»Welch hübsches Kleid, Gerda«, gurrt Renée.»Schade, daß ich so etwas nicht tragen kann! Ich bin zu dünn dazu.«
»Das macht nichts«, erwidert Gerda.»Ich fand die vorjährige Mode auch eleganter. Besonders die entzückenden Eidechsenschuhe, die du trägst. Ich liebe sie jedes Jahr mehr.«
Ich sehe unter den Tisch. Renée trägt tatsächlich Schuhe aus Eidechsenleder. Wie Gerda das im Sitzen sehen konnte, gehört zu den ewigen Rätseln der Frau. Es ist unverständlich, daß diese Gaben des Geschlechts nie besser praktisch ausgenützt worden sind – zur Beobachtung des Feindes in Fesselballons bei der Artillerie oder für ähnliche kulturelle Zwecke.
Willy unterbricht das Geplänkel. Er ist eine Vision in Hellgrau. Anzug, Hemd, Krawatte, Strümpfe, Wildlederhandschuhe – und darüber, wie ein Ausbruch des Vesuvs, die roten Haare.»Wein!«sagt er.»Die Totengräber zechen! Sie versaufen den Schmerz einer Familie! Bin ich eingeladen?«
»Wir haben unseren Wein nicht an der Börse verdient, du Parasit am Volksvermögen«, erwidere ich.»Trotzdem wollen wir ihn gerne mit Mademoiselle de la Tour teilen. Jeder Mensch, der Eduard erschrecken kann, ist uns willkommen.«
Das erweckt einen Heiterkeitsausbruch bei Gerda. Sie stößt mich erneut unter dem Tisch an. Ich fühle, daß ihr Knie an meinem liegen bleibt. Wärme steigt mir in den Nacken. Wir sitzen plötzlich da wie Verschwörer.
»Ihr werdet Eduard bestimmt heute auch noch erschrecken«, sagt Gerda.»Wenn er mit der Rechnung kommt. Ich fühle es. Ich habe das Zweite Gesicht.«
Alles, was sie sagt, hat wie durch einen Zauberschlag einen neuen Klang. Was ist los? denke ich. Steigt mir die Liebe schaudernd in die Schilddrüse, oder ist es eher die alte Freude, einem anderen etwas abspenstig zu machen? Der Speisesaal ist auf einmal nicht mehr eine nach Essen riechende Bude – er ist etwas, das mit ungeheurer Geschwindigkeit wie eine Schaukel durch das Universum fliegt. Ich sehe aus dem Fenster und bin erstaunt, daß die Städtische Sparkasse noch immer an derselben Stelle steht. Sie sollte, auch ohne Gerdas Knie, ohnehin längst verschwunden sein; weggewaschen von der Inflation. Aber Stein und Beton überdauern einen Haufen Menschenwerk und Menschen.
»Ein großartiger Wein«, sage ich.»Wie der erst in fünf Jahren sein wird!«
»Älter«, erklärt Willy, der nichts von Wein versteht.»Noch zwei Flaschen, Eduard!«
»Warum zwei? Laß uns eine nach der anderen trinken.«
»Gut! Trinkt ihr eure! Mir, Eduard, so schnell wie möglich eine Flasche Champagner!«
Eduard schießt davon wie ein geölter Blitz.»Was ist los, Willy?«fragt Renée.»Glaubst du, du kommst um den Pelzmantel herum, wenn du mich betrunken machst?«
»Du bekommst den Pelzmantel! Dieses jetzt hier hat einen höheren Zweck. Erzieherisch! Siehst du ihn nicht, Ludwig?«
»Nein. Ich trinke lieber Wein als Champagner.«
»Du siehst ihn wirklich nicht? Drüben, drei Tische hinter der Säule? Den borstigen Schweinskopf, die tückischen Hyänenaugen und die vorstehende Hühnerbrust? Den Mörder unserer Jugend?«
Ich suche nach dieser zoologischen Merkwürdigkeit und entdecke sie gleich darauf. Es ist der Direktor unseres Gymnasiums, älter und ruppiger geworden, aber er ist es. Vor sieben Jahren noch hat er Willy erklärt, er würde am Galgen enden, und mir, lebenslängliches Zuchthaus sei mir sicher. Er hat uns auch bemerkt. Die roten Augen blinzeln zu uns herüber, und ich weiß jetzt, warum Willy den Sekt bestellt hat.
»Laß den Pfropfen knallen, so laut es geht, Eduard!«befiehlt Willy.
»Das ist nicht vornehm.«
»Man trinkt Sekt nicht, um vornehm zu sein; man trinkt ihn, um sich wichtig zu machen.«
Willy nimmt Eduard die Flasche aus der Hand und schüttelt sie. Der Pfropfen knallt wie ein Pistolenschuß. Im Lokal entsteht einen Augenblick Schweigen. Der borstige Schweinskopf reckt sich. Willy steht in voller Größe am Tisch, die Flasche in der Rechten, und schenkt Glas auf Glas ein. Der Sekt schäumt, Willys Haar leuchtet, und sein Gesicht strahlt. Er starrt auf Schimmel, unseren Direktor, und Schimmel starrt wie hypnotisiert zurück.
