»Aufstehen!«brüllen plötzlich ein paar jugendliche Stimmen hinter uns. Eine Anzahl Gäste schnellt schneidig von den Tischen hoch. Die Cafékapelle spielt»Deutschland, Deutschland über alles«. Es ist das viertemal heute abend. Es ist nicht die Kapelle, die so nationalistisch ist; auch nicht der Wirt. Es ist eine Anzahl junger Radaubrüder, die sich wichtig machen wollen. Alle halbe Stunde geht einer zur Kapelle und bestellt die Nationalhymne. Er geht hin, als zöge er in die Schlacht. Die Kapelle wagt nicht, sich zu widersetzen, und so erklingt das Deutschlandlied anstatt der Ouvertüre zu»Dichter und Bauer«.»Aufstehen!«schallt es dann jedesmal von allen Seiten, denn beim Klang der Nationalhymne erhebt man sich von den Sitzen, besonders, wenn sie zwei Millionen Tote, einen verlorenen Krieg und die Inflation eingebracht hat.
»Aufstehen!«schreit mir ein etwa siebzehnjähriger Lümmel zu, der bei Ende des Krieges nicht mehr als zwölf Jahre alt gewesen sein kann.
»Leck mich am Arsch«, erwidere ich,»und geh zurück in die Schule.«
»Bolschewist!«schreit der Junge, der sicher noch nicht einmal weiß, was das ist.»Hier sind Bolschewisten, Kameraden!«
Es ist der Zweck dieser Flegel, Radau zu machen. Sie bestellen die Nationalhymne immer wieder, und immer wieder steht eine Anzahl Leute nicht auf, weil es ihnen zu dumm ist. Mit leuchtenden Augen stürzen die Schreihälse dann heran und suchen Streit. Irgendwo sitzen ein paar abgedankte Offiziere, dirigieren sie und fühlen sich patriotisch.
Ein Dutzend steht jetzt um unsern Tisch herum.»Aufstehen, oder es passiert was!«
»Was?«fragt Willy.
»Das werdet ihr bald sehen! Feiglinge! Vaterlandsverräter! Auf!«
»Geht vom Tisch weg«, sagt Georg ruhig.»Glaubt ihr, wir brauchen Befehle von Minderjährigen?«
Ein etwa dreißigjähriger Mann schiebt sich durch die Gesellschaft.»Haben Sie keinen Respekt vor Ihrer Nationalhymne?«
»Nicht in Kaffeehäusern, wenn damit Krach provoziert werden soll«, erwidert Georg.»Und nun lassen Sie uns mit Ihren Albernheiten in Ruhe!«
»Albernheiten? Sie nennen die heiligsten Gefühle eines Deutschen Albernheiten? Das werden Sie büßen müssen! Wo waren Sie im Kriege, Sie Drückeberger?«
»Im Schützengraben«, erwidert Georg.»Leider.«
»Das kann jeder sagen! Beweise!«
Willy steht auf. Er ist ein Riese. Die Musik schweigt gerade.»Beweise?«sagt Willy.»Hier!«Er lüftet ein Bein etwas an, dreht dem Frager leicht den Hintern zu, und ein Geräusch wie ein mittlerer Kanonenschuß erschallt.
»Das«, sagt Willy abschließend,»ist alles, was ich bei den Preußen gelernt habe. Vorher hatte ich nettere Manieren.«
Der Führer der Rotte ist unwillkürlich zurückgesprungen.»Sagten Sie nicht Feigling?«fragt Willy und grinst.»Sie scheinen selbst etwas schreckhaft zu sein!«
Der Wirt ist herangekommen mit drei stämmigen Kellnern.»Ruhe, meine Herrschaften, ich muß dringend bitten! Keine Auseinandersetzungen im Lokal!«
Die Kapelle spielt jetzt»Das Schwarzwaldmädel«. Die Hüter der Nationalhymne ziehen sich unter dunklen Drohungen zurück. Es ist möglich, daß sie draußen über uns herfallen wollen. Wir schätzen sie ab; sie hocken in der Nähe der Tür. Es sind etwa zwanzig. Der Kampf wird ziemlich aussichtslos für uns sein.
Doch auf einmal kommt unerwartet Hilfe. Ein vertrockneter kleiner Mann tritt an unseren Tisch. Es ist Bodo Lederhose, ein Händler in Häuten und altem Eisen. Wir haben mit ihm in Frankreich gelegen.»Kinder«, sagt er.»Habe gerade gesehen, was los ist. Bin mit meinem Verein hier. Drüben hinter der Säule. Wir sind ein gutes Dutzend. Werden euch helfen, wenn die Arschgesichter was wollen. Gemacht?«
»Gemacht, Bodo. Du bist von Gott gesandt worden.«
»Das nicht. Aber dies ist kein Platz für vernünftige Leute. Wir sind nur für ein Glas Bier hereingekommen. Leider hat der Wirt hier das beste Bier in der ganzen Stadt. Sonst ist er ein charakterloses Arschloch.«
Ich finde, daß Bodo ziemlich weitgeht, in diesen Zeiten selbst von einem so einfachen menschlichen Organ noch Charakter zu verlangen; aber es ist trotzdem erhebend, gerade deswegen. In faulen Zeiten soll man unmögliche Ansprüche stellen.
