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Ich fragte ihn, ob er nicht doch noch ein paar Tage bei mir bleiben wolle.»Wir können gemeinsam zur Beerdigung nach Innsbruck fahren.«

Das würde er gern, sagte er. Ich rief Dagmar an und erzählte ihr alles und gab den Hörer an David weiter.

Zweites Buch

Dritter Teiclass="underline" Tintendunkles Amerika

Neuntes Kapitel

1

Martin hieß der eine, Roland der andere. Martin war so alt wie ich. Die Brüder wohnten gemeinsam mit ihrer Mutter draußen bei den Feldern. Vieh besaßen sie keines mehr. Der Boden war verkauft, das Haus war ihnen geblieben. In den Giebel über dem Eingang montierten sie einen Scheinwerfer, der brannte die Nacht über, beleuchtete die Müllhalde, auf der hier gelebt wurde. Zwei Schäferhunde patrouillierten, die lagen nicht an der Kette. Mein Vater, meine Mutter und ich waren spät dazugekommen, waren Fremde aus der fernen, verhaßten Hauptstadt; mein Vater war als Choleriker bekannt, der eine unbegreifliche Musik liebte und seine Schüler im Gymnasium Volkslieder auf eine Art singen ließ, die ihn als Spötter verdächtig machte — uns gegenüber verhielt man sich im Dorf reserviert. Mit den Rottmeiers aber wollte keiner etwas zu tun haben. Die Brüder repräsentierten die Endstation eines Niedergangs, das letzte, was von einer Familie übrigbleiben konnte, das Angebrannte unten im Topf. War bei den einen das Wohl nach dem Krieg vervielfacht worden, so hatten sich Haben und Charakter der Familie Rottmeier von Generation zu Generation halbiert. Martin Rottmeier, genannt Maro, und sein Bruder Roland, von dem alle als Chucky redeten, waren endlich bei null angelangt. Jeder im Dorf hatte Angst vor den beiden. Es gab nichts mehr, was sie hätten verteidigen, nichts mehr, was sie hätten verlieren können. Um zu haben, mußten sie nehmen. Ihr Vater hatte sich erhängt. Eigentlich habe er nur so tun wollen, als hänge er sich auf. Um zu drohen. Wem er drohen wollte und warum, wußte niemand und wollte niemand wissen. Er hat den Strick im leeren Stall an den Balken gebunden, mitten in der Nacht oder früh am Morgen, hat die Schlinge um seinen Hals gelegt, sich auf einen Schemel gesetzt und gewartet. Wollte den Erhängten spielen, wenn seine Frau am Morgen das Bett neben sich leer fände und ihn suchte und die Buben weckte und die ihn im Stall entdeckten, Kopf schief, Zunge bis zum Kinn, Augen weiß, Hände wie Krallen, Beine im X. Er war besoffen, und so ist er auf dem Schemel, Hals im Strick, Schlagader abgedrückt, eingeschlafen. Hatte noch eine Zigarette zwischen den Fingern, die Glut versengte den Fingernagel. Von nun an sorgte Maro für die Familie. Obwohl er der jüngere der beiden Brüder war. Maro brachte die Volksschule hinter sich, danach handelte er mit Gebrauchtwagen. Er handelte und reparierte und war an Diebstählen beteiligt. Fuhr mit einem Kleinlaster in der Gegend herum. Auf dem Fleck Boden um das Haus drängten sich im Dreck Autos ohne Nummernschilder, lagen auf Haufen Reifen, Auspuffe, Kardanwellen, Motorblöcke. Was Chucky machte, wußte ich nicht. Es hieß, er gehe jeden Montag zu Fuß nach Feldkirch zum Bahnhof, kaufe sich den Spiegel, und den lese er auf dem Rückweg von vorne bis hinten durch, die Reklame inbegriffen.

