Der Chef hatte es getan - dessen war er sicher. Die Bedingungen waren ihm schon die ganze Zeit verdächtig großzügig vorgekommen. Das Rondell warf nicht grundlos derartig mit dem Geld herum - es sei denn, sie hätten von Anfang an heimlich mit der Möglichkeit gerechnet, dass sie ihn verlieren könnten. Geld in dieser Menge war ein Pflaster für Härten und Gefahren, deren Existenz der Chef nicht offen zugeben wollte. Die Großzügigkeit des Angebotes hätte eine Warnung sein sollen; aber Leamas hatte diese Warnung nicht beachtet.
»Wie, zum Teufel«, fragte er ruhig, »sind sie darauf gekommen?« Ein Gedanke schien ihm durch den Kopf zu gehen und er sagte: »Ihr Freund Ashe hätte sie natürlich informieren können, oder Kiever …«
»Die Möglichkeit besteht«, erwiderte Peters. »Sie wissen genausogut wie ich, dass solche Dinge immer vorkommen können. Es gibt in unserem Beruf keine Sicherheit. Tatsache ist«, fügte er etwas ungeduldig hinzu, »dass inzwischen jedes Land in Westeuropa nach Ihnen Ausschau hält.«
Leamas hatte Peters kaum gehört.
»Sie haben mich jetzt fest am Haken, nicht wahr, Peters?« sagte er. »Ihre Leute müssen sich krank lachen. Oder stammt der Tip vielleicht von Ihnen?«
»Sie überschätzen Ihre Bedeutung«, sagte Peters säuerlich.
»Dann verraten Sie mir, weshalb Sie mich beschatten lassen. Als ich heute morgen einen Spaziergang machte, blieben mir dauernd zwei kleine Männer in braunen Anzügen auf den Fersen. Einer zehn Meter hinter dem anderen, den ganzen Strand entlang. Als ich zurückkam, rief die Haushälterin Sie an.«
»Bleiben wir doch bei dem, was wir wissen«, schlug Peters vor.
»Es kann uns doch im Augenblick ziemlich gleichgültig sein, auf welche Weise Ihre Dienststelle Ihnen auf die Spur gekommen ist. Tatsache ist, sie sind Ihnen draufgekommen.«
»Haben Sie die Londoner Abendzeitung mitgebracht?«
»Natürlich nicht. Man kann sie hier nicht bekommen. Wir erhielten ein Telegramm aus London.«
»Das ist eine Lüge. Sie wissen sehr gut, dass Ihre Stellen nur mit der Zentrale Verbindung aufnehmen dürfen.«
»In diesem Fall wurde ein direkter Kontakt zwischen zwei Außenstellen gestattet«, erwiderte Peters ärgerlich.
»Nun gut«, sagte Leamas mit einem gezwungenen Lächeln. »Sie müssen eine große Nummer sein. Oder - ein Gedanke schien ihm plötzlich durch den Kopf zu schießen - ist die Zentrale an dieser Angelegenheit nicht beteiligt?«
Peters überging diese Frage.
»Sie kennen die Alternative: entweder Sie überlassen es uns, für Sie zu sorgen und Ihren sicheren Übergang zu arrangieren, oder Sie sind auf sich selbst angewiesen - mit der Gewißheit, schließlich doch gefaßt zu werden. Sie haben keine falschen Papiere, kein Geld, nichts. Ihr britischer Paß wird in zehn Tagen ungültig.«
»Es gibt eine dritte Möglichkeit. Geben Sie mir einen Schweizer Paß und etwas Geld und lassen Sie mich laufen. Ich kann selbst für mich sorgen.«
»Ich fürchte, das wird man nicht für wünschenswert halten.«
»Sie meinen, Sie haben die Befragung nicht beendet? Vorher kann ich nicht freikommen?«
»Das ist, grob ausgedrückt, die Lage.«
»Was werden Sie mit mir machen, wenn das Verhör beendet ist?«
Peters zuckte die Achseln. »Was schlagen Sie vor?«
»Einen neuen Ausweis. Skandinavischen Paß vielleicht. Geld.«
»Es ist reine Theorie, aber ich will es meinen Vorgesetzten empfehlen. Kommen Sie mit?«
Leamas zögerte, dann lächelte er ein wenig unsicher und fragte: »Wenn ich nicht mitkäme, was würden Sie tun? Schließlich habe ich eine ganz nette Geschichte zu erzählen, wie?«
»Geschichten dieser Art sind schwer nachzuweisen. Ich werde diese Nacht nicht mehr hier sein. Ashe und Kiever …«, er zuckte mit den Achseln, »was ergibt sich schon daraus?«
Leamas ging zum Fenster.
Ein Sturm kam über der grauen Nordsee auf. Er sah den Möwen zu, wie sie unter den dunklen Wolken kreisten. Das Mädchen war verschwunden.
