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Sie bleibt plötzlich stehen. Ihr Gesicht ist blaß und entschlossen, und ihre Augen scheinen fast schwarz zu sein.

»Du liebst mich nicht genug«, stößt sie hervor.

Ich sehe sie überrascht an.»Es ist, soviel ich kann«, sage ich.

Sie steht eine Weile schweigend.»Nicht genug«, murmelt sie dann.»Nie genug! Es ist nie genug!«

»Ja«, sage ich.»Wahrscheinlich ist es nie genug. Nie im Leben, nie, mit niemandem. Wahrscheinlich ist es immer zu wenig, und das ist das Elend der Welt.«

»Es ist nicht genug«, wiederholt Isabelle, als hätte sie mich nicht gehört.»Sonst wären wir nicht noch zwei.«

»Du meinst, sonst wären wir eins?«

Sie nickt.

Ich denke an das Gespräch mit Georg, während wir den Glühwein tranken.»Wir werden immer zwei bleiben müssen, Isabelle«, sage ich vorsichtig.»Aber wir können uns lieben und glauben, wir wären nicht mehr zwei.«

»Glaubst du, wir sind schon einmal eins gewesen?«

»Das weiß ich nicht. Niemand könnte so etwas wissen. Man würde keine Erinnerung haben.«

Sie sieht mich starr aus dem Dunkel an.»Das ist es, Rudolf«, flüstert sie.»Man hat keine. An nichts. Warum nicht? Man sucht und sucht. Warum ist alles fort? Es ist doch so viel dagewesen! Nur das weiß man noch! Aber nichts anderes mehr. Warum weiß man es nicht mehr? Du und ich, war das nicht einmal schon? Sag es! Sag es doch! Wo ist es jetzt, Rudolf?«

Der Wind wirft einen Schwall Wasser klatschend über uns weg. Vieles ist so, als wäre es schon einmal gewesen, denke ich. Es kommt oft ganz nahe wieder heran und steht vor einem, und man weiß, es war schon einmal da, genauso, man weiß sogar einen Augenblick fast noch, wie es weitergehen muß, aber dann entschwindet es, wenn man es fassen will, wie Rauch oder eine tote Erinnerung.

»Wir könnten uns nie erinnern, Isabelle«, sage ich.»Es wäre so wie mit dem Regen. Er ist auch etwas, das eins geworden ist, aus zwei Gasen, Sauerstoff und Wasserstoff, die nun nicht mehr wissen, daß sie einmal Gase waren. Sie sind jetzt nur noch Regen und haben keine Erinnerung an das Vorher.«

»Oder wie Tränen«, sagt Isabelle.»Aber Tränen sind voll von Erinnerungen.«

Wir gehen eine Zeitlang schweigend weiter. Ich denke an die sonderbaren Momente, wenn einen unvermutet das Doppelgängergesicht einer scheinbaren Erinnerung über viele Leben hinweg jäh anzusehen scheint. Der Kies knirscht unter unseren Schuhen. Hinter der Mauer des Gartens hupt langgezogen ein Auto, als warte es auf jemand, der entfliehen will.

»Dann ist sie wie Tod«, sagt Isabelle schließlich.

»Was?«

»Liebe. Vollkommene Liebe.«

»Wer weiß das, Isabelle? Ich glaube, niemand kann das jemals wissen. Wir erkennen immer nur etwas, solange wir jeder noch ein Ich sind. Wenn unsere Ichs miteinander verschmölzen, so wäre es wie beim Regen.Wir wären ein neues Ich und könnten uns an die einzelnen früheren Ichs nicht mehr erinnern. Wir wären etwas anderes – so verschieden wie Regen von Luft – nicht mehr ein gesteigertes Ich – durch ein Du.«

»Und wenn Liebe vollkommen wäre, so daß wir verschmölzen, dann wäre es wie Tod?«

»Vielleicht«, sage ich zögernd.»Aber nicht so wie Vernichtung. Was Tod ist, weiß niemand, Isabelle. Man kann ihn deshalb mit nichts vergleichen. Aber wir würden uns sicher nicht mehr als Selbst fühlen. Wir würden nur wieder ein anderes einsames Ich werden.«

»Dann muß Liebe immer unvollkommen sein?«

»Sie ist vollkommen genug«, sage ich und verfluche mich, weil ich mit meiner pedantischen Schulmeisterei wieder so weit in ein Gespräch hineingeraten bin.

