»Ich werde es ihr heute abend noch sagen«, erklärt Willy.»Kinder, wird sie lachen! In allen Stimmlagen!«
Georg und ich gehen schließlich. Willy bewacht vom ersten Stock aus den Platz; er rechnet, als alter Soldat, noch mit einem Hinterhalt der Hüter der Nationalhymne. Aber nichts geschieht. Der Marktplatz liegt ruhig unter den Sternen. Rundum stehen die Fenster der Kneipen offen. Gewaltig dringt es aus Bodos Vereinslokaclass="underline" »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben«?
»Sag mal, Georg«, frage ich, als wir in die Hakenstraße einbiegen.»Bist du eigentlich glücklich?«
Georg Kroll lüftet seinen Hut vor etwas Unsichtbarem in der Nacht.»Eine andere Frage!«sagt er.»Wie lange kann man auf einer Nadelspitze sitzen?«
XI
Regen stürzt vom Himmel. Nebel dampfen aus dem Garten dagegen. Der Sommer ist ertrunken, es ist kalt, und der Dollar steht auf hundertzwanzigtausend Mark. Mit mächtigem Krach bricht ein Teil der Dachtraufe nieder, und das Wasser schießt vor unserem Fenster herunter wie ein grauer Glaswall. Ich verkaufe zwei Engel aus Bisquitporzellan und einen Imortellenkranz an eine zarte Frau, deren beide Kinder an Grippe gestorben sind. Nebenan liegt Georg und hustet. Er hat auch die Grippe, aber ich habe ihn mit einer Kanne Glühwein gestärkt. Er hat außerdem ein halbes Dutzend Zeitschriften um sich herumliegen und benutzt die Gelegenheit, sich über die letzten Ehen, Scheidungen und Skandale der großen Welt in Cannes, Berlin, London und Paris zu informieren. Heinrich Kroll, unverwüstlich in gestreiften Hosen, Radfahrerklammern und einem passend gewählten dunklen Regenmantel, tritt ein.»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Ihnen einige Bestellungen diktiere?«fragt er mit unübertrefflichem Sarkasmus.
»Keineswegs. Immer los.«
Er gibt einige Aufträge an. Es sind kleinere Hügelsteine aus rotem Syenit, eine Marmorplatte, ein paar Grabeinfassungen – der Alltag des Todes, nichts Besonderes. Nachher steht er noch eine Zeitlang unschlüssig herum, wärmt sich am kalten Ofen seinen Hintern, betrachtet eine Anzahl Gesteinsproben, die seit zwanzig Jahren im Büro auf den Regalen liegen, und schießt endlich los:»Wenn einem derartige Schwierigkeiten gemacht werden, ist es kein Wunder, wenn wir bald pleite sind!«
Ich antworte nicht, um ihn zu ärgern.
»Pleite, sage ich«, erklärt er.»Und ich weiß, was ich sage.«
»Wirklich?«Ich blicke ihn freundlich an.»Wozu dann die Verteidigung? Jeder glaubt es Ihnen.«
»Verteidigung? Ich brauche mich nicht zu verteidigen! Aber was da in Wüstringen passiert ist -«
»Hat man die Mörder des Tischlers gefunden?«
»Mörder? Was geht das uns an? Und wer redet bei so was von Mord? Es war ein Unfall. Der Mann hatte sich das selbst zuzuschreiben! Was ich meine, ist, wie Sie mit dem Vorsteher Döbbeling dort umgegangen sind! Und dann noch der Witwe des Tischlers umsonst einen Grabstein anzubieten!«
Ich drehe mich zum Fenster und blicke in den Regen. Heinrich Kroll gehört zu den Menschen, die nie einen Zweifel an ihren Anschauungen haben – das macht sie nicht nur langweilig, sondern auch gefährlich. Sie sind die eherne Masse unseres geliebten Vaterlandes, mit der man immer wieder in einen Krieg ziehen kann. Nichts kann sie belehren, sie sind mit den Händen an der Hosennaht geboren, und sie sind stolz darauf, auch so zu sterben. Ich weiß nicht, ob es den Typ in anderen Ländern auch gibt – sicher aber nicht in solchen Mengen.
Nach einer Weile höre ich wieder, was der kleine Dickkopf redet. Er hat also mit dem Vorsteher eine lange Sitzung gehabt und die Sache bereinigt. Nur seiner Persönlichkeit ist das zu danken. Wir dürfen wieder Grabsteine nach Wüstringen liefern.
