«Und wenn schon! Freud hat auch alles erfunden — den Ödipus-Komplex, das Unterbewußtsein, die Verdrängung, die Sublimierung, den Freudschen Versprecher, das Es, das Ich, das Über-Ich …«
«Das Ich nicht.«
«… den Todestrieb …«
«Den gibt’s. Davon kann ich ein Lied singen. Mein Vater, dem ich übrigens sehr gut in die Augen sehen konnte, hat sich umgebracht, und meine Mutter hat sich lebendig begraben, und mein Sohn ist suizidgefährdet …«
«Ist er nicht.«
«Er hat immerhin einen Versuch unternommen.«
«Das war Bluff.«
«Woher weißt du das?«
«Er hat mir alles erzählt.«
«Warum dir, einem völlig Fremden? Warum nicht seinem Vater?«
«Du bist ihm nicht weniger fremd als ich. Den kannst du ihm zur Auflockerung erzählen: Zwei Lehrer treffen sich im Kaffeehaus, sagt der eine: Wenn ich Bill Gates wäre, wäre ich wahrscheinlich noch reicher als er. Fragt der andere: Wie das? Antwortet der eine: Ich könnte zusätzlich Nachhilfeunterricht geben.«— Und legte auf.
5
Hier nun Biographisches über die Mitglieder meiner wiederentdeckten Familie, wie sie es selbst — David am Abend, Dagmar in der Nacht — vor mir ausgebreitet haben:
David wollte nach dem Abitur Medizin studieren und Chirurg werden. Sein Notendurchschnitt aber war nicht entsprechend, so daß er von der ZVS (Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen — mit Wonne und Schadenfreude registrierte ich, daß ihm seine Mutter ihre Vorliebe für Abkürzungen mitgegeben hatte) ziemlich weit nach hinten gereiht worden war und vier Semester hätte warten müssen, bis ihm irgendein medizinisches Institut irgendwo in der Bundesrepublik zugeteilt worden wäre. Also gab er seinen Berufswunsch auf und schrieb sich für Wirtschaftspsychologie an der Universität Lüneburg ein. Er wußte nicht, was Wirtschaftspsychologie zum Inhalt hatte, auch nicht, was für eine Tätigkeit draußen im Leben auf einen Wirtschaftspsychologen wartete. Er besuchte eine einzige Vorlesung, die war derart langweilig, daß er auch mit dem besten Willen nicht einmal eine Minute lang im Gedächtnis behalten konnte, was vorgetragen wurde. Hinterher war er erschöpft wie nach einem Dreißigstundentag. Noch vor den Weihnachtsferien exmatrikulierte er sich und kehrte nach Frankfurt zurück. Er meldete sich für den Zivildienst an und bekam eine Stelle beim Diakonischen Werk in einem Tagesheim für Behindertenbetreuung. Von Anfang an gefiel ihm diese Arbeit. Die Patienten mochten ihn. Er hatte sogar den Eindruck, sie mochten keinen Betreuer lieber als ihn. Er hatte sich um vier Spastiker zu kümmern, zwei Frauen, zwei jugendliche Männer. Eine der Frauen hieß Natalie, sie war siebenundzwanzig und hatte ein hübsches Gesicht, wenn es entspannt war, was selten vorkam — in seiner Gegenwart aber eindeutig häufiger als in Gegenwart der anderen Betreuer. Natalie litt unter einer zerebralparetischen Störung, sie hatte bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen. Sie saß im Rollstuhl und konnte nicht sprechen. Es gelang ihr zwar, Laute von sich geben, aber das tat sie nur, wenn es ihr unbedingt notwendig erschien. Sie schämte sich. Sie wußte, die Leute hielten sie für schwachsinnig, wenn sie stöhnte, gurrte, röchelte oder lallte. David bekam die Erlaubnis, Natalie im Rollstuhl durch die Stadt zu schieben. Sie besuchten den Zoo, und während eines Wolkenbruchs flüchteten sie sich in das Giraffenhaus. Dort waren sie allein. Ihm ging es zu dieser Zeit nicht besonders gut, und das erzählte er ihr angesichts der Giraffen, und er erzählte auch, warum es ihm nicht so besonders gut ging. Sie tröstete ihn. Sie hatte noch nie in ihrem Leben jemanden getröstet, sonst war immer sie getröstet worden. Natalies Mutter lud ihn an einem Wochenende nach Hause ein. Natalie tanze gern, sagte sie, sie wünsche, ihm etwas vorzutanzen. Die Mutter legte eine Musik auf, und Natalie drehte und warf sich im Rollstuhl vor und zurück und hin und her. Nach einer Weile fand sie den Rhythmus, und ihr Körper war voll Anmut, trotz der schnellenden, zuckenden Bewegungen. Er verstand, warum weder Natalie noch ihre Mutter es wollten, daß sie im Heim vor den anderen tanzte. Die Bewegungen hatten nämlich auch etwas Anbietendes, Geiles, Lüsternes an sich, obwohl sie bestimmt nicht so gemeint waren. Allein die Tatsache, daß eine behinderte Frau, die schön war, tanzte, ließ einen etwas Schäbiges denken. Natalie war sein Liebling. Jeden Tag unterrichtete er sie. Hauptfach war Bliss. Bliss ist eine Universalsprache, ihr Erfinder war ein gewisser Charles Bliss, der hat sich, beeinflußt von den chinesischen Schriftzeichen, Symbole ausgedacht, mit deren Hilfe man alles, was man so üblicherweise redet, ausdrücken kann, nämlich einfach, indem man mit dem Finger darauf deutet. Das Sensationelle daran ist, daß auf diese Weise jeder Mensch mit jedem anderen Menschen kommunizieren kann, egal ob er Chinesisch, Portugiesisch, Deutsch oder