Auf dem dunklen Hof pralle ich im Nebel gegen einen Schatten. Es ist der alte Knopf, der wieder einmal vor dem schwarzen Obelisken steht. Ich bin mit voller Wucht gegen ihn gerannt, und er taumelt und schlingt beide Arme um den Obelisken, als wolle er ihn erklettern.»Es tut mir leid, daß ich Sie gestoßen habe«, sage ich.»Aber weshalb stehen Sie auch hier? Können Sie Ihre Geschäfte denn wirklich nicht in Ihrer Wohnung erledigen? Oder, wenn Sie schon ein Freiluftakrobat sind, warum nicht an einer Straßenecke?«
Knopf läßt den Obelisken los.»Verdammt, jetzt ist es in die Hose gegangen«, murmelt er.
»Das schadet Ihnen nichts. Nun erledigen Sie den Rest meinetwegen schon hier.«
»Zu spät.«
Knopf stolpert zu seiner Tür hinüber. Ich gehe die Treppen hinauf und beschließe, Isabelle von dem Geld, das ich bei Karl Brill gewonnen habe, morgen einen Strauß Blumen zu schicken. Zwar bringt mir so etwas gewöhnlich nur Unglück, aber ich weiß nun einmal nichts anderes. Eine Zeitlang stehe ich noch am Fenster und sehe hinaus in die Nacht und beginne dann etwas beschämt und sehr leise, Worte und Sätze zu flüstern, die ich gerne einmal jemandem sagen möchte, aber für die ich niemanden habe, außer vielleicht Isabelle – doch die weiß ja nicht einmal, wer ich überhaupt bin. Doch wer weiß das schon von irgend jemand?
XIII
Der Reisende Oskar Fuchs, genannt Tränen-Oskar, sitzt im Büro.»Was gibt es, Herr Fuchs?«frage ich.»Wie steht es mit der Grippe in den Dörfern?«
»Ziemlich harmlos. Die Bauern sind gut im Futter. In der Stadt ist es anders. Ich habe zwei Fälle, wo Hollmann und Klotz vor dem Abschluß stehen. Ein roter Granit, einseitig poliert, Hügelstein, zwei bossierte Sockel, ein Meter fünfzig hoch, zwei Millionen zweihunderttausend Mark – ein kleiner, einszehn hoch, eine Million dreihunderttausend Eier. Gute Preise. Wenn Sie hunderttausend weniger verlangen, haben Sie sie. Meine Provision ist zwanzig Prozent.«
»Fünfzehn«, erwidere ich automatisch.
»Zwanzig«, erklärt Tränen-Oskar.»Fünfzehn kriege ich bei Hollmann und Klotz auch. Wozu da der Verrat?«
Er lügt. Hollmann und Klotz, deren Reisender er ist, zahlen ihm zehn Prozent und Spesen. Die Spesen bekommt er ohnehin; er macht also bei uns ein Geschäft von zehn Prozent extra.
»Barzahlung?«
»Das müssen Sie selbst sehen. Die Leute sind gut situiert.«
»Herr Fuchs«, sage ich.»Warum kommen Sie nicht ganz zu uns? Wir zahlen besser als Hollmann und Klotz und können einen erstklassigen Reisenden brauchen.«
Fuchs zwinkert.»Es macht mir so mehr Spaß. Ich bin ein gefühlsmäßiger Mensch. Wenn ich mich über den alten Hollmann ärgere, schiebe ich Ihnen einen Abschluß zu, als Rache. Wenn ich ganz für Sie arbeitete, würde ich mich über Sie ärgern.«
»Da ist was dran«, sage ich.
»Das meine ich. Ich würde dann Sie an Hollmann und Klotz verraten. Reisen in Grabsteinen ist langweilig; man muß es etwas beleben.«
»Langweilig? Für Sie? Wo Sie doch jedesmal eine artistische Vorstellung geben?«
Fuchs lächelt wie Gaston Münch im Stadttheater, nachdem er den Karl-Heinz in»Alt-Heidelberg«gespielt hat.
»Man tut, was man kann«, erklärt er mit tobender Bescheidenheit.
»Sie sollen sich großartig entwickelt haben. Ohne Hilfsmittel. Rein intuitiv. Stimmt das?«
Oskar, der früher mit rohen Zwiebelscheiben gearbeitet hat, bevor er die Trauerhäuser betrat, behauptet jetzt, die Tränen frei wie ein großer Schauspieler erzeugen zu können. Das ist natürlich ein riesiger Fortschritt. Er braucht so nicht weinend das Haus zu betreten, wie bei der Zwiebeltechnik, wo dann, wenn das Geschäft länger dauert, die Tränen versiegen, weil er ja die Zwiebel nicht anwenden kann, solange die Trauernden dabeisitzen – im Gegenteil, er kann jetzt trockenen Auges hineingehen und während des Gespräches über den Abgeschiedenen in natürliche Tränen ausbrechen, was selbstverständlich von ganz anderer Wirkung ist. Es ist ein Unterschied wie zwischen echten und künstlichen Perlen. Oskar behauptet, so überzeugend zu sein, daß er sogar oft von den Hinterbliebenen getröstet und gelabt wird.
