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Bis zwei Jahre nach der Scheidung hat sie noch mit David in der Danneckerstraße in Sachsenhausen gewohnt, sie hat nichts in der Wohnung verändert, aber nicht wegen Sentimentalität, sondern wegen Faulheit oder Gewohnheit. Dann sind sie umgezogen. Sie hatten unwahrscheinliches Glück, in der Friedrichstraße, überhaupt nicht weit vom Grüneburgplatz, war eine große Wohnung mit Flügeltüren, vier Zimmern und einem protzigen Frühstücksbalkon angeboten; die Vermieterin hatte sich ausdrücklich eine alleinstehende Frau mit einem Kind gewünscht, für so eine hatte sie die Miete halbiert, ein Ehepaar oder ein Single hätte fast das Doppelte berappen müssen. Bis heute hat sie sich an die schöne Wohnung noch nicht richtig gewöhnt, und manchmal steht sie zwischen den Türen, verschränkt die Arme und dreht sich langsam im Kreis. In der Liebe dagegen hat sie kein großes Glück gehabt, aber das war ein Glück für sie, denn sonst würde sie jetzt wohl in einer Familie leben und hätte noch ein oder zwei Kinder dazu, die sie höchstwahrscheinlich nicht so sehr lieben würde wie David, was zu großen Problemen führen würde. Immer wieder hat sie Beziehungen gehabt, aber die Männer haben es bei ihr nicht ausgehalten, nämlich aus dem altbekannten Grund, weil sie so eine Streitgretel sei. David haben sie gemocht, und er hat die Männer auch gemocht, aber es ist nicht gegangen. Gerade erst vor einem Monat hat sie sich von einem Mann getrennt, ja, diesmal hat sie sich getrennt. Er ist verheiratet, zweieinhalb Jahre war sie mit ihm zusammen. Das heißt, sie waren nicht zusammen, er hat sie besucht. Es war eine Spätnachmittagsbeziehung. Am späten Nachmittag war nämlich ein Zeitloch, in das seine Frau nicht hineinschauen konnte. Aber nicht öfter als drei- bis viermal in der Woche hat er sie besucht. Und nicht länger als zwei Stunden. Alle zwei Monate oder noch seltener blieb er über Nacht. Viel telefoniert haben sie. Sie kennt seine Frau, eine edel aussehende Person mit melancholischen Augen. Von diesem Mann übrigens hielt David nicht viel. Er sagte, er könne ihr das Wasser nicht reichen. Was er genau damit meinte, weiß sie nicht, der Mann ist immerhin ein hochgebildeter Jurist, der einen hochinteressanten Filmclub aufgebaut hat. Dagmar ist Mitglied in diesem Filmclub. Dort hat sie ihn auch kennengelernt. Kino bedeutet ihr sehr viel, wahrscheinlich soviel wie mir die Literatur. Jetzt geht sie dort nicht mehr hin. Irgendwie ahnt sie, was David meint. Christoph, so heißt der Mann, hat keine Herzensbildung, im Umgang mit Menschen ist er ein Orang-Utan. Er wußte nicht, was er mit ihrem Herz anfangen sollte, und leider hatte sie den Eindruck, ihre Gefühle waren ihm irgendwie peinlich.

Als ich Dagmar am Ende dieses ungewöhnlichsten aller Tage an ihrem Handy anrief — es war halb zwei in der Nacht —, hatte sie sich mit» Wer spricht?«gemeldet. Sie wußte, daß ich es war. Ihr Ton war gleichgültig geschäftsmäßig. Ich ließ mich nicht bluffen. Es gibt niemanden, der sie besser kennt als ich. Nachdem sie ausführlich erzählt hatte, fragte sie:»Hast du manchmal daran gedacht, zu mir zurückzukommen?«

Ich antwortete mit der Wahrheit:»Nachdem wir gestern nacht miteinander telefoniert hatten, habe ich daran gedacht. Seither denke ich daran.«

«Vorher nie?«

«Nein.«

«Verdankst du mir etwas, Sebastian?«

«Wie meinst du das?«

«Vergiß es!«

«Sag mir, wie du es meinst!«

«Frag’ mich nicht, wie ich es meine, sag’ einfach ja oder sag’ nein.«

«Sehr viel verdanke ich dir.«

«Ich frag’ lieber nicht, was.«

Wir erzählten einer dem anderen, was der andere ohnehin wußte, weil wir es miteinander erlebt hatten. Irgendwann sagte ich:»Erinnerst du dich noch an die verrückte Schwäbin?«

«Welche verrückte Schwäbin?«fragte sie.

Und obwohl ich sehr deutlich den warnenden Unterton hörte, sprach ich weiter:»Die KBWlerin mit dem Babygesichtchen, mit der du in der Bockenheimer Landstraße zusammengewohnt hast.«

«Die Inge? Wieso sagst du, die war verrückt?«

«Du hast noch Kontakt zu dieser bitteren Schwäbin?«

«Sie ist meine Freundin.«

«Sie ist deine Freundin? Bist du verrückt! Und wo ist sie zur Zeit dabei? Bei den Satanisten? Beim Opus Dei? Bei den Tierschützern, die Hühnerfarmen mit Auschwitz und Bergen-Belsen vergleichen?«

Dagmar legte auf. Und ich dachte: Ich habe alles verdorben. Und das kam mir sehr vertraut vor, denn immer, wenn wir uns gestritten hatten, hatte ich mich hinterher ähnlich gefühlt.

6

Dienstag, 17. April.

Später Vormittag. — Im selben Moment, als David und ich aus diesem schicken Kleidergeschäft auf die Annagasse traten, wo sich gerade eine Heerschar auf Stelzen, die für ein Hautpflegesystem warb, zu einer orange-grünen Phalanx formierte — je ein Buchstabe des Produktnamens auf je einem Wams —, sah ich Evelyn oben auf der Kärntnerstraße. Ich erkannte sie an ihrem Schritt und an der Art, wie sie die Arme eng am Körper hielt. Das wirkte sehr einsam. Sie zeigte ihre Zähne, ließ den Schlüsselbund aus ihrer Hand springen und fing ihn in raubtierhafter Geschwindigkeit auf, grüßte, indem sie die Fäuste gegen mich ballte, und mit geballten Fäusten kam sie auf uns zu.

«Kann es sein, daß du David bist?«

Ich hatte ihr von David erzählt, nicht allzu ausführlich freilich, und es war auch schon lange her; daß er mein Sohn ist, viel mehr hatte ich über ihn damals ja auch nicht gewußt. Er stellte die Papiertaschen mit den Boxershorts und T-Shirts, den Schuhen, den Jeans und dem halben Dutzend Socken, wozu ich ihn überredet hatte, neben sich auf das Pflaster und drückte ihre Hand.»Stimmt auffallend genau«, sagte er.

Ich sah ihr an, daß sie von seiner Stimme beeindruckt war, und wohl auch, weil sein mädchenhaftes Gesicht und sein honigfarbenes lockiges Haar dazu ein so perplexes Kontra bildeten, daß es ihr schwerfallen mußte, überhaupt ein erstes Bild von ihm zu entwerfen.»Hast du eine Ahnung, wer ich sein könnte?«

«Ich bin erst den dritten Tag in Wien.«

«Sagt dir der Name Evelyn etwas?«

«Ich möchte nach zweieinhalb Tagen nicht unbedingt etwas falsch machen«, antwortete er.