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Sie blieb einige Augenblicke stumm, indem sie ihn beobachtete und offensichtlich nach einer Antwort suchte. Schließlich kündigte sie an: »Ich werde es mit Mr. Ironside besprechen.« Dann ging sie weg.

Punkt halb sechs zog Miß Crail ihren Mantel an und ging mit einem betonten »Gute Nacht, Miß Gold«. Leamas schätzte, dass sie den ganzen Nachmittag wegen der Einkaufsbeutel gegrübelt hatte. Er ging zur nächsten Nische, wo Liz Gold auf der untersten Sprosse ihrer Leiter saß und etwas las, das wie ein Traktat aussah. Als sie Leamas sah, ließ sie es schuldbewußt in ihrer Handtasche verschwinden und stand auf.

»Wer ist Mr. Ironside?« fragte Leamas.

»Ich glaube nicht, dass er existiert«, sagte sie. »Er ist ihr großes Geschütz, wenn sie um eine Antwort verlegen ist. Ich fragte sie einmal, wer er sei. Sie wurde unruhig und geheimnisvoll und sagte: ›Schon gut.‹ Ich glaube nicht, dass es ihn gibt.«

»Ich bin nicht sicher, dass es Miß Crail gibt«, sagte Leamas, und Liz Gold lächelte.

Um sechs Uhr schloß sie ab und gab den Schlüssel dem Kurator, einem sehr alten Mann, der aus dem Ersten Weltkrieg einen Schock weghatte und der für den Fall, dass die Deutschen einen Gegenangriff machten, die ganze Nacht aufblieb, wie Liz erklärte. Draußen war es bitterkalt.

»Haben Sie weit zu gehen?« fragte Leamas.

»Zwanzig Minuten. Ich gehe immer zu Fuß. Wie ist es bei Ihnen?«

»Nicht weit«, sagte Leamas. »Gute Nacht.«

Er ging langsam zur Wohnung zurück. Nachdem er aufgesperrt hatte, drehte er den Lichtschalter, aber nichts geschah. Er versuchte, das Licht in der winzigen Küche anzudrehen und schließlich die elektrische Heizung, die bei seinem Bett angeschlossen war. Auf der Fußmatte an der Tür lag ein Brief. Er hob ihn auf, nahm ihn mit hinaus in das dünne gelbe Licht des Treppenaufganges. Es war ein Schreiben der Elektrizitätsgesellschaft, die mitteilte, dass der Distriktsleiter es bedauere, keine andere Möglichkeit zu haben, als den Strom solange abzuschalten, bis der ausstehende Betrag von neun Pfund, vier Shilling und acht Pennies beglichen sei.

Er war ein Feind von Miß Crail geworden, und sie liebte es, Feinde zu haben. Sie blickte ihn entweder finster an oder übersah ihn einfach, und wenn er ihr nahe kam, begann sie zu zittern und ihre Augen nach rechts und links wandern zu lassen, entweder auf der Suche nach einem Gegenstand, mit dem sie sich verteidigen konnte, oder nach einem Fluchtweg. Gelegentlich pflegte sie an irgend etwas gewaltigen Anstoß zu nehmen, so, als er seinen Gummimantel an ihren Haken hängte, und sie volle fünf Minuten zitternd davorstand, bis Liz sie bemerkte und Leamas rief. Leamas ging zu ihr hin und sagte: »Was irritiert Sie, Miß Crail?«

»Nichts«, erwiderte sie tonlos und kurz. »Gar nichts.«

»Ist irgend etwas mit meinem Mantel?«

»Nichts.«

»Fein«, erwiderte er und ging in seine Nische zurück.

Sie bebte den ganzen Tag und führte den halben Vormittag ein geflüstertes Telefongespräch in der Lautstärke von Bühnengeflüster.

»Sie erzählt es ihrer Mutter«, sagte Liz. »Sie erzählt alles ihrer Mutter, sie erzählt ihr auch von mir.«

Miß Crail entwickelte einen so starken Haß gegen Leamas, dass es ihr unmöglich war, mit ihm zu sprechen. An jedem Zahltag fand er regelmäßig nach der Rückkehr vom Mittagessen auf der dritten Sprosse seiner Leiter einen Umschlag mit seinem falsch geschriebenen Namen darauf.

Als es zum erstenmal passierte, ging er mit dem Geld und dem Umschlag zu ihr hinüber und sagte:

»Es heißt L - E - A, Miß Crail, und nur ein S«, worauf sie von einer richtiggehenden Lähmung befallen wurde. Sie verdrehte die Augen und fuchtelte ziellos mit ihrem Bleistift in der Luft herum, bis Leamas wegging. Danach führte sie ein stundenlanges, verschwörerisches Telefongespräch.

