Выбрать главу

»Fertig?«fragt Wernicke.

»Nein – aber ich werde Sie nicht weiter fragen.«

»Gut. Ich kann Ihnen auch nicht antworten. Soviel wissen Sie ja wenigstens, oder nicht?«

»Natürlich. Warum sollten gerade Sie es können, wenn alle Bibliotheken der Welt nur Spekulationen als Antwort haben?«

Der Käfer ist auf seinem zweiten Rundflug abgestürzt. Er krabbelt wieder auf die Beine und beginnt den dritten. Seine Flügel sind wie polierter blauer Stahl. Er ist eine schöne Zweckmäßigkeitsmaschine; aber Licht gegenüber ist er wie ein Alkoholiker gegenüber einer Flasche Schnaps.

Wernicke gießt den Rest des Mosels in die Gläser.»Wie lange waren Sie im Kriege?«

»Drei Jahre.«

»Merkwürdig!«

Ich antworte nicht. Ich weiß ungefähr, was er meint, und habe keine Lust, das noch einmal durchzukauen.»Glauben Sie, daß der Verstand zur Seele gehört?«fragt Wernicke statt dessen.

»Das weiß ich nicht. Aber glauben Sie, daß die sich beschmutzenden Untertiere, die in der geschlossenen Abteilung herumkriechen, noch eine Seele haben?«

Wernicke greift nach seinem Glas.»Für mich ist das alles einfach«, sagt er.»Ich bin ein Mann der Wissenschaft. Ich glaube gar nichts. Ich beobachte nur. Bodendiek dagegen glaubt a piori! Dazwischen flattern Sie unsicher umher. Sehen Sie den Käfer da?«

Der Käfer ist bei seinem fünften Ansturm. Er wird bis zu seinem Tode so weitermachen. Wernicke dreht die Lampe ab.»So, dem wäre geholfen.«

Die Nacht kommt groß und blau durch die offenen Fenster. Sie weht herein mit dem Geruch der Erde, der Blumen und dem Funkeln der Sterne. Alles, was ich gesagt habe, erscheint mir sofort entsetzlich lächerlich. Der Käfer zieht noch eine brummende Runde und steuert dann sicher zum Fenster hinaus.»Chaos«, sagt Wernicke.»Ist es wirklich Chaos? Oder ist es nur eins für uns. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie die Welt wäre, wenn wir einen Sinn mehr hätten?«

»Nein.«

»Aber mit einem Sinn weniger?«

Ich denke nach.»Man wäre blind oder taub; oder könnte nichts schmecken. Es wäre ein großer Unterschied.«

»Und mit einem mehr? Warum sollen wir immer gerade auf fünf Sinne beschränkt bleiben? Warum können wir nicht vielleicht eines Tages sechs entwickeln? Oder acht? Oder zwölf? Würde die Welt dann nicht völlig anders sein? Vielleicht verschwände beim sechsten schon der Begriff Zeit. Oder der des Raumes. Oder der des Todes. Oder der des Schmerzes. Oder der der Moral. Sicher der des heutigen Lebensbegriffes. Wir wandern mit ziemlich beschränkten Organen durch unser Dasein. Ein Hund hört besser als jeder Mensch. Eine Fledermaus fühlt ihren Weg blind durch alle Hindernisse. Ein Schmetterling hat einen Radioempfänger in sich und fliegt damit über viele Kilometer direkt auf sein Weibchen zu. Zugvögel sind uns in der Orientierung weit überlegen. Schlangen hören mit der Haut. Die Naturwissenschaft weiß Hunderte solcher Beispiele. Wie können wir da irgend etwas bestimmt wissen? Eine Ausweitung eines Organs oder die Entwicklung eines neuen – und die Welt verändert sich, und der Gottbegriff verändert sich. Prost!«

Ich hebe mein Glas und trinke. Der Mosel ist herbe und erdig.»Es ist also besser, zu warten, bis wir einen sechsten Sinn haben, was?«sage ich.

»Nicht nötig. Sie können tun, was Sie wollen. Aber es ist gut zu wissen, daß ein Sinn mehr alle Schlüsse über den Haufen werfen würde. Tierischer Ernst schwindet davor dahin. Wie ist der Wein?«

»Gut. Wie ist es mit Fräulein Terhoven? Besser?«

»Schlechter. Ihre Mutter war hier – sie hat sie nicht erkannt.«

»Vielleicht hat sie es nicht gewollt.«

»Das ist fast dasselbe; sie hat sie nicht erkannt. Sie hat sie angeschrien, wegzugehen. Typischer Fall.«

»Warum?«

»Wollen Sie einen langen Vortrag über Schizophrenie, Elternkomplex, Flucht vor sich selbst und Schockwirkung hören?«

»Ja«, sage ich.»Heute ja.«

»Sie werden ihn nicht hören. Nur das Nötigste. Spaltpersönlichkeit ist gewöhnlich Flucht vor sich selbst.«

»Was ist man selbst?«

Wernicke sieht mich an.»Lassen wir das heute. Flucht in eine andere Persönlichkeit. Oder in mehrere. Meistens springt der Patient zwischendurch immer wieder für kurze oder längere Zeit in seine eigene zurück. Geneviéve nicht. Seit langem nicht mehr. Sie zum Beispiel kennen sie gar nicht so, wie sie wirklich ist.«

»Sie wirkt ganz vernünftig, so wie sie jetzt ist.«

Wernicke lacht.»Was ist Vernunft? Logisches Denken?«

Ich denke an die kommenden zwei neuen Sinne und antworte nicht.»Ist sie sehr krank?«frage ich.