»Gut«, sagte er schließlich, »organisieren Sie es.«
»Es gibt vor morgen kein Flugzeug in den Osten. Aber in einer Stunde fliegt eines nach Berlin. Das werden wir nehmen. Es wird sehr knapp werden.«
Die passive Rolle, die Leamas an diesem Abend spielen mußte, ermöglichte es ihm, wieder einmal die trotz größter Einfachheit ungemein wirksamen Vorbereitungen zu bewundern, die Peters getroffen hatte. Der Paß war schon lange vorher ausgestellt worden. Die Zentrale mußte das arrangiert haben. Er war auf den Namen Alexander Thwaite, Reisender, ausgestellt und mit Visa und Grenzstempeln vollgepflastert - der alte, vielbenützte Paß eines Berufsreisenden. Der holländische Grenzbeamte auf dem Flugplatz nickte bloß und stempelte ihn achtlos, einfach weil es die Vorschrift verlangte. Peters war in der Reihe drei oder vier Plätze hinter ihm und nahm kein Interesse an den Formalitäten.
Als er in die »Nur für Passagiere« reservierte Absperrung kam, erblickte Leamas einen Zeitungsstand. Dort war eine Anzahl internationaler Zeitungen ausgehängt: Figaro, Le Monde, Neue Zürcher Zeitung, Die Welt und ein halbes Dutzend britischer Tages- und Wochenblätter. Gerade als er hinsah, kam die Verkäuferin um den Kiosk herum nach vorn und steckte einen Evening Standard in den Zeitungsständer. Leamas ging schnell hinüber und nahm die Zeitung heraus.
»Wieviel?« fragte er. Als er in seine Hosentasche griff, fiel ihm plötzlich ein, dass er kein holländisches Geld hatte.
»Dreißig Cents«, erwiderte das Mädchen. Sie war ziemlich hübsch, mit dunklem Haar und einem lustigen Gesicht.
»Ich habe nur zwei englische Shilling. Nehmen Sie das an?«
»Ja, bitte«, antwortete sie, und Leamas gab ihr das Zweishillingstück. Er schaute sich um. Peters war noch an der Paßabfertigung und hatte Leamas den Rücken zugewandt. Ohne Zögern ging Leamas weiter zur Herrentoilette. Dort blätterte er schnell, aber sorgfältig die Zeitung durch, schob sie dann in den Abfallkorb und ging weiter nach draußen. Es stimmte: Sein Bild war zusammen mit einer kleinen, recht allgemein gehaltenen Unterschrift in der Zeitung. Er fragte sich, ob Liz das gesehen hatte. In Gedanken versunken ging er in den Warteraum hinüber. Zehn Minuten später bestiegen sie das Flugzeug nach Hamburg und Berlin. Zum erstenmal seit Beginn des Unternehmens hatte Leamas Angst.
11 FREUNDE VON ALEC
Am selben Abend erhielt Liz den Besuch der Männer.
Liz Golds Zimmer war am Nordende von Bayswater. Darin standen eine Schlafcouch und ein Gasofen, ein recht hübscher, anthrazitgrauer, der auf eine moderne Art zischte, statt altmodisch zu rauschen. Sie hatte manchmal in seine Flammen gestarrt, wenn Leamas bei ihr war und das Gasfeuer als einzige Lichtquelle den Raum erhellte. Er lag dann auf der Couch, und sie saß neben ihm und küßte ihn oder hatte ihren Kopf an seinen gelehnt und beobachtete das Feuer. Sie vermied es, zuviel an ihn zu denken, weil sein Bild in ihrer Erinnerung dann immer zu verschwimmen begann. Deshalb ließ sie ihre Gedanken immer nur für kurze Augenblicke bei ihm verweilen, so wie man seine Augen über einen fernen Horizont schweifen läßt, und dann fielen ihr kleine Dinge ein, die er gesagt oder getan hatte, die Art, in der er sie bisweilen angesehen oder - was öfter vorgekommen war - nicht beachtet hatte. Das war das Schreckliche, wenn sie dachte: sie besaß nichts, wodurch sie sich an ihn hätte erinnern können - keine Fotografie, kein Souvenier, nichts. Nicht einmal einen gemeinsamen Freund - nur Miß Crail in der Bücherei, deren Haß auf ihn nachträglich durch sein auffallendes Fortbleiben gerechtfertigt worden war. Einmal war Liz in seinem Zimmer gewesen und hatte den Vermieter gesprochen. Sie konnte nicht genau sagen, warum sie das tat, aber sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und ging hin. Der Vermieter sprach sehr nett von Alec; Mr. Leamas hatte seine Miete wie ein Gentleman bezahlt. Und ein Restbetrag, für die beiden letzten Wochen, war von einem Freund von Mr. Leamas großzügig und ohne weitere Fragen beglichen worden.