»Es gibt auch Menschen, die zu Gott beten, weil sie glücklich sind.«
»So?«Isabelle lächelt ungläubig.»Dann beten sie, weil sie Angst haben, daß sie es nicht bleiben werden. Alles ist Angst, Rudolf. Weißt du das nicht?«
Der fröhliche Greis wird von der kräftigen Schwester vorübergeführt. Aus einem Fenster vom Hauptgebäude kommt das hohe Summen eines Staubsaugers. Ich sehe mich um. Das Fenster ist offen, aber vergittert – ein schwarzes Loch, aus dem der Staubsauger schreit wie eine verdammte Seele.
»Alles ist Angst«, wiederholt Isabelle.»Hast du nie Angst?«
»Ich weiß es nicht«, erwidere ich, immer noch auf der Hut.»Ich glaube schon. Ich hatte sehr oft Angst im Kriege.«
»Das meine ich nicht. Das ist vernünftige Angst. Ich meine die ohne Namen.«
»Welche? Angst vor dem Leben?«
Sie schüttelt den Kopf.»Nein. Früher.«
»Vor dem Tode?«
Sie schüttelt wieder den Kopf. Ich frage nicht weiter. Ich will da nicht hinein. Schweigend sitzen wir eine Zeitlang in der Dämmerung. Wieder einmal habe ich das Gefühl, daß Isabelle nicht krank sei; aber ich lasse es nicht aufkommen. Wenn es aufkommt, ist die Verwirrung wieder da, und ich will sie nicht. Isabelle rührt sich schließlich.
»Warum sagst du nichts?«fragt sie.
»Was sind schon Worte?«
»Viel«, flüstert sie.»Alles. Hast du Angst davor?«
Ich denke nach.»Wahrscheinlich haben wir alle etwas Angst vor großen Worten. Es ist so entsetzlich viel damit gelogen worden. Vielleicht haben wir auch Angst vor unsern Gefühlen. Wir trauen ihnen nicht mehr.«
Isabelle zieht die Beine auf die Bank.»Man braucht sie aber, Liebster«, murmelt sie.»Wie kann man sonst leben?«
Der Staubsauger hat aufgehört zu summen. Es ist plötzlich sehr still. Kühl kommt von den Beeten der Hauch der feuchten Erde. Ein Vogel ruft in den Kastanien, immer denselben Ruf. Der Abend ist plötzlich eine Waage, die auf beiden Seiten gleich viel Welt trägt. Ich fühle sie, als balanciere sie ohne Schwere auf meiner Brust. Nichts kann mir geschehen, denke ich, solange ich so ruhig weiter atme.
»Hast du Angst vor mir?«flüstert Isabelle.
Nein, denke ich und schüttle den Kopf; du bist der einzige Mensch, vor dem ich keine Angst habe. Auch nicht mit Worten. Vor dir sind sie nie zu groß und nie lächerlich. Du verstehst sie immer, denn du lebst noch in der Welt, wo Worte und Gefühle eins und Lüge und Vision dasselbe sind.
»Warum sagst du nichts?«fragt sie.
Ich hebe die Schultern.»Manchmal kann man nichts sagen, Isabelle. Und es ist oft schwer, loszulassen.«
»Was loszulassen?«
»Sich selbst. Da sind viele Widerstände.«
»Ein Messer kann sich nicht selbst schneiden, Rudolf. Wozu hast du Angst?«
»Ich weiß es nicht, Isabelle.«
»Warte nicht zu lange, Liebster. Sonst ist es zu spät. Man braucht Worte«, murmelt sie.
Ich antworte nicht.»Gegen die Angst, Rudolf«, sagt sie.»Sie sind wie Lampen. Sie helfen. Siehst du, wie grau alles wird? Kein Blut ist jetzt mehr rot. Warum hilfst du mir nicht?«
Ich gebe meinen Widerstand endlich auf.»Du süßes, fremdes und geliebtes Herz«, sage ich.»Wenn ich dir nur helfen könnte!«
Sie beugt sich vor und legt die Arme um meine Schultern.
»Komm mit mir! Hilf mir! Sie rufen!«
»Wer ruft?«
»Hörst du sie nicht? Die Stimmen. Sie rufen immerfort!«
»Niemand ruft, Isabelle. Nur dein Herz. Aber was ruft es?«
Ich fühle ihren Atem über mein Gesicht wehen.»Liebe mich, dann ruft es nicht mehr«, sagt sie.
»Ich liebe dich.«
Sie läßt sich neben mich sinken. Ihre Augen sind jetzt geschlossen. Es wird dunkler, und ich sehe den Mann aus Glas langsam wieder vorüberstelzen. Eine Schwester sammelt ein paar alte Leute ein, die gebeugt und unbeweglich wie dunkle Bündel Trauer auf Bänken gesessen haben.»Es ist Zeit«, sagt sie in unsere Richtung.
