Herrick schritt langsam zur unteren Luke. Er zwang sich, ganz ruhig zu gehen, aber das Herz schlug ihm bis zum Hals. Da alle Leute beim Segeltrimmen waren, wirkte das Unterdeck leer und merkwürdig fremd. Ein paar Laternen schaukelten an ihren Haken, und als er die zweite und letzte Leiter hinabstieg, spürte er eine Atmosphäre von Drohung und Gefahr. Doch auch sie bereitete ihn nicht auf den Anblick in der winzigen Kajüte des Zahlmeisters vor.
Tief im Rumpf des Schiffes machte sich die Stille noch lastender bemerkbar, und die einsame Laterne warf von den niedrigen Decksbalken ihren begrenzten Lichtkreis auf eine Szene, bei deren Anblick sich Herricks Haare sträubten. Offenbar hatte Zahlmeister Evans gerade einen Sack Mehl für seinen Privatbedarf aussondern wollen, als der Mörder zustach. Evans lag mit weit von sich gestreckten Beinen über dem aufrecht-stehenden Sack. Das Licht der Laterne fiel auf die hellen Augen und den dunklen Blutstrom, der aus der durchschnittenen Kehle sickerte und in dem verstreuten Mehl gerann. Auch sonst war überall Blut, und als Herrick auf die Leiche starrte, sah er, daß der Körper bestialisch zugerichtet worden war. Er lehnte sich an die Tür und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Die Handfläche war kalt und feucht, und er dachte an den Schreck, den der furchtbare Anblick Maynard eingejagt haben mußte. Niemand hätte ihn tadeln können, wenn er schreiend auf das Oberdeck gestürzt wäre.
«Mein Gott!«Herricks Stimme hallte in der Dämmerung wider. Er hätte beinahe aufgeschrien, als er hinter sich die Leiter knacken hörte, und griff nach der Pistole. Doch da erkannte er Hauptmann Rennie, dessen roter Rock wie eine Spiegelung des Blutes wirkte.
Rennie zwängte sich an ihm vorbei und betrachtete die Leiche.»Ich werde zwei meiner verläßlichsten Leute als Wache herkommandieren«, sagte er.»Bis zur Untersuchung muß die Kajüte versiegelt werden. «Er sah Herrick fragend an.»Sie wissen, was das bedeutet, nicht wahr?»
Herrick nickte.»Ja. «Er riß sich zusammen.»Ich werde es jetzt dem Kapitän melden.»
Während er die Leiter hinaufkletterte, rief ihm Rennie hinterher:»Seien Sie vorsichtig, Thomas. Einen Schuldigen, der Ihr Gesicht beobachtet, muß es mindestens geben.»
Herrick blickte zurück zur Kajütentür und versuchte, sich ein Bild von dem ermordeten Zahlmeister zu machen.»Ich glaube, ich habe so etwas fast erwartet. «Er biß sich auf die Lippen.»Aber wenn es dann geschieht, versetzt es einem doch einen Schock.»
Rennie sah ihm nach und stieg dann vorsichtig über die
Leiche hinweg. Ohne Rücksicht auf seine auf Hochglanz geputzten Stiefel durchsuchte er methodisch die verstreute Hinterlassenschaft des Zahlmeisters.
Mit steinernem Gesicht ging Herrick über das Achterdeck zur Luvseite, wo sich Bolitho noch immer mit Vibart unterhielt. Er hob die Hand an den Hut und wartete, bis Bolitho sich zu ihm umdrehte.
«Ja, Mr. Herrick?«Das Lächeln auf dem Gesicht des Kapitäns erlosch.»Noch mehr Ärger?»
Herrick sah sich schnell um.»Mr. Evans ist ermordet worden, Sir. «Er sprach so verkrampft und abgehackt, daß er seine eigene Stimme nicht erkannte.»Maynard hat es vor ein paar Minuten entdeckt. «Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Es war so eiskalt, als wäre er der Tote.
«Und was haben Sie in der Sache bisher unternommen, Mr. Herrick?«fragte Bolitho. Nichts verriet, was er dachte, seine Züge waren eine teilnahmslose Maske.»Lassen Sie sich Zeit. Berichten Sie.»
Herrick trat näher an die Reling. Seine Blicke lagen auf dem glitzernden Meer. Langsam und tonlos beschrieb er, was von Maynards Auftauchen an Deck bis zur Sekunde der Meldung geschehen war.
Bolitho hörte stumm zu. Vibart wiegte sich im Rhythmus der Schiffsbewegungen, und seine Hände öffneten und schlossen sich vor Wut oder Schreck über Maynards Entdeckung.
«Er war noch nicht lange tot«, sagte Herrick schwer, ehe er seine Meldung mit den Worten des Fähnrichs beendete:»Man hat ihn zerfleischt.»
Hauptmann Rennie kam über das Deck und sagte knapp:»Ich habe Posten vor die Tür gestellt, Sir. «Er sah, daß Bolitho ihm auf die Stiefel blickte, und bückte sich, um einen Fleck von dem sonst spiegelblanken Leder zu wischen, ehe er hinzusetzte:»Ich habe mich gut umgesehen, Sir. Evans' Pistolen fehlen. Wurden höchstwahrscheinlich gestohlen.»