»Es funktioniert«, flüstert Willy.»Ich dachte schon, er würde uns ignorieren.«
»Er ist ein leidenschaftlicher Schulmann«, antworte ich.
»Er kann uns nicht ignorieren. Für ihn bleiben wir Schüler, auch wenn wir sechzig sind. Sieh nur, wie seine Nase arbeitet!«
»Benehmt euch nicht wie Zwölfjährige«, sagt Renée.
»Warum nicht?«fragt Willy.»Älter werden können wir immer noch.«
Renée hebt resigniert die Hände mit dem Amethystring.
»Und so was hat das Vaterland verteidigt!«
»Hat geglaubt, das Vaterland zu verteidigen«, sage ich.»Bis es herausfand, daß es nur den Teil des Vaterlandes verteidigte, der gern zum Teufel gehen konnte – darunter den nationalistischen Schweinskopf da drüben.«
Renée lacht.»Ihr habt das Land der Dichter und Denker verteidigt, vergeßt das nicht.«
»Das Land der Dichter und Denker braucht nie verteidigt zu werden – höchstens gegen den Schweinskopf drüben und seinesgleichen, die Dichter und Denker ins Gefängnis sperren, solange sie leben, und mit ihnen, wenn sie tot sind, Reklame für sich machen.«
Gerda reckt den Kopf.»Heute wird scharf geschossen, was?«
Sie stößt mich wieder unter dem Tisch an. Ich klettere vom Rednerpult herunter und sitze sofort aufs neue in der Schaukel, die über die Erde hinwegfliegt. Der Speisesaal ist ein Teil des Kosmos, und selbst Eduard, der den Sekt säuft wie Wasser, um die Zeche zu erhöhen, hat einen staubigen Heiligenschein um seinen Kopf.
»Kommst du nachher mit?«flüstert Gerda.
Ich nicke.
»Er kommt!«wispert Willy entzückt.»Ich wußte es!«
Das Warzenschwein hat es nicht ausgehalten. Es hat sich hochgewuchtet und nähert sich zwinkernd unserem Tisch.»Hohmeyer, nicht wahr?«sagt es.
Willy sitzt jetzt. Er steht nicht auf.»Bitte?«fragt er.
Schimmel ist bereits irritiert.»Sie sind doch der frühere Schüler Hohmeyer!«
Willy stellt die Flasche vorsichtig hin.»Verzeihen Sie, Baronin«, sagt er zu Renée.»Ich glaube, der Mann dort meint mich.«Er wendet sich zu Schimmel.»Womit kann ich Ihnen dienen? Was möchten Sie, mein guter Mann?«Schimmel ist einen Augenblick perplex. Er hat wohl selbst nicht genau gewußt, was er sagen wollte. Schlichte, überquellende Empörung hat den biederen Schulfuchs an unseren Tisch geschwemmt.
»Ein Glas Champagner?«fragte Willy zuvorkommend.»Auch mal kosten, wie die andere Hälfte lebt?«
»Was fällt Ihnen ein? Ich bin kein Wüstling!«
»Schade«, erklärt Willy.»Aber was wollen Sie wirklich hier? Sie stören, sehen Sie das nicht?«
Schimmel schießt einen Wutblick auf ihn ab.»Ist es absolut nötig«, krächzt er,»daß ehemalige Schüler meines Gymnasiums am hellichten Tage Orgien feiern?«
»Orgien?«Willy sieht ihn erstaunt an.»Entschuldigen Sie nochmals, Baronin«, sagt er dann zu Renée.»Dieser manierenlose Mann – ein Herr Schimmel übrigens, jetzt erkenne ich ihn«- stellt er graziös vor -»die Baronin de la Tour«- Renée neigt huldvoll das Lockenhaupt -»glaubt, wir feiern eine Orgie, weil wir an Ihrem Geburtstag ein Glas Sekt trinken -«
Schimmel ist, soweit es bei ihm möglich ist, etwas verwirrt.»Geburtstag?«knarrt er.»Nun ja – immerhin, dies ist eine kleine Stadt – als ehemalige Schüler könnten Sie -«
Es sieht aus, als wolle er uns eine widerwillige Absolution erteilen. Die Baronin de la Tour hat auf den alten Kastenanbeter ihre Wirkung nicht verfehlt. Willy greift eilig ein.»Als ehemaliger Schüler von Ihnen sollten wir schon morgens einen Schnaps oder zwei zum Kaffee nehmen«, erklärt er,»damit wir endlich einmal wissen, was das Wort Freude bedeutet. Das stand nämlich nie in Ihrem Lehrplan, Sie Jugendmörder! Sie alter Pflichtenbock haben uns unser Dasein so versaut, daß wir glaubten, die Preußen wären eine Befreiung, Sie trostloser Feldwebel des deutschen Aufsatzes! Nur durch Sie sind wir zu Wüstlingen geworden! Sie allein tragen die Verantwortung für alles! Und nun schieben Sie ab, Sie Unteroffizier der Langeweile!«