»Was sollen wir jetzt tun?«frage ich.»Sie anbeten?«
Er wirft mir einen giftigen Blick zu.»Passen Sie auf, daß Sie nicht einmal zu weit gehen!«
»Wie weit?«
»Zu weit. Vergessen Sie nicht, daß Sie hier Angestellter sind.«
»Ich vergesse das dauernd. Sonst müßten Sie mir dreifaches Gehalt zahlen – als Zeichner, Bürochef und Reklamechef. Im übrigen stehen wir nicht im militärischen Verhältnis zueinander, sonst müßten Sie vor mir strammstehen. Und wenn Sie wollen, kann ich ja einmal mit Ihrer Konkurrenz telefonieren – Hollmann und Klotz nehmen mich sofort.«
Die Tür öffnet sich, und Georg erscheint in einem fuchsroten Pyjama.»Redest du von Wüstringen, Heinrich?«
»Wovon sonst?«
»Dann geh in den Keller und schäme dich. In Wüstringen ist ein Mensch getötet worden! Ein Leben ist untergegangen. Eine Welt ist für jemand zerstört worden. Jeder Mord, jeder Totschlag ist der erste Totschlag der Welt. Kain und Abel, immer wieder! Wenn du und deine Genossen das einmal begreifen würden, gäbe es nicht so viel Kriegsgeschrei auf dieser an sich gesegneten Erde!«
»Sklaven und Knechte gäbe es dann! Kriecher vor dem unmenschlichen Vertrag von Versailles!«
»Der Vertrag von Versailles! Natürlich!«Georg tut einen Schritt vorwärts. Der Duft des Glühweins umschwebt ihn stark.»Hätten wir den Krieg gewonnen, dann hätten wir unsere Gegner natürlich mit Liebe und Geschenken überhäuft, was? Hast du vergessen, was du und deine Genossen alles annektieren wollten? Die Ukraine, Brie, Longwy und das gesamte Erz- und Kohlenbecken Frankreichs? Hat man uns die Ruhr weggenommen? Nein, wir haben sie noch! Willst du behaupten, daß unser Friedensvertrag nicht zehnmal härter geworden wäre, hätten wir nur einen diktieren können? Habe ich deine große Schnauze darüber nicht selbst noch 1917 gehört? Frankreich sollte ein Staat dritten Ranges werden, riesige Stücke Rußlands müßten annektiert werden, und alle Gegner hätten zu zahlen und Sachwerte abzuliefern bis zum Weißbluten! Das warst du, Heinrich! Jetzt aber brüllst du im Chor mit über die Ungerechtigkeit, die uns angetan wurde. Es ist zum Kotzen mit eurem Selbstmitleid und eurem Rachegeschrei! Immer ist ein anderer schuld! Ihr stinkt vor Selbstgerechtigkeit, ihr Pharisäer! Wißt ihr nicht, daß das erste Zeichen eines Mannes darin besteht, daß er dafür einsteht, was er getan hat? Euch aber ist nie etwas anderes als das größte Unrecht geschehen, und ihr unterscheidet euch nur in einem von Gott – Gott weiß alles, aber ihr wißt alles besser.«
Georg sieht sich um, als erwache er. Sein Gesicht ist jetzt so rot wie sein Pyjama, und sogar die Glatze hat eine rosige Farbe. Heinrich ist erschreckt zurückgewichen. Georg folgt ihm. Er ist sehr wütend. Heinrich weicht weiter zurück.»Steck mich nicht an!«schreit er.»Du bläst mir ja deine Bazillen ins Gesicht! Wohin soll das führen, wenn wir beide die Grippe haben?«
»Niemand dürfte mehr sterben«, sage ich.
Es ist ein schönes Bild, die kämpfenden Brüder zu sehen. Georg im roten Satinpyjama, schwitzend vor Wut, und Heinrich im kleinen Gesellschaftsanzug, voller Sorge, die Grippe zu erwischen. Die Szene wird außer mir noch von Lisa beobachtet, die in einem Morgenrock mit eingedruckten Segelschiffen trotz des Wetters weit aus dem Fenster hängt. Im Hause Knopf steht die Tür offen. Der Regen hängt wie ein Vorhang von Glasperlen davor. Es ist so dunkel drinnen, daß die Mädchen bereits Licht gemacht haben. Man könnte glauben, sie schwämmen da herum wie die Rheintöchter Wagners. Unter einem riesigen Schirm wandelt der Tischler Wilke wie ein schwarzer Pilz über den Hof. Heinrich Kroll verschwindet, buchstäblich von Georg aus dem Büro gedrängt.»Gurgeln Sie mit Salzsäure«, rufe ich ihm nach.»Grippe ist bei Leuten Ihres Schlages tödlich.«
Georg bleibt stehen und lacht.»Was bin ich für ein Idiot«, sagt er.»Als ob die Sorte je etwas lernen würde!«
»Woher hast du das Pyjama?«frage ich.»Bist du in die kommunistische Partei eingetreten?«
Händeklatschen kommt von gegenüber. Lisa überschüttet Georg mit Beifall – ein starkes Stück von Disloyalität gegen Watzek, den aufrechten Nationalsozialisten und künftigen Schlachthofdirektor. Georg verneigt sich, die Hand aufs Herz gedrückt.»Leg dich ins Bett«, sage ich.»Du bist ja ein Springbrunnen, so schwitzest du!«