Выбрать главу

»Schwitzen ist gesund! Schau dir den Regen an! Da schwitzt der Himmel. Und drüben das Stück Leben, in seinem offenen Morgenrock, mit weißen Zähnen und voll von Gelächter! Was tun wir hier? Warum zerspringen wir nicht wie Feuerwerk? Wenn wir einmal richtig wüßten, was Leben ist, würden wir zerspringen! Wozu verkaufe ich Denkmäler? Warum bin ich nicht eine Sternschnuppe? Oder ein Vogel Greif, der über Hollywood hinstreicht und die wunderbarsten Frauen aus ihren Swimmingpools raubt? Weshalb müssen wir in Werdenbrück leben und Kämpfe im Café Central haben, anstatt eine Karawane nach Timbuktu auszurüsten und mit mahagonifarbenen Trägern in den weiten afrikanischen Morgen zu ziehen? Warum haben wir kein Bordell in Yokohama? Antworte! Es ist wichtig, das sofort zu wissen! Warum schwimmen wir nicht mit purpurnen Fischen um die Wette in den roten Abenden von Tahiti? Antworte!«

Er greift nach der Flasche Kornschnaps.»Halt!«sage ich.»Es ist noch Wein da. Ich werde ihn sofort auf dem Spirituskocher heiß machen. Keinen Schnaps jetzt! Du hast Fieber! Roten, heißen Wein, gewürzt mit den Spezereien Indiens und der Sundainseln!«

»Gut! Erhitze ihn! Aber warum sind wir nicht selbst auf den Inseln der Hoffnung und schlafen mit Frauen, die nach Zimt riechen und deren Augen weiß werden, wenn wir sie unter dem südlichen Kreuz begatten, und die Schreie ausstoßen wie die Papageien und die Tiger? Antworte!«

Die blaue Flamme des Spirituskochers brennt wie das blaue Licht des Abenteuers im Halbdunkel des Büros. Der Regen rauscht wie das Meer.»Wir sind auf dem Weg, Kapitän«, sage ich und nehme einen gewaltigen Zug Kornschnaps, um Georg nachzukommen.»Die Karavelle passiert gerade Santa Cruz, Lissabon und die Goldküste. Die Sklavinnen des Arabers Mohammed ben Hassan ben Watzek starren aus ihren Kajüten und winken. Hier ist Eure Wasserpfeife!«

Ich reiche Georg eine Zigarre aus der Kiste für die besten Agenten. Er entzündet sie und bläst ein paar tadellose Rauchringe. Sein Pyjama zeigt dunkle Wasserflecke.»Auf dem Wege«, sagt er.»Warum sind wir noch nicht da?«

»Wir sind da. Man ist immer und überall da. Zeit ist ein Vorurteil. Das ist das Geheimnis des Lebens. Man weiß es nur nicht. Man bemüht sich immer, irgendwo anzukommen!«

»Warum weiß man es nicht?«fragt Georg.

»Zeit, Raum und das Kausalgesetz sind der Schleier der Maja, der die freie Sicht behindert.«

»Warum?«

»Sie sind die Peitschen, mit denen Gott verhindert, daß wir ihm gleich werden. Er jagt uns mit ihnen durch ein Panorama von Illusionen und durch die Tragödie der Dualität.«

»Welcher Dualität?«

»Der von Ich und Welt. Von Sein und Leben. Objekt und Subjekt sind nicht mehr eins. Geburt und Tod sind die Folgen. Die Kette klirrt. Wer sie zerreißt, zerreißt auch Geburt und Tod. Laßt es uns versuchen, Rabbi Kroll!«

Der Wein dampft. Er riecht nach Gewürznelken und Zitronen. Ich gebe Zucker hinein, und wir trinken. Beifall kommt aus der Kabine des Sklavenschiffes Mohammed ben Hassan ben Jussuf ben Watzek auf der anderen Seite des Golfes. Wir verneigen uns und setzen die Gläser nieder.»Wir sind also unsterblich?«fragt Georg kurz und ungeduldig.

»Nur hypothetisch«, erwidere ich.»In der Theorie – denn unsterblich ist der Gegensatz zu sterblich – also bereits eine Dualitätshälfte. Erst wenn der Schleier der Maja völlig reißt, geht die Dualität zum Teufel. Dann ist man heimgekehrt, nicht mehr Objekt und Subjekt, sondern beides in einem, und alle Fragen sterben.«

»Das ist nicht genug!«

»Was gibt es weiter?«

»Man ist. Punkt.«

»Auch das ist der Teil eines Paares: Man ist, man ist nicht. Immer noch Dualität, Kapitän! Wir müssen darüber hinaus!«

»Wie? Wenn wir die Schnauze aufmachen, haben wir sofort wieder den Teil eines anderen Paares am Wickel. Das geht nicht so weiter! Sollen wir stumm durchs Leben gehen?«