Ungefähr drei Wochen, nachdem Leamas in der Bibliothek zu arbeiten begonnen hatte, lud ihn Liz zum Abendessen ein. Sie tat so, als sei ihr dieser Gedanke erst jetzt, an diesem Nachmittag um fünf Uhr, plötzlich gekommen. Es schien ihr klar zu sein, dass er eine Einladung für morgen oder den übernächsten Tag vergessen oder einfach nicht kommen würde, deshalb machte sie ihren Vorschlag erst um fünf Uhr. Leamas schien nicht geneigt, zu akzeptieren, aber schließlich tat er es doch.

Während sie zu ihrer Wohnung gingen, regnete es, und ihr Weg hätte durch irgendeine Stadt, wie Berlin oder London, führen können, in der sich die Pflastersteine im Abendregen zu Lichterseen verwandeln und der Verkehr sich hoffnungslos und mühsam durch nasse Straßen schleppt.

Es war die erste von vielen Mahlzeiten, die Leamas in ihrer Wohnung einnahm. Er kam, sooft sie ihn bat - und sie bat ihn oft.

Er sprach nie viel. Wenn sie spürte, dass er ihrer Einladung folgen würde, deckte sie den Tisch gewöhnlich schon morgens, ehe sie in die Bibliothek ging. Sie bereitete sogar das Gemüse vorher zu und stellte Kerzen auf den Tisch, denn sie liebte Kerzenlicht. Es war ihr immer bewußt, dass mit Leamas irgend etwas zutiefst nicht stimmte und dass er wohl eines Tages, aus einem für sie nicht erfaßbaren Grund, mit ihr Schluß machen und sie ihn nie wiedersehen würde. Sie versuchte, ihm zu sagen, dass sie dies wußte.

Sie sagte eines Abends: »Du mußt gehen, wenn du es willst. Ich werde dir nie folgen, Alec.«

Seine braunen Augen ruhten für einen Moment auf ihr. »Wenn's soweit ist, werd' ich's dir sagen«, erwiderte er.

Ihre Wohnung hatte nur ein Zimmer und die Küche. Im Zimmer standen zwei Armstühle, eine Schlafcouch und ein Bücherschrank, der mit Taschenbüchern angefüllt war, hauptsächlich mit Klassikern, die sie nie gelesen hatte.

Nach dem Abendessen redete sie immer, und er lag dann auf der Couch und rauchte. Sie war nie ganz sicher, ob er ihr zuhörte, aber das war ihr auch gleichgültig. Sie kniete dann neben dem Bett und hielt seine Hand an ihr Gesicht und redete.

Einmal fragte sie ihn: »Alec, woran glaubst du? Lach nicht, sag es mir!«

Sie wartete, und schließlich sagte er: »Ich glaube, dass mich der Elfuhrbus nach Hammersmith bringen wird. Ich glaube nicht, dass er vom Weihnachtsmann gefahren wird.«

Sie schien darüber nachzudenken und fragte dann: »Aber woran glaubst du wirklich?«

Leamas zuckte die Achseln.

»Aber du mußt doch an etwas glauben«, beharrte sie, »etwas wie Gott - ich weiß, du tust es, Alec. Manchmal hast du einen Blick, als ob du etwas Besonderes tun müßtest - wie ein Priester. Lächle nicht, Alec, es ist wahr.«

Er schüttelte den Kopf. »Bedaure, Liz, du hast das falsch verstanden. Ich mag keinen Amerikaner und keine Public-Schools. Ich mag weder Militärparaden noch Menschen, die Soldaten spielen.« Ohne zu lächeln, fügte er hinzu: »Und ich mag keine Gespräche über das Leben.«

»Aber, Alec, du könntest genausogut sagen -«

»Ich sollte hinzusetzen«, unterbrach Leamas, »dass ich Menschen nicht mag, die mir sagen, was ich denken soll.«

Sie wußte, dass er ärgerlich wurde, aber sie war schon zu sehr in Fahrt, um sich noch zurückhalten zu können.

»Das kommt daher, dass du nicht denken willst, weil du dich nicht zu denken traust! Es ist irgendein Gift in dir, irgendein Haß. Du bist ein Fanatiker, Alec, ich weiß, dass es so ist, aber ich weiß nicht, in welcher Hinsicht. Du bist ein Fanatiker, der keine Menschen bekehren will, und das ist eine gefährliche Sache. Du bist wie ein Mann, der … Rache geschworen hat, oder etwas Ähnliches.«

Die braunen Augen ruhten auf ihr. Als er sprach, erschrak sie vor dem drohenden Ton in seiner Stimme.

»Wenn ich du wäre«, sagte er rauh, »würde ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.« Und dann lächelte er, ein verschmitztes, irisches Lächeln. Bisher hatte er noch nie so gelächelt, und Liz wußte, dass er jetzt charmant zu sein versuchte.

»Woran glaubt Liz?« fragte er, und sie erwiderte:

»So einfach wirst du auch wieder nicht mit mir fertig, Alec.« Aber in dieser Nacht redeten sie später nochmals darüber. Leamas lenkte das Gespräch darauf, indem er sie fragte, ob sie religiös sei.