Suaheli spricht. In der Allgemeinheit hat sich diese Erfindung leider nicht durchgesetzt, im Umgang mit sprachgestörten Menschen aber lassen sich erstaunliche Erfolge damit erzielen. Nachdem David ein halbes Jahr mit Natalie gearbeitet hatte, war sie in der Lage, mit Hilfe eines auf Bliss aufbauenden Programms — Apple Bliss — am Computer zu» schreiben«. Das Problem war: Natalie konnte mit den Händen nicht den Bildschirm berühren, um auf die Symbole zu zeigen und damit das Programm auszulösen. Wenn sie ihre Hand vor sich sah, zuckte die Hand aus und ließ sich nicht führen. Um die Hand halbwegs ruhig zu halten, mußte sie den Kopf wegdrehen. Wenn sie aber den Kopf wegdrehte, sah sie nicht, auf welche Taste sie drücken wollte. David stellte einen Spiegel auf den Tisch, so daß sie ihre Hand indirekt sah, und, wie ein Wunder, sie gehorchte ihr. Das erste, was sie schrieb, war ein Brief an David. Sie schrieb, sie liebe ihn wie einen kleinen Bruder. Als er seinen Ersatzdienst abgedient hatte, arbeitete er noch eine Weile unentgeltlich in dem Heim weiter, meldete sich aber an der Universität Frankfurt für die neue Studienrichtung Bioinformatik an, für die draußen in Niederursel im FIZ (Frankfurter Innovationszentrum Biotechnologie) ein Institut eingerichtet werden soll. Er stellt sich vor, daß man in dieser Studienrichtung auch über Kommunikationsformen jenseits von konventioneller Schrift und Sprache nachdenke. Jedenfalls wird er, wenn es zu einem Aufnahmegespräch komme, sagen, er wisse bereits, worüber er seine Diplomarbeit schreiben wolle, nämlich über Bliss.
Als wir uns zum Schlafengehen voneinander verabschiedeten, sagte David:»Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gern über die Feiertage noch hierbleiben.«
«Hast du eine Bliss-Tafel bei dir?«fragte ich, wissend, daß er keine bei sich hatte.
«Nein«, sagte er,»aber ich kann dir die wichtigsten Symbole auf ein Blatt aufzeichnen.«
«Das würde mich sehr interessieren«, sagte ich. Und das stimmte auch.
Dagmar arbeitet auf Honorarbasis in der Abteilung für Stadtentwicklung und Flächennutzung des Stadtplanungsamtes der Stadt Frankfurt. Der Job wird nicht übermäßig gut bezahlt, dafür ist er interessant, und man kann in ein paar Jahren bei einem Spaziergang durch die Stadt sehen, was man zustande gebracht hat. Sie hat auch an dem inzwischen in der ganzen Bundesrepublik bekannten Baulückenatlas mitgearbeitet. Der war erstellt worden nicht zuletzt auf Wunsch und Druck der Industrie- und Handelskammer, und zwar zu dem Zweck, jeden freien Quadratmeter in der Stadt wirtschaftlichen Interessen preiszugeben. Aber eine seriöse Stadtplanung ist ja keine Lobbyistenspielwiese. Und die Stadt gehört allen. Auf der anderen Seite stehen die militanten Naturschützer, die aus jedem freien Quadratmeter ein Reservat rückbauen wollen, das am besten nicht betreten werden sollte, weil dort vielleicht irgendwelche Ruderalpflanzen gedeihen oder ein Mauerseglerpaar sein Nest baut. Dagmar hat durchgesetzt, daß wenigstens eine Baulücke unangetastet blieb, und zwar genau jene, die sowohl von den Ökos als auch von den Wirtschaftsleuten als besonders häßlich bezeichnet wurde. Dort stehen gerade noch die Kellerschächte zweier ehemaliger Bürgerhäuser. Spekulanten hatten die beiden Grundstücke gekauft und die Häuser abgerissen und waren pleite gegangen. In den Kellern hatte sich ein Tümpel gebildet, die Mauerstümpfe sind von Efeu und Knöterich überwuchert, etliche der alten Parkbäume stehen noch, unter anderem ein Mammutbaum und eine mächtige Blutbuche, ein Hain aus zarten Birken wächst auf der einen Seite, auf der anderen hat sich Schilf breitgemacht. Es ist ein Stück Großstadtdschungel und Dagmars Lieblingsplatz, gelegen am Rand des Westends, sie sagt» mein Platz «dazu, außer den Bonzen und den Grünen finden offenbar auch alle anderen Frankfurter diesen Platz häßlich, auf jeden Fall ist nie jemand dort, nicht einmal Punks oder Junkies kommen hin.»Ich habe«, sagt sie,»etwas getan, indem ich durchgesetzt habe, daß nichts getan wird. «Zur Zeit hat sie eine besonders schöne Arbeit: Die Bebauung des Rebstockparks nicht weit vom Messegelände ist in Planung, und weil man ihre Art schätzt, hat man sie in die Vorbereitung dieses Projekts einbezogen. Es ist die spannendste Aufgabe, an der sie in ihrem Leben mitgewirkt hat. Der Architektenstar Peter Eisenman aus New York hat die Pläne entworfen, eine unglaublich schöne Lösung hat er gefunden, er hat mathematische und philosophische Überlegungen mit ökologischen und wirtschaftlichen verwoben und das Ganze unter ein soziales Diktat gestellt. Bei dieser Arbeit verdient sie auch besser, es ist ein Vorteil, daß sie nicht angestellt ist. Aber auch wenn sie nichts dafür bekäme, würde sie es tun. Sie überlegt sich, ob sie in ihrem Alter noch ein Architekturstudium beginnen soll, wahrscheinlich aber tut sie es nicht.