Maro sei der brutale von den beiden. Hieß es. Ich habe nicht gesehen, wie er jemandem Gewalt angetan hat; ich habe gesehen, wie ihm Gewalt angetan wurde, Gewalt gegen Fleisch und Knochen. Bei einem Fest der Dorffeuerwehr haben ihn zwei Burschen festgehalten, und ein dritter schlug mit einem Gegenstand nach ihm. Maro war unter die Sitzbank gerutscht, er klammerte sich an das Brett, preßte seinen Kopf von unten dagegen, damit wenigstens ein Teil seines Gesichts geschützt war. Die Beine hatte er eng an den Körper gezogen. Das Hemd war ihm aus der Hose gerutscht, ich sah die weiße Haut und den Abdruck der Rückenwirbel über dem Gürtel. Aus seiner Brusttasche schaute eine Schachtel Smart Export. Sein Widersacher stand breitbeinig neben der Bank und schlug dorthin, wo er Maros Gesicht vermutete. Die beiden anderen versuchten, Maro unter der Bank hervorzuzerren. Sie hämmerten mit ihren Bierkrügen auf seine Finger, damit er das Sitzbrett loslasse, rissen an seinen Haaren und traten mit ihren Schuhen gegen Oberschenkel, Becken und Nieren. Von Maro war kein Laut zu hören; sein Peiniger aber brüllte um so lauter, er war außer sich. Maro mußte etwas Ungeheuerliches gesagt oder getan haben. Aber ich hatte nichts mitgekriegt. Ich kannte den Schläger nicht, hatte ihn nie vorher gesehen, fett, Pickel auf den Backen, groß, aus dem Dorf war er nicht. Ich meinte, er hatte so etwas wie eine Fahrradkette in der Faust. Günther Veronik, damals mein Freund, mit dem zusammen ich die Szene beobachtet hatte, behauptete hinterher, es sei ein Radmutterschlüssel gewesen. Aber warum nimmt einer einen Radmutterschlüssel oder eine Fahrradkette zu einem Feuerwehrfest mit? Wir waren bestürzt, und bis spät in die Nacht hinein saßen wir in unserer Scheune, wo mein Verstärker und meine Gitarre standen und sein E-Baß und das bißchen Schlagzeug, das wir zusammengetragen hatten. Wir haben geredet, und ich habe die Tür abgesperrt, und wir beide wußten nicht, wie wir das benennen sollten, was wir gesehen hatten, denn weder er noch ich waren je Zeuge solcher Gewalt gewesen. Günther hatte sich auf dem Weg nach Hause zweimal übergeben, und ich mußte hart an mich halten, damit ich nicht zu heulen anfing. Aber nicht vor dem Schläger und seinen Komplizen schüttelte es mich, sondern vor dem Geschlagenen, vor seinem glücklichen, bösen Blick, der mich getroffen hatte. Er hatte mich angesehen. Es bestand kein Zweifeclass="underline" Er hatte mich angesehen, mich und sonst keinen.

Eine Woche später redete er mit mir.

«Ihr habt eine Band«, sagte er.»Ich spiel mit.«

Er stand auf der Straße, gegenüber unserem Haus, lehnte am Gartenzaun des Nachbarn, Arme verschränkt, Haare hinter die Ohren gekämmt, honigblond, ein Knie angezogen. Schon mit sechzehn hatte er einen Zug um den Mund, wie ihn alte bittere Männer haben. Er trug ein Blouson aus grobem braunem Stoff, enge schwarze Hosen und spitze schwarze Halbschuhe. Keine Socken. An der Schläfe war eine Narbe zu sehen. Er war etwas kleiner als ich. — Niemand, auch kein Erwachsener, hätte sich getraut, nein zu sagen.

Ich sagte:»Was spielst du?«

Er sagte:»Keine Ahnung. Irgend etwas, und Chucky spielt Schlagzeug.«

«Wir haben bereits einen Schlagzeuger«, sagte ich.

«Dann haben wir jetzt einen neuen«, sagte er. Spuckte aus, drehte sich um, ging die Straße hinauf, vorbei am LKW-Parkplatz vom Frächter Winkler.

Ich blickte ihm nach und dachte: Ich werde mein Leben nicht mehr so führen können, wie ich es in meinen Träumen geplant hatte. Es wird kein Haus, keine Hütte, kein Loch auf der Welt geben, wo ich mich vor diesem Menschen verstecken kann. Ich werde Dinge tun, die ich nicht tun will. Ich werde in Zwänge geraten, wie ich sie mir heute nicht vorstellen kann. Ich werde alles verlernen. Das Beste vergessen. Das Liebste verlieren.

2

Nofels ist der Name des Dorfes. Es liegt am Rhein, auf der anderen Seite ist Schweiz. Hier endeten die Straßen. Zum Bahnhof der Stadt Feldkirch mußte man mit dem Bus fahren. Oder eine Stunde zu Fuß gehen. Es gab einen Lebensmittelladen, eine Metzgerei, drei Gasthäuser, Kirche mit Friedhof. — Als ich noch nicht ganz fünfzehn war, zog unsere Familie von Wien nach Vorarlberg. Carl hatte meinem Vater in Rekordzeit einen Job vermittelt — als Musiklehrer am Gymnasium in Feldkirch. Er meinte, damit die endgültige Katastrophe abgewendet zu haben.