäblich in den Sand genagelt. Aber sein Gegner fiel fast gleichzeitig über ihn. Die restlichen beiden warfen ihre Waffen weg, wurden aber von den wütenden Matrosen niedergemacht.

«Wir haben einen Mann verloren, Sir«, meldete Davy knapp, drehte den Leichnam auf den Rücken und nahm ihm den Entersäbel aus der Hand.

Bolitho stieß seinen Degen in die Scheide. Ihm zitterten die Beine vom schnellen Rennen, aber auch vor nervöser Spannung. Er blickte zu dem vor Anker liegenden Schoner hinüber: kein Ruf, kein Alarmzeichen. Einmal glaubte er, Gesang über die rauschende Brandung herüberwehen zu hören, eine fremde, unbestimmt traurige Melodie.

«Verdammt nachlässiger Ausguck, Sir«, sagte Davy heiser.

Die Männer sammelten sich jetzt bei den Booten. Das eine lag schon den ganzen Tag hier und am höchsten auf dem Strand. Um es zu Wasser zu bringen, würden mehr Männer nötig sein als bei dem zuletzt angekommenen.»Hätten Sie an ihrer Stelle mit einem Angriff gerechnet?«fragte Bolitho.

Davy zuckte die Schultern.»Wahrscheinlich nicht.»

Carwithen kam den Abhang herunter; er lief so schnell, daß seine Männer Mühe hatten, ihm zu folgen. Wütend sagte er:»Dieser elende Narr Lincoln war zu langsam mit seinem Dolch!«Böse funkelte er die Umstehenden an.»Mit dem rede ich noch!»

«Boote zu Wasser«, befahl Bolitho. Zu den sechs Marineinfanteristen sagte er:»Ihr nehmt das zweite. Was zu tun ist, wißt ihr.»

Einer von ihnen, der, welcher den Schoner zuerst gesehen hatte, brummte:»Alles klar, Sir. Wir gehen mit dem Boot so auf Position, daß wir die Poop sehen können, und putzen jeden weg, der da an den Laternen vorbeikommt.»

Bolitho lächelte zufrieden.»Hauptmann Bellairs hat Sie mit Recht ausgesucht.»

«Hier lang, Captain«, flüsterte Allday.

Die Brandung umspülte ihm Beine und Unterkörper; er fühlte das rauhe Dollbord des Bootes und Alldays Hand, die ihn hineinzog.

«Stoß ab!»

Bolitho zwang sich gewaltsam, nicht auf die wild arbeitenden Riemen zu blicken, auch nicht auf Allday, der sich mit allen

Kräften bemühte, das Boot durch die Brandung zu steuern. Jetzt brauchte es nur eine Ladung gehacktes Blei vom Schoner, und sein ohnehin fadenscheiniger Plan mißlang schon im Ansatz. Das Boot stampfte schwer; die Riemen zogen besser, als es sich erst einmal aus der starken Grundströmung gelöst hatte. Die schlanken Masten des Schoners drohten herüber; das Gewirr der restlichen Takelage verschwamm gegen den dunklen Himmel.

Allday stand breitbeinig und wachsam über der Ruderpinne, die er leicht mit den Fingerspitzen hielt.

«Ruder an!«Er neigte sich vor, damit sie ihn besser hörten.»Achtung, im Bug!»

Achteraus hörte Bolitho das regelmäßige Eintauchen der Riemen des zweiten Bootes, das eilig zum Bug des Schoners pullte.

«Jetzt oder nie, Captain!«stieß Allday aus und entblößte die Zähne, so daß die Männer im Boot sich fragten, was er denn zu grinsen hätte.

Bolitho erhob sich neben ihm und streckte den Arm aus, um das Boot von dem überhängenden Achterdeck frei zu halten, das wie eine gleitende Wand direkt über ihnen emporragte.

«Jetzt!»

Ein gellender Schrei und ein Rasseln — der Buggast schleuderte seinen Draggen über das Schanzkleid. Mit einem Knirschen stieß das Boot an die Bordwand; ein paar Männer fielen in dem Durcheinander hin, während die anderen voller Eifer über ihre Körper und die verschränkten Riemen, wie über eine lebende Brücke, an Deck des Schoners kletterten.

Schon hasteten ein paar Gestalten aus dem Vorderkastell, aber da knallte es dumpf; getroffen von der wohlgezielten Musketenkugel, wirbelte ein Mann herum — im hellen Licht der Pooplaterne sah es wie ein irrer Schattentanz aus.

Bolitho spürte mehr als er es sah, wie eine Gestalt aus den Speigatten auf ihn zusprang. Er duckte sich weg, und im selben Moment zischte etwas über seinen Kopf. Er führte einen Degenstoß nach dem Angreifer. Der Mann wich zurück, griff aber, eine mächtige Axt schwingend, gleich wieder an.

«Daß ihn die Pest…!«schrie Carwithen und feuerte seine Pistole direkt in das Gesicht des Mannes ab.

«Das reicht dem Bastard!«knurrte er befriedigt.

Einer von der Mannschaft des Schoners war in den Vormast geklettert. Ein Matrose enterte unter wütendem Gebrüll auf. Wieder knallte eine Muskete von dem zweiten, in der

Dunkelheit lauernden Boot her, aufstöhnend stürzte der Pirat aufs Deck, wo schon ein Entermesser auf ihn wartete.

Allday rief:»Die meisten verstecken sich unter Deck, Captain!«Er rannte zum Niedergang und feuerte hinunter.»Die haben die Schnauze voll, glaube ich.»

Bolitho spähte nach achtern zu den Laternen.»Ruft das andere Boot zur Verstärkung heran!»

An Deck des Schoners war es auf einmal still, und als Bolitho langsam auf die kleine Kajütslaterne direkt vor dem Steuerrad zuging, konnte er seine Schritte hören. Aber der Kampf war noch lange nicht vorbei.

Vorsichtig ging er um den Leichnam herum, der dort auf dem Rücken lag. Es war der erste, der von der Kugel des Marineinfanteristen gefallen war. Das tote Gesicht glänzte im Licht der Laterne; der Unterkiefer war weggerissen.

«Weg da, Captain!«schrie Allday, denn eben kletterte ein Pirat durch die Luke. Doch das Gesicht des Mannes verzerrte sich im Todeskampf, denn direkt unter ihm hatte jemand eine Pistole abgefeuert. Ein Schatten glitt durch den Pulverqualm; es war Lincoln, der Matrose mit der Narbe im Gesicht. Seine Augen waren hart wie Stein, als er sich durch die Luke zwängte und an Deck fallen ließ, direkt auf den Toten. Dumpf schlugen seine Füße auf dem Leichnam auf, er machte eine rasche Wendung, bei der er zweimal mit seinem Dolch zustieß — beim zweiten Stoß ertönte ein Schrei aus der Dunkelheit.