Ich lache. Valentin zwinkert mir zu und sagt nicht, daß auch er mitkommt. Eduard lächelt, weil er glaubt, eine Flasche gespart zu haben. Alles ist damit in schönster Harmonie.
Wir brechen auf. Es ist ein herrlicher Abend. Wir gehen zur Bahnstraße 12. Die Stadt hat zwei Puffs, aber das an der Bahnstraße ist das elegantere. Es liegt außerhalb der Stadt und ist ein kleines Haus, das von Pappeln umgeben ist. Ich kenne es gut; ich habe dort einen Teil meiner Jugend verbracht, ohne zu wissen, was dort los war. An den schulfreien Nachmittagen pflegten wir in den Bächen und Teichen vor der Stadt Molche und Fische zu fangen und auf den Wiesen Schmetterlinge und Käfer. An einem besonders heißen Tage gerieten wir auf der Suche nach einem Gasthaus, um Limonade zu trinken, in die Bahnstraße 12. Die große Gaststube im Parterre sah aus wie andere Gaststuben auch. Sie war kühl, und als wir nach Selterswasser fragten, bekamen wir es vorgesetzt. Nach einer Weile kamen ein paar Frauen in Morgenröcken und blumigen Kleidern dazu. Sie fragten uns, was wir machten und in welcher Schulklasse wir wären. Wir bezahlten unsere Selters und kamen am nächsten heißen Tage wieder, diesmal mit unseren Büchern, die wir mitgebracht hatten, um im Freien am Bach unsere Aufgaben zu lernen. Die freundlichen Frauen waren wieder da und interessierten sich mütterlich für uns. Wir fanden es kühl und behaglich, und da nachmittags niemand außer uns kam, blieben wir sitzen und begannen unsere Schularbeiten zu machen. Die Frauen sahen uns über die Schultern und halfen uns, als wären sie unsere Lehrer. Sie achteten darauf, daß wir unsere schriftlichen Arbeiten machten, sie kontrollierten unsere Zensuren, sie hörten uns ab, was wir auswendig lernen mußten, und gaben uns Schokolade, wenn wir gut waren, oder gelegentlich auch eine mittlere Ohrfeige, wenn wir faul waren. Wir dachten uns nichts dabei; wir waren noch in dem glücklichen Alter, wo Frauen einem nichts bedeuten. Nach kurzer Zeit nahmen die nach Veilchen und Rosen duftenden Damen Mutter- und Erzieherstellen bei uns ein; sie waren voll bei der Sache, und wenn wir nur in der Tür erschienen, kam es schon vor, daß ein paar Göttinnen in Seide und Lackschuhen uns aufgeregt fragten:»Was war mit der Klassenarbeit in Geographie? Gut oder schlecht?«Meine Mutter lag damals schon sehr viel im Krankenhaus, und so geschah es, daß ich einen Teil meiner Erziehung im Puff von Werdenbrück erhielt, und ich kann nur sagen, daß sie strenger war, als wenn ich sie zu Hause gehabt hätte. Wir kamen für zwei Sommer, dann begannen wir zu wandern und hatten weniger Zeit, und meine Familie zog in einen anderen Teil der Stadt. Ich bin dann noch einmal im Kriege in der Bahnstraße gewesen. Das war am Tage, bevor wir ins Feld mußten. Wir waren knapp achtzehn Jahre alt, einige noch unter achtzehn, und die meisten von uns hatten noch nie mit einer Frau etwas gehabt. Wir wollten aber nicht erschossen werden, ohne etwas davon zu kennen, und deshalb gingen wir zu fünft in die Bahnstraße, die wir ja noch von früher kannten. Es war großer Betrieb, und wir bekamen unseren Schnaps und unser Bier. Nachdem wir uns genügend Mut angetrunken hatten, wollten wir unser Heil versuchen. Willy, der frechste von uns, war der erste. Er hielt Fritzi, die verführerischste von allen anwesenden Damen, an.»Schatz, wie wäre es denn?«
»Klar«, erwiderte Fritzi durch den Lärm und Rauch, ohne ihn richtig anzusehen.»Hast du Geld?«
»Mehr als genug.«Willi zeigte seine Löhnung und das Geld vor, das ihm seine Mutter gegeben hatte, damit er dafür eine Messe für eine glückliche Rettung aus dem Kriege lesen lassen sollte.
»Na, also! Hoch das Vaterland!«sagte Fritzi ziemlich geistesabwesend und sah in die Richtung des Bierausschanks.»Komm nach oben!«
Willy stand auf und legte seine Mütze ab. Fritzi stutzte und starrte auf sein brandrotes Haar. Es war von einzigartiger Leuchtkraft, und sie kannte es natürlich, selbst nach sieben Jahren, sofort wieder.»Einen Augenblick«, sagte sie.»Heißen Sie nicht Willy?«
»Absolut!«erklärte Willy strahlend.
