«Das ist eine ziemlich gute Antwort«, imitierte sie seine Stimmlage und unterlegte ihr die Karikatur eines Quizmasters, was albern klang und mich rührte, weil ich daraus schloß, daß ihr Herz hoch schlug. Nun wandte sie sich zu mir.»Kommentier’s bitte nicht. «Und wieder zu David:»Und wie lange bleibst du?«
«In zwei Stunden oder so fahre ich wieder.«
«Ein kurzer Besuch. «Und zu mir:»Wie geht’s dir?«
«Fast alles ist gut«, sagte ich.
«Was heißt fast?«
«Daß nie alles gut ist.«
«Warum hast du nicht ein Mal wenigstens angerufen?«
«Mein Sohn hat mich besucht.«
«Aber doch erst vor drei Tagen, wie ich gerade erfahren habe! Ich habe seit zwei Monaten nichts von dir gehört!«Zu David:»Er stellt sich nämlich nicht die Frage, wie es mir dabei geht, wenn ich dauernd nachstudieren muß, wie es ihm geht. Er spinnt, weißt du das? Absolut kein comprendo bei ihm. «Zu mir:»Aber ich denke, ich verstehe dich, ich verstehe dich, ja, ich denke, ich verstehe dich.«
David hob seine Taschen auf und ging ein paar Schritte weiter, hockte sich auf einen Fahrradständer, zündete sich eine Zigarette an (Streichholz in der Höhlung der Hand wie ein Knastbruder) und beobachtete die Stelzenmänner, die in Zeitlupe zur Kärntnerstraße wanderten und sich dort breitbeinig zu einer Barriere aufstellten und einander an den Händen hielten, so daß sich die Leute unter ihren langen Beinen durchducken mußten. Ohne Interesse schaute ihnen David zu, zog an seiner Zigarette, ein Ausdruck im Gesicht, als wäre das beileibe nicht das erste Mal, daß er sich abseits begebe, damit der Vater ungestört mit seinem Pantscherl parlieren kann.
«Warum hat er so eine Stimme?«fragte Evelyn.
«Was für eine Stimme hat er denn?«
«Ein rauher Bariton. Sehr sexy.«
Sie nahm mein Gesicht zwischen ihre großen warmen, trockenen Hände und küßte mich fest auf den Mund.»Du siehst gut aus, hast abgenommen, das steht dir gut, und warst an der Sonne, hast eine Farbe. Gefall ich dir noch?«
«Natürlich.«
«Warum ist er in Wien?«
«Er wollte seinen Vater kennenlernen.«
«Ja. Aber warum?«
«Das ist ein uraltes Thema, das wollen alle.«
«Ich zum Beispiel wollte es nicht. «Und schon begann sie, sich zu überhaspeln. Erst lehnte sie ihren Kopf gegen meinen und flüsterte, aber nach wenigen Worten gab sie das Flüstern auf, dafür erhöhte sich die Geschwindigkeit ihrer Rede, und am Ende war sie schneller als ein Capriccio von Paganini.»Ich würde gern eine Ausstellung über Wien während des Kalten Krieges organisieren. Über die Spione. Die sind sich zu dieser Zeit in der Kärntnerstraße g-g-gegenseitig auf die Füße getreten, so viele waren es. In Wahrheit war nämlich hier, in Wien, der Fokus der Weltpolitik, nicht in Washington oder Moskau oder London oder Genf oder Berlin. Und Jimmy ging zum Regenbogen. Ich habe mir die Nummer vom Simmel besorgt. Bis jetzt habe ich noch nicht bei ihm angerufen. Ich wollte erst mit dir darüber sprechen. Er wäre ein sicherer Programmpunkt. Ich denke, das könnte eine Ausstellung werden, die sehr stark von Veranstaltungen begleitet wird. Man könnte auch sagen, es wird eine Veranstaltungsreihe, zu der parallel eine Ausstellung zu sehen ist. Was hältst du davon? Den Simmelabend müßte man irgendwie zu einer großen Würdigung ausbauen. Daß die Stadt den Mann irgendwie groß würdigt. Wäre eh fällig. Im Museum könnte der Roman von Alpha bis Omega in einer Marathonlesung mit mehreren Schauspielern vorgelesen werden. Außerdem eine Gesprächsrunde, zum Beispiel auf der Bühne des Burgtheaters: ein alter ehemaliger amerikanischer Spion, ein alter ehemaliger sowjetischer Spion, ein alter ehemaliger britischer Spion, natürlich ein deutscher, über Lautsprecher hört man die Übersetzungen. Super wäre es, wenn der Peter Huemer die Gesprächsleitung übernehmen würde. Den könntest du fragen.«
«Wie geht’s Pnini?«fragte ich nach einer Pause, die sie nötig hatte, um sich von ihrem Gewitter zu erholen.
«Sie ist schwanger«, flüsterte sie.»Sie klettert über den Balkon auf die Dächer. So ist es passiert, denke ich. Wenn du ein kleines Kätzchen willst, melde dich bei mir an. Es würde dich weniger hart sein lassen.«
Sie drehte sich mit einem Ruck von mir weg und ging zu David, hockte sich neben ihn, legte ihren Arm um seine Hüfte und sprach nahe an seinem Ohr auf ihn ein. Er strahlte sie an und nickte und schnippte den Tschick in meine Richtung, ohne in meine Richtung zu sehen.