»Nach unseren Begriffen, ja. Aber es gibt schnelle und oft überraschende Heilungen.«

»Heilungen – wovon?«

»Von ihrer Krankheit.«Wernicke zündet sich eine Zigarette an.

»Sie ist oft ganz glücklich. Warum lassen Sie sie nicht so, wie sie ist?«

»Weil ihre Mutter für die Behandlung zahlt«, erklärt Wernicke trocken.»Außerdem ist sie nicht glücklich.«

»Glauben Sie, daß sie glücklicher wäre, wenn sie gesund würde?«

»Wahrscheinlich nicht. Sie ist empfindlich, intelligent, anscheinend voll Phantasie und wohl erblich belastet. Eigenschaften, die nicht unbedingt glücklich machen. Wenn sie glücklich gewesen wäre, wäre sie kaum geflüchtet.«

»Warum läßt man sie denn nicht in Frieden?«

»Ja, warum nicht?«sagt Wernicke.»Das frage ich mich auch oft. Warum operiert man Kranke, von denen man weiß, daß die Operation doch nicht helfen wird? Wollen wir eine Liste der Warums aufstellen? Sie würde lang werden. Eines der Warums würde sein: Warum trinken Sie nicht Ihren Wein und halten endlich mal die Klappe? Und warum spüren Sie nicht die Nacht statt Ihr unausgewaschenes Gehirn? Warum reden Sie über das Leben, anstatt es zu fühlen?«

Er steht auf und dehnt sich.»Ich muß zur Nachtvisite zu den Geschlossenen. Wollen Sie mitkommen?«

»Ja.«

»Ziehen Sie einen weißen Kittel über. Ich nehme Sie mit in eine besondere Abteilung. Entweder kotzen Sie nachher, oder Sie sind fähig, Ihren Wein mit tiefer Dankbarkeit zu genießen.«

»Die Flasche ist leer.«

»Ich habe noch eine auf meiner Bude. Möglich, daß wir sie brauchen. Wissen Sie, was merkwürdig ist? Daß Sie für Ihre fünfundzwanzig Jahre schon eine erhebliche Menge Tod, Elend und menschliche Idiotie gesehen haben – und trotzdem nichts anderes daraus gelernt zu haben scheinen, als die dämlichsten Fragen zu stellen, die man sich denken kann. Aber das ist wohl der Lauf der Welt – wenn wir endlich wirklich was gelernt haben, sind wir zu alt, es anzuwenden – und so geht das weiter, Welle auf Welle, Generation auf Generation. Keine lernt das geringste von der anderen. Kommen Sie!«

Wir sitzen im Café Central – Georg, Willy und ich. Ich wollte heute nicht allein zu Hause bleiben. Wernicke hat mir eine Abteilung der Irrenanstalt gezeigt, die ich noch nicht kannte – die der Kriegsverletzten. Es sind die Kopfschüsse, die Verschütteten und die Zusammengebrochenen. Inmitten des milden Sommerabends stand diese Abteilung da wie ein finsterer Unterstand im Gesang der Nachtigallen ringsum. Der Krieg, der überall bereits fast vergessen ist, geht in diesen Räumen immer noch weiter. Die Explosionen der Granaten sind immer noch in diesen armen Ohren, die Augen spiegeln noch wie vor fünf Jahren das fassungslose Entsetzen, Bajonette bohren sich ohne Unterlaß weiter in weiche Bäuche, Tanks zermalmen jede Stunde schreiende Verwundete und pressen sie flach wie Flundern, das Donnern der Schlacht, das Krachen der Handgranaten, das Splittern der Schädel, das Röhren der Minen, das Ersticken in zusammenstürzenden Unterständen ist durch eine schreckliche schwarze Magie hier präserviert worden und tobt nun schweigend in diesem Pavillon zwischen Rosen und Sommer weiter. Befehle werden gegeben, und unhörbaren Befehlen wird gehorcht, die Betten sind Schützengräben und Unterstände, immer aufs neue werden sie verschüttet und ausgegraben, es wird gestorben und getötet, erwürgt und erstickt, Gas treibt durch die Räume, und Agonien von Angst lösen sich in Brüllen und Kriechen und entsetztem Röcheln und Weinen und oft nur in Kauern und Schweigen in einer Ecke, so klein geduckt wie nur möglich, das Gesicht zur Wand, fest angepreßt…