»Und hast du nicht einmal hier deine Schularbeiten gemacht?«
»Richtig!«
»So – und du willst jetzt mit mir aufs Zimmer gehen?«
»Natürlich! Wir kennen uns ja doch schon.«
Willy grinste über das ganze Gesicht. Im nächsten Augenblick hatte er eine Ohrfeige kleben.»Du Ferkel!«sagte Fritzi.»Du willst mit mir ins Bett? Das ist doch das Letzte an Frechheit!«
»Wieso?«stotterte Willy.»Alle andern hier -«
»Alle andern! Was gehen mich die andern an? Habe ich den anderen ihren Katechismus abgehört? Habe ich ihnen den Aufsatz gemacht? Habe ich aufgepaßt, daß sie sich nicht erkälten, du verfluchter Rotzbengel?«
»Aber ich bin jetzt siebzehneinhalb -«
»Halt die Klappe! Das ist ja, als ob du Lümmel deine Mutter vergewaltigen wolltest! Raus hier, du minderjähriger Flegel!«
»Er geht morgen in den Krieg«, sage ich.»Haben Sie kein patriotisches Verständnis?«Sie faßte mich ins Auge.
»Bist du nicht der, der die Kreuzottern hier losgelassen hat? Drei Tage mußten wir das Etablissement schließen, bis wir die Biester gefunden hatten!«
»Ich habe sie nicht losgelassen«, verteidigte ich mich.»Sie sind mir entkommen.«Bevor ich noch mehr sagen konnte, hatte ich ebenfalls eine Ohrfeige sitzen.»Lausebengels! Raus mit euch!«
Der Lärm brachte die Puffmutter herbei. Sie ließ sich von der empörten Fritzi die Sache erklären. Sie erkannte Willy auch sofort wieder.»Der Rote!«keuchte sie. Sie wog zweihundertvierzig Pfund und zitterte vor Lachen wie ein Berg von Gelee im Erdbeben.
»Und du! Heißt du nicht Ludwig?«
»Ja«, sagte Willy.»Aber wir sind jetzt Soldaten und haben ein Recht auf Geschlechtsverkehr.«
»So, ihr habt ein Recht!«Die Puffmutter schüttelte sich erneut.»Weißt du noch, Fritzi, wie er Angst hatte, daß sein Vater erfahren würde, er habe die Stinkbomben in der Religionsstunde geworfen? Jetzt hat er ein Recht auf Geschlechtsverkehr! Hohoho!«
Fritzi sah den Humor der Sache nicht. Sie war ehrlich wütend und beleidigt.»Als wenn mein eigener Sohn -«
Die Puffmutter mußte von zwei Mann aufrecht gehalten werden. Tränen strömten über ihr Gesicht. Speichelblasen formten sich an ihren Mundwinkeln. Sie hielt sich mit beiden Händen den schwabbelnden Bauch.»Limonade«, würgte sie heraus.»Waldmeisterlimonade! War das nicht«- Keuchen, Ersticken -»euer Lieblingsgetränk?«
»Jetzt trinken wir Schnaps und Bier«, erwiderte ich.»Jeder wird mal erwachsen.«
»Erwachsen!«Erneuter Erstickungsanfall der Puffmutter, Toben der beiden Doggen, die ihr gehörten und glaubten, sie würde attackiert. Wir zogen uns vorsichtig zurück.»Raus, ihr undankbaren Schweine!«rief Fritzi unversöhnlich.
»Schön«, sagte Willy an der Tür.»Dann gehen wir eben zur Rollstraße.«
Wir standen mit unseren Uniformen, unseren Mordwaffen und den Ohrfeigen draußen. Aber wir kamen nicht zur Rollstraße, zum zweiten Puff der Stadt. Es war ein Weg von über zwei Stunden, quer durch ganz Werdenbrück, und wir ließen uns lieber statt dessen rasieren. Auch das war das erstemal in unserem Leben, und da wir den Beischlaf nicht kannten, schien uns der Unterschied nicht so groß wie später, zumal uns auch der Friseur beleidigte und uns Radiergummi für unsere Barte empfahl. Nachher trafen wir dann weitere Bekannte, und bald hatten wir genug getrunken und vergaßen alles. So kam es, daß wir als Jungfrauen ins Feld fuhren und daß siebzehn von uns fielen, ohne je gewußt zu haben, was eine Frau ist. Willy und ich verloren unsere Jungfernschaft dann in Houthoulst in Flandern in einem Estaminet. Willy holte sich dabei einen Tripper, kam ins Lazarett und entging so der Flandernschlacht, in der die siebzehn Jungfrauen fielen. Wir sahen daran bereits damals, daß Tugend nicht immer belohnt wird.
Wir wandern durch die laue Sommernacht. Otto Bambuss hält sich an mich als den einzigen, der zugibt, den Puff zu kennen. Die anderen kennen ihn auch, tun aber unschuldig, und der einzige, der behauptet, ein fast täglicher Gast dort zu sein, der Dramatiker und Schöpfer des Monowerkes»Adam«, Paul Schneeweiß, lügt; er ist nie dort gewesen.