Sie rief:»Er ist einverstanden, daß ihr heute abend zu mir zum Essen kommt.«
Sie ging davon, schritt dahin, die Urwaldkönigin, die es in die Großstadt verschlagen hatte.
«Das ist schon okay«, sagte David.»Hat ja niemand erwartet, daß du zölibatär lebst. «Aber ich meinte, er meine damit, er habe es sehr wohl erwartet, und das erfüllte mich mit einer solchen Freude, daß ich ihn umarmte und es mir in der Kehle kratzte, als ich sagte:»Ich bin sehr glücklich, daß du mich besucht hast, und sehr glücklich, daß du noch ein bißchen bleibst.«
Er klopfte meinen Rücken, wie man es bei einem Hustenanfall tut, und schob mich sanft von sich.»Ich habe gehört, daß Leute, die eine Operation hinter sich haben wie du eine, in der ersten Zeit danach leicht heulen. «Dabei sah er schräg vor sich nieder, hob eine Braue und verzog den Mund, was ebenso verlegen wie spöttisch aussah; auf jeden Fall aber sohn-echt. In einer Woge von Liebe ging mein Mißtrauen unter — woher weiß er von meiner Operation? Ich habe ihm davon nichts erzählt! — , und ich glaubte, mir vorstellen zu können, wie es gewesen wäre, wenn ich ihn in Windeln gewickelt, ihm die ersten Schritte beigebracht, einen Bienenstich an seinem Arm ausgesaugt, ihm das Schuhebinden, das Geschichtenerzählen, das Fahrradfahren gelehrt, mit ihm geübt, Klein-b und Klein-d auseinanderzuhalten, mit ihm zusammen auf die Rückgabe einer Mathearbeit gewartet und zuletzt mir seinen Liebeskummer angehört hätte.
Abends. — Kein Essen zu dritt, sondern eine Party. Was ich gar nicht mag. Deshalb hat Evelyn ja auch nicht mit mir gesprochen, sondern mit David.»Sie hat gesagt, es ist eine Party, sie könne nicht mehr absagen, aber verrate es ihm nicht, sonst kommt er nicht«, gestand er mir, als wir bereits in ihrer Wohnung waren. Ein (im Vergleich zu mir) junger Mann hatte uns die Tür geöffnet. Ich besaß zwar einen Schlüssel zu Evelyns Wohnung, aber weil ich mich so lange nicht bei ihr gemeldet hatte, wäre es mir unziemlich erschienen, einfach aufzusperren und einzutreten; obwohl ich wußte, daß sie genau das wünschte, sich jedenfalls bisher immer gewünscht hatte — weil es ihr ein Zeichen dafür war, daß wir beide zusammengehörten. Als ich nun den Mann vor mir sah — nicht wissend, daß hier eine Party stattfand —, der unrasiert war, etwas jünger als Evelyn, der schwarzes Haar hatte, das glänzte wie das ihre, und einen mediterranen Teint, war mein erster Gedanke, er ist ihr Bruder. Und weil ich ja wußte, daß Evelyn keine Geschwister hat, schoß es mir durch den Kopf, er könnte ihr Halbbruder sein, der sie gesucht und gefunden hatte, wie David seinen Vater gefunden hatte, und deshalb die Party. Er sprach Englisch, entschuldigte sich, er sei nur ein Gast und zufällig neben der Tür gestanden.
An die zwanzig Leute verteilten sich auf Evelyns Arbeitszimmer und Wohnzimmer. Die meisten kannte ich vom Sehen. Ich rechnete damit, daß David eine ähnliche Abneigung gegen solche Veranstaltungen hegte wie ich, zumal er ja um die Hälfte jünger war als die meisten hier. Aber so war es nicht, so schien es nicht, jedenfalls am Anfang nicht. Während ich noch im Flur stehenblieb und die Sache erst langsam angehen wollte, drückte er sich gleich zwischen den Leuten hindurch, als wäre er nicht zum erstenmal hier, Zigarette im Mundwinkel, die Hände in den Taschen seiner neuen dunkelblauen Hose. Es waren Arbeitskollegen und — kolleginnen von Evelyn und eine Studienfreundin mit ihrem Mann, der als Sportjournalist beim Fernsehen arbeitete und auch schon politische Diskussionen geleitet hatte. Auch das Ehepaar, das die Wohnung daneben bewohnte, war hier — er sehr groß und schüchtern, aber ein witziger Unterhalter im kleinen Kreis; sie, ebenfalls fast einen Kopf größer als ich, hat ein Talent, mich jederzeit mit einem abschätzigen Blick zu langanhaltendem Schweigen zu zwingen. Wenn die beiden in Urlaub fahren, kümmert sich Evelyn um ihre Pflanzen, das ist eine umfangreiche Aufgabe. Einmal waren wir gemeinsam drüben, und als wir alles erledigt hatten, legten wir uns auf den Teppich und schliefen miteinander; der Gedanke, daß wir es in einer fremden Wohnung taten, war besser gewesen als der Akt selbst.