Georg Kroll kommt aus seiner Bude. Eine Fehlfarben-Havanna dampft unter seiner Nase, und er ist die Zufriedenheit selbst. Geradewegs geht er aufs Ziel los.
»Herr Fuchs«, sagt er.»Ist es wahr, daß Sie auf Befehl weinen können, oder ist das eine niederträchtige Schreckpropaganda unserer Konkurrenz?«
Statt einer Antwort starrt Oskar ihn an.»Nun?«fragt Georg.»Was ist? Fühlen Sie sich nicht gut?«
»Einen Augenblick! Ich muß erst in Stimmung kommen.«Oskar schließt die Augen. Als er die Lider wieder öffnet, wirken sie schon etwas wäßrig. Er starrt Georg weiter an, und nach einer Weile stehen ihm tatsächlich dicke Tränen in den blauen Augen. Noch eine Minute, und sie rollen ihm über die Wangen. Oskar zieht ein Taschentuch heraus und tupft sie auf.»Wie war das?«fragt er und zieht die Uhr.»Knappe zwei Minuten. Manchmal schaffe ich es in einer, wenn eine Leiche im Hause ist.«
»Großartig.«
Georg schenkt von dem Kundenkognak ein.»Sie sollten Schauspieler werden, Herr Fuchs.«
»Daran habe ich auch schon gedacht; aber es gibt zu wenige Rollen, in denen männliche Tränen verlangt werden. Othello natürlich, aber sonst -«
»Wie machen Sie es? Irgendein Trick?«
»Imagination«, erwidert Fuchs schlicht.»Starke, bildhafte Vorstellungskraft.«
»Was haben Sie sich denn jetzt vorgestellt?«
Oskar trinkt sein Glas aus.»Offen gestanden, Sie, Herr Kroll. Mit zersplitterten Beinen und Armen und einem Schwarm Ratten, der Ihnen langsam das Gesicht abfrißt, während Sie noch leben, wegen der gebrochenen Arme die Nager aber nicht abwehren können. Entschuldigen Sie, aber für eine so rasche Vorstellung brauchte ich ein sehr starkes Bild.«
Georg fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Es ist noch da.»Stellen Sie sich auch ähnliche Sachen von Hollmann und Klotz vor, wenn Sie für die arbeiten?«frage ich.
Fuchs schüttelt den Kopf.»Bei denen stelle ich mir vor, daß sie hundert Jahre alt werden und reich und gesund bleiben, bis sie an einem Herzschlag im Schlaf schmerzlos abfahren – dann strömen mir die Tränen nur so vor Wut.«
Georg zahlt ihm die Provisionen für die letzten beiden Verrätereien aus.»Ich habe neuerdings auch einen künstlichen Schluckauf entwickelt«, sagt Oskar.»Sehr wirksam. Beschleunigt den Abschluß. Die Leute fühlen sich schuldig, weil sie glauben, es sei eine Folge der Teilnahme.«
»Herr Fuchs, kommen Sie zu uns!«sage ich impulsiv.»Sie gehören in ein künstlerisch geleitetes Unternehmen, nicht zu kahlen Geldschindern.«
Tränen-Oskar lächelt gütig, schüttelt das Haupt und verabschiedet sich.»Ich kann nun mal nicht. Ohne etwas Verrat würde ich ja nichts sein als ein flennender Waschlappen. Der Verrat balanciert mich. Verstehen Sie?«
»Wir verstehen«, sagt Georg.»Von Bedauern zerrissen, aber wir respektieren Persönlichkeit über alles.«
Ich notiere die Adressen für die Hügelsteine auf ein Blatt und übergebe sie Heinrich Kroll, der im Hof seine Fahrradreifen aufpumpt. Er sieht die Zettel verächtlich an. Für ihn als alten Nibelungen ist Oskar ein gemeiner Lump, obschon er von ihm, ebenfalls als alter Nibelunge, nicht ungern profitiert.»Früher hatten wir so etwas nicht nötig«, erklärt er.»Gut, daß mein Vater das nicht mehr erlebt hat.«
»Ihr Vater wäre nach allem, was ich über diesen Pionier des Grabsteinwesens gehört habe, außer sich vor Freude gewesen, seinen Konkurrenten einen solchen Streich zu spielen«, erwidere ich.»Er war eine Kämpfernatur – nicht wie Sie auf dem Felde der Ehre, sondern in den Schützengräben rücksichtslosen Geschäftslebens. Kriegen wir übrigens bald die Restzahlung für das allseitig polierte Kreuzdenkmal, das Sie im April verkauft haben? Die zweihunderttausend, die noch fehlen? Wissen Sie, was die jetzt wert sind? Nicht einmal einen Sockel.«