»Wir gehen bald«, sagt Bodo noch.»Ihr auch?«
»Sofort.«
Wir zahlen und erheben uns. Bevor wir an der Tür sind, sind die Hüter der Nationalhymne bereits draußen. Sie haben wie durch Zauber auf einmal Knüppel, Steine und Schlagringe in den Händen. Im Halbkreis stehen sie vor dem Eingang.
Bodo ist plötzlich zwischen uns. Er schiebt uns zur Seite, und seine zwölf Mann gehen vor uns durch die Tür. Sie bleiben draußen stehen.»Irgendwelche Wünsche, Ihr Rotzköpfe?«fragt Bodo.
Die Hüter des Reiches starren uns an.»Feiglinge!«sagt schließlich der Befehlshaber, der mit zwanzig Mann über uns drei herfallen wollte.»Wir werden euch schon noch erwischen!«
»Sicher«, sagt Willy.»Dafür haben wir ein paar Jahre im Schützengraben gelegen. Seht aber zu, daß ihr immer drei- oder viermal so viele seid. Übermacht gibt Patrioten Zuversicht.«
Wir gehen mit Bodos Verein die Große Straße hinunter. Die Sterne stehen am Himmel. In den Läden brennt Licht. Manchmal, wenn man mit Kameraden vom Kriege zusammen ist, erscheint einem das immer noch sonderbar und herrlich und atemberaubend und unbegreiflich: daß man so dahinschlendern kann und frei ist und lebt. Ich verstehe plötzlich, was Wernicke gemeint hat mit der Dankbarkeit. Es ist eine Dankbarkeit, die sich nicht an jemand richtet – einfach die, davongekommen zu sein für etwas mehr Zeit – denn wirklich davon kommt natürlich keiner.
»Ihr müßt ein anderes Café haben«, sagt Bodo.»Wie ist es mit unserem? Da gibt es keine solchen Brüllaffen. Kommt mit, wir zeigen es euch!«
Sie zeigen es uns. Unten gibt es Kaffee, Selters, Bier und Eis – oben sind die Versammlungsräume. Bodos Verein ist ein Gesangsverein. Die Stadt wimmelt von Vereinen, die alle ihre Vereinsabende, ihre Statuten, ihre Tagesordnungen haben und sich sehr wichtig und ernst nehmen. Bodos Verein tagt donnerstags im ersten Stock.
»Wir haben einen schönen vierstimmigen Männerchor«, sagt er.»Nur im ersten Tenor sind wir etwas schwach. Komisch, es sind wohl sehr viele erste Tenöre im Kriege gefallen. Und der Nachwuchs ist erst im Stimmbruch.«
»Willy ist ein erster Tenor«, erkläre ich.
»Tatsächlich?«Bodo sieht ihn interessiert an.»Sing mal diesen Ton nach, Willy.«
Bodo flötet wie eine Drossel. Willy flötet nach.»Gutes Material«, sagt Bodo.»Nun diesen!«
Willy schafft auch den zweiten.»Werde Mitglied«, drängt Bodo jetzt.»Wenn es dir nicht paßt, kannst du ja immer wieder austreten.«
Willy ziert sich etwas, aber zu unserem Erstaunen beißt er an. Er wird sofort zum Schatzmeister des Klubs ernannt. Dafür zahlt er eine doppelte Lage Bier und Schnaps und fügt für alle Erbsensuppe und Eisbein hinzu. Bodos Verein ist politisch demokratisch; nur im ersten Tenor haben sie einen konservativen Spielwarenhändler und einen halbkommunistischen Schuster; aber bei ersten Tenören kann man eben nicht wählerisch sein, es gibt zu wenige. Bei der dritten Lage erzählt Willy, daß er eine Dame kenne, die ebenfalls ersten Tenor singen könne und sogar Baß. Der Verein schweigt, kaut Eisbein und zweifelt. Georg und ich greifen ein und erklären die Duettfähigkeit Renée de la Tours. Willy schwört, daß sie kein wirklicher Baß sei, sondern von Geburt reiner Tenor. Darauf wird mit mächtigem Beifall geantwortet. Renée wird in Abwesenheit zum Mitglied und sofort zum Ehrenmitglied ernannt. Willy spendet die Runden dafür. Bodo träumt von mysteriösen Sopraneinlagen, wodurch andere Gesangvereine bei Sängerfesten wahnsinnig werden sollen, weil sie glauben müssen, daß Bodos Klub einen Eunuchen bei sich habe, zumal Renée natürlich in Männerkleidung auftreten muß, da der Verein sonst als gemischter Chor klassifiziert würde.