Isabelle schüttelt den Kopf.»Weiche nicht aus, Rudolf! Sie muß unvollkommen sein, ich sehe das jetzt. Wenn sie vollkommen wäre, gäbe es einen Blitz, und nichts wäre mehr da.«

»Es wäre noch etwas da – aber jenseits von unserer Erkenntnis.«

»So wie der Tod?«

Ich sehe sie an.»Wer weiß das?«sage ich vorsichtig, um sie nicht weiter zu erregen.»Vielleicht hat der Tod einen ganz falschen Namen. Wir sehen ihn immer nur von einer Seite. Vielleicht ist er die vollkommene Liebe zwischen Gott und uns.«

Der Wind wirft einen Schwall Regen durch die Blätter der Bäume, die ihn mit Geisterhänden weiterwerfen. Isabelle schweigt eine Weile.»Ist Liebe deshalb so traurig?«fragt sie dann.

»Sie ist nicht traurig. Sie macht nur traurig, weil sie unerfüllbar und nicht zu halten ist.«

Isabelle bleibt stehen.»Warum, Rudolf?«sagt sie plötzlich sehr heftig und stampft mit den Füßen.»Warum muß das so sein?«

Ich sehe in das blasse, gespannte Gesicht.»Es ist das Glück«, sage ich.

Sie starrt mich an.»Das ist das Glück?«

Ich nicke.

»Das kann nicht sein! Es ist doch nichts als Unglück!«

Sie wirft sich gegen mich, und ich halte sie fest. Ich fühle, wie das Schluchzen gegen ihre Schultern stößt.»Weine nicht«, sage ich.»Was würde sein, wenn man um so etwas schon weinen wollte?«

»Um was denn sonst?«

Ja, um was sonst, denke ich. Um alles andere, um das Elend auf diesem verfluchten Planeten, aber nicht um das.»Es ist kein Unglück, Isabelle«, sage ich.»Es ist das Glück. Wir haben nur so törichte Namen wie „vollkommen“ und „unvollkommen“ dafür.«

»Nein, nein!«Sie schüttelt heftig den Kopf und läßt sich nicht trösten. Sie weint und klammert sich an mich, und ich halte sie in den Armen und fühle, daß nicht ich recht habe, sondern sie, daß sie es ist, die keine Kompromisse kennt, daß in ihr noch das erste, einzige Warum brennt, das vor aller Verschüttung durch den Mörtel des Daseins da war, die erste Frage des erwachten Selbst.

»Es ist kein Unglück«, sage ich trotzdem.»Unglück ist etwas ganz anderes, Isabelle.«

»Was?«

»Unglück ist nicht, daß man nie ganz eins werden kann. Unglück ist, daß man sich immerfort verlassen muß, jeden Tag und jede Stunde. Man weiß es und kann es nicht aufhalten, es rinnt einem durch die Hände und ist das Kostbarste, was es gibt, und man kann es doch nicht halten. Immer stirbt einer zuerst. Immer bleibt einer zurück.«

Sie sieht auf.»Wie kann man verlassen, was man nicht hat?«

»Man kann es«, erwidere ich bitter.»Und wie man es kann! Es gibt viele Stufen des Verlassens und des Verlassenwerdens, und jede ist schmerzlich, und viele sind wie der Tod.«

Isabelles Tränen haben aufgehört.»Woher weißt du das?«sagt sie.»Du bist doch noch nicht alt.«

Ich bin alt genug, denke ich. Ein Stück von mir ist alt geworden, als ich aus dem Kriege zurückkam.»Ich weiß es«, sage ich.»Ich habe es erfahren.«

Ich habe es erfahren, denke ich. Wie oft habe ich den Tag verlassen müssen, und die Stunde, und das Dasein, und den Baum im Morgenlicht, und meine Hände, und meine Gedanken, und es war jedesmal für immer, und wenn ich zurückkam, war ich ein anderer. Man kann viel verlassen und muß stets alles hinter sich lassen, wenn man dem Tode entgegentreten muß, man ist immer nackt vor ihm, und wenn man zurückfindet, muß man alles neu erwerben, was man zurückgelassen hat.

Isabelles Gesicht schimmert vor mir in der Regennacht, und eine plötzliche Zärtlichkeit überströmt mich. Ich spüre wieder, in welcher Einsamkeit sie lebt, unerschrocken, allein mit ihren Gesichten, bedroht von ihnen und ihnen hingegeben, ohne Dach, unter das sie flüchten könnte, ohne Entspannung und ohne Ablenkung, ausgesetzt allen Winden des Herzens, ohne Hilfe von irgend jemand, ohne Klage und ohne Mitleid mit sich selbst. Du süßes, furchtloses Herz, denke ich, unberührt und pfeilgerade zum Wesentlichen allein hinzielend, auch wenn du es nicht erreichst und dich verirrst – aber wer verirrte sich nicht? Und haben nicht fast alle längst aufgegeben? Wo beginnt der Irrtum, das Narrentum, die Feigheit, und wo die Weisheit und wo der letzte Mut?«