»Das wäre der Gegensatz zu nicht-stumm.«

»Verflucht! Wieder eine Falle! Was tun, Steuermann?«

Ich schweige und hebe das Glas hoch. Rot leuchtet der Reflex des Weines. Ich zeige auf den Regen und hebe ein Stück Granit von den Gesteinsproben hoch. Dann zeige ich auf Lisa, auf den Reflex im Glase, das Flüchtigste der Welt, auf den Granit, das Beständigste der Welt, stelle das Glas und den Granit fort und schließe die Augen. Etwas wie ein Schauer läuft mir bei all dem Hokuspokus plötzlich den Rücken entlang. Sind wir vielleicht unwissentlich auf eine Spur geraten? Haben wir im Suff einen magischen Schlüssel erwischt? Wo ist auf einmal das Zimmer? Treibt es im Universum? Wo ist die Welt? Passiert sie gerade die Plejaden? Und wo ist der rote Reflex des Herzens? Ist er Polarstern, Achse und Zentrum in einem?

Frenetisches Beifallsklatschen von gegenüber. Ich öffne die Augen. Einen Moment ist keine Perspektive da. Alles ist flach und weit und nah und rund zur selben Zeit und hat keinen Namen. Dann wirbelt es zurück und steht still und ist wieder das, was es heißt. Wann war das schon einmal so? Es war schon einmal so! Ich weiß es irgendwoher, aber es fällt mir nicht ein.

Lisa schwenkt eine Flasche Kakaolikör aus dem Fenster. In diesem Augenblick geht die Türglocke. Wir winken Lisa hastig zu und schließen das Fenster. Bevor Georg verschwinden kann, öffnet sich die Bürotür, und Liebermann, der Friedhofswärter des Stadtfriedhofes, tritt ein. Er umfaßt mit einem Blick den Spirituskocher, den Glühwein und Georgs Pyjama und krächzt:»Geburtstag?«

»Grippe«, erwidert Georg.

»Gratuliere!«

»Was ist da zu gratulieren?«

»Grippe bringt Geschäft. Ich merke as draußen. Bedeutend mehr Tote.«

»Herr Liebermann«, sage ich zu dem rüstigen Achtzigjährigen.»Wir sprechen nicht vom Geschäft. Herr Kroll hat einen schweren kosmischen Grippeanfall, den wir soeben heroisch bekämpfen. Wollen Sie auch ein Glas Medizin?«

»Ich bin Schnapstrinker. Wein macht mich nur nüchtern.«

»Wir haben auch Schnaps.«

Ich schenke ihm ein Wasserglas voll ein. Er trinkt einen guten Schluck, nimmt dann seinen Rucksack ab und holt vier Forellen hervor, die in große grüne Blätter eingeschlagen sind. Sie riechen nach Fluß und Regen und Fisch.

»Ein Geschenk«, sagt Liebermann.

Die Forellen liegen mit gebrochenen Augen auf dem Tisch. Ihre grüne und graue Haut ist voll roter Flecken. Wir starren sie an. Sanft ist der Tod plötzlich wieder in den Raum eingebrochen, in dem soeben noch die Unsterblichkeit schwang – sanft und schweigend, mit dem Vorwurf der Kreatur gegen den Mörder und Allesesser Mensch, der von Frieden und Liebe redet und Lämmern die Kehle zerschneidet und Fische ersticken läßt, um Kraft genug zu haben, weiter über Frieden und Liebe zu reden – Bodendiek, den Mann Gottes und saftigen Fleischesser, nicht ausgenommen.

»Ein schönes Abendessen«, sagt Liebermann.»Besonders für Sie, Herr Kroll. Leichte Krankenkost.«

Ich trage die toten Fische in die Küche und übergebe sie Frau Kroll, die sie fachkundig betrachtet.»Mit frischer Butter, gekochten Kartoffeln und Salat«, erklärt sie.

Ich sehe mich um. Die Küche glänzt, Licht strahlt aus den Kochtöpfen zurück, eine Pfanne zischt, und es riecht gut. Küchen sind immer ein Trost. Der Vorwurf schwindet aus den Augen der Forellen. Aus toten Kreaturen wird plötzlich Nahrung, die man verschiedenartig zubereiten kann. Fast scheint es, als wären sie nur deswegen geboren worden. Was für Verräter wir doch sind, denke ich, an unseren edleren Gefühlen!

Liebermann hat einige Adressen gebracht. Die Grippe wirkt sich tatsächlich bereits aus. Leute sterben, weil sie nicht viel Widerstandskraft haben. Der Hunger während des Krieges hat sie ohnehin schon geschwächt. Ich beschließe plötzlich, mir einen anderen Beruf zu suchen. Ich bin des Todes müde. Geoerg hat sich seinen Bademantel geholt. Er sitzt wie ein schwitzender Buddha da. Der Bademantel ist giftgrün. Georg liebt zu Hause scharfe Farben. Ich weiß jetzt auf einmal, woran mich unser Gespräch vorhin erinnert hat. An etwas, was Isabelle vor einiger Zeit gesagt hat. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran – aber es hatte mit dem Betrug der Dinge zu tun. Doch war es bei uns wirklich ein Betrug? Oder waren wir Gott einen Augenblick um einen Zentimeter näher?