Ich nicke und bleibe sitzen.»Sie rufen«, flüstert Isabelle.»Man kann sie nie finden. Wer hat so viele Tränen?«
»Niemand«, sage ich.»Niemand in der Welt, geliebtes Herz.«
Sie antwortet nicht. Sie atmet wie ein müdes Kind neben mir. Dann hebe ich sie auf und trage sie durch die Allee zum Pavillon zurück, in dem sie wohnt.
Als ich sie herunterlasse, stolpert sie und hält sich an mir fest. Sie murmelt etwas, das ich nicht verstehe, und läßt sich hineinführen. Der Eingang ist hell erleuchtet von einem schattenlosen, milchigen Licht. Ich setze sie in einen Korbstuhl in der Halle. Sie liegt mit geschlossenen Augen darin, als wäre sie von einem unsichtbaren Kreuz abgenommen. Zwei Schwestern in schwarzer Tracht kommen vorbei. Sie sind auf dem Wege zur Kapelle. Einen Augenblick sieht es aus, als wollten sie Isabelle abholen und begraben. Dann kommt die weiße Wärterin und nimmt sie mit.
Die Oberin hat uns eine zweite Flasche Mosel gegeben. Bodendiek ist zu meinem Erstaunen trotzdem gleich nach dem Essen verschwunden. Wernicke bleibt sitzen. Das Wetter ist beständig, und die Kranken sind so ruhig, wie sie sein können.
»Warum tötet man die nicht, die völlig hoffnungslos sind?«frage ich.
»Würden Sie sie töten?«fragt Wernicke zurück.
»Das weiß ich nicht. Es ist dieselbe Frage wie bei einem langsam hoffnungslos Sterbenden, von dem man weiß, daß er nur noch Schmerzen haben wird. Würden Sie ihm eine Spritze geben, damit er ein paar Tage weniger leide?«
Wernicke schweigt.
»Zum Glück ist Bodendiek nicht hier«, sage ich.»Wir können uns also die moralische und religiöse Erörterung schenken. Ich hatte einen Kameraden, dem der Bauch aufgerissen war wie ein Fleischerladen. Er flehte uns an, ihn zu erschießen. Wir brachten ihn zum Lazarett. Er schrie dort noch drei Tage; dann starb er. Drei Tage sind eine lange Zeit, wenn man vor Schmerzen brüllt. Ich habe viele Menschen krepieren sehen. Nicht sterben – krepieren. Allen hätte geholfen werden können mit einer Spritze. Meiner Mutter auch.«
Wernicke schweigt.
»Gut«, sage ich.»Ich weiß: Das Leben in einem Geschöpf zu beenden ist immer wie ein Mord. Seit ich im Kriege war, töte ich sogar ungern eine Fliege. Trotzdem hat mir das Stück Kalb heute abend gut geschmeckt, das man getötet hat, damit wir es essen. Das sind die alten Paradoxe und verhinderten Schlußfolgerungen. Das Leben ist ein Wunder, auch in einem Kalb und in einer Fliege. Besonders in einer Fliege – dieser Akrobatin mit ihren Tausenden von Augenfacetten. Es ist immer ein Wunder. Aber es wird immer beendet. Warum töten wir im Frieden einen kranken Hund und nicht einen wimmernden Menschen? Aber wir morden Millionen in nutzlosen Kriegen.«
Wernicke gibt immer noch keine Antwort. Ein großer Käfer summt um die Lampe. Er stößt gegen die Birne, fällt, krabbelt, fliegt wieder hoch und umkreist das Licht aufs neue. Seine Erfahrung benutzt er nicht.
»Bodendiek, der Beamte der Kirche, hat natürlich auf alles eine Antwort«, sage ich.»Tiere haben keine Seele, Menschen haben eine. Aber wo bleibt das Stück Seele, wenn eine Windung des Gehirns beschädigt wird? Wo ist das Stück, wenn jemand ein Idiot wird? Ist es schon im Himmel? Oder wartet es irgendwo auf den verkümmerten Rest, der einen Menschenkörper noch sabbern, essen und ausscheiden läßt? Ich habe einige Ihrer Fälle im geschlossenen Hause gesehen – Tiere sind dagegen Götter. Wo ist die Seele bei den Idioten geblieben? Läßt sie sich teilen? Oder hängt sie wie ein unsichtbarer Ballon über den armen murmelnden Schädeln?«
Wernicke macht eine Bewegung, als scheuche er ein Insekt fort.
»Gut«, sage ich.»Das ist eine Frage für Bodendiek, der sie mit Leichtigkeit lösen wird. Bodendiek kann alles lösen mit dem großen Unbekannten Gott, mit Himmel und Hölle, dem Lohn für die Leidenden und der Strafe für die Bösen. Niemand hat je einen Beweis dafür gehabt – nur der Glaube macht selig, nach Bodendiek. Wozu haben wir dann aber Verstand, Kritik und die Sucht nach Beweisen bekommen? Um sie nicht zu brauchen? Ein sonderbares Spiel für den großen Unbekannten! Und was ist die Ehrfurcht vor dem Leben? Angst vor dem Tode? Angst, immer Angst! Warum? Und warum können wir fragen, wenn es keine Antwort gibt?«