Bolitho blickte ihn grübelnd an.»Ich danke Ihnen, meine Herren. Sie haben genau das Richtige getan.»
«Was habe ich Ihnen gesagt, Sir!«stieß Vibart hervor.»Milde ist bei diesem Abschaum sinnlos. Sie gehorchen bloß einer harten Hand.. »
«Seine Pistolen, sagen Sie?«fragte Bolitho.
Rennie nickte.»Ja, zwei kleine. Er war sehr stolz auf sie. Mit Goldverzierungen und ziemlich wertvoll; er hatte sie aus Spanien mitgebracht. «Er schwieg, als riefe er sich, wie die anderen auch, den Zahlmeister vor Augen: einer der bestgehaßten Leute auf dem ganzen Schiff. Man konnte sich gut vorstellen, daß er viele Feinde gehabt hatte.
Proby kam den Niedergang herauf und tippte an seinen Hut.»Darf ich die Freiwache nach unten entlassen, Sir?«Er merkte, daß er störte, und stotterte:»Entschuldigen Sie, Sir.»
«Die Männer bleiben auf ihren Stationen, Mr. Proby«, sagte Bolitho. Alle sahen ihn an. Seine Stimme klang ungewohnt kalt, und in seinen Augen lag eine Härte, die man sonst nicht an ihm kannte.»Postieren Sie Wachen vor jeder Luke!«befahl er Rennie.»Niemand darf nach unten.»
«Jetzt sehen Sie es also auch mit meinen Augen, Sir«, murmelte Vibart.
Bolitho fuhr herum.»Jemand ist schuldig, Mr. Vibart. Aber nicht das ganze Schiff. Ich möchte nicht, daß der Mann durchschlüpft, aber ebensowenig, daß seine Tat allen angekreidet wird. «Danach sagte er ruhiger:»Mr. Herrick, Sie übernehmen mit Mr. Farquhar und dem Bootsmann das Logis. Captain Rennie durchsucht mit seinen Leuten die anderen Unterdecks. «Er sah zu den auf den Decks und den Laufplanken wartenden Seeleuten hinunter.»Mr. Vibart, Sie übernehmen zusammen mit Mr. Brock das Oberdeck. Durchsuchen Sie jedes mögliche Versteck, jeden Kasten, suchen Sie hinter jeder Kanone, und zwar so schnell Sie können.»
Er verfolgte, wie sie den Niedergang hinuntereilten, und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf das Hauptdeck. Jedem Matrosen war nun klar, daß irgend etwas los war. Er bemerkte, daß einer seinen Kameraden anstieß, und ein anderer trat furchtsam zurück, als sich Vibart und der Artillerieoffizier durch die alles aufmerksam beobachtenden Männer drängten.
Hatte Vibart vielleicht doch recht? Er verschränkte die Hände auf dem Rücken so fest, daß ihm der Schmerz half, Ordnung in seine durcheinanderwirbelnden Gedanken zu bringen. Nein, das durfte er nicht denken.
Die Minuten schleppten sich hin, und eine wachsende Woge der Furcht zog wie der Rauch eines Schwelbrandes über das Hauptdeck. Die Matrosen am Fuß des Großmastes bildeten eine
Gasse, damit Vibart und der Artillerieoffizier hindurchkonnten, und drängten sich dann wieder schutzsuchend zusammen. Pochin rieb sich die teerverschmierten Hände an der Hose ab und starrte Vibart wütend nach.»Was, zum Teufel, ist los?«Er hielt einen vorbeikommenden Bootsmannsmaat an.»Wissen Sie es, Mr. Josling?»
Josling sah verstohlen zum Achterdeck.»Der Zahlmeister ist tot.»
Unruhe packte die Wartenden. Pochin blickte Allday an, der aufmerksam am Mast lehnte.»Hast du das gehört, Mann?»
Allday nickte und sah dann zu Onslow hinüber. Onslow stand ein wenig abseits. Er wirkte gelassen. Die Arme hingen locker herab. Doch seine harten Blicke und die sich erregt blähenden Nasenflügel verrieten eine tierhafte Wachsamkeit. Allday atmete sehr langsam aus. Er zweifelte nicht im geringsten, wem die Anklage die Hand auf die Schulter legen würde.
Old Strachan murmelte:»Sieht schlimm aus, wie? Ich hab so das Gefühl, daß uns wieder mal was bevorsteht.»
Auf dem Achterdeck wurde es plötzlich lebhaft. Alle blickten sich um, als Hauptmann Rennies Seesoldaten einen Kordon quer über das Deck zogen. Sergeant Garwood richtete die Reihen aus und postierte sich dann neben dem Trommelbuben. Hauptmann Rennie stand gelassen vor seinen Soldaten, eine Hand auf dem Degengriff. Sein Gesicht war ausdruckslos.