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Carclass="underline" »Ich hatte ihn wegen seines Amerikajahres aus den Augen und auch, ich weiß das, aus dem Sinn verloren und war deshalb ungeübt im Umgang mit ihm. Sonst hätte ich wohl gemerkt, daß sein Entschluß, sich an mich zu wenden, für ihn der letzte Ausweg war, aus dieser Sache herauszukommen.«

«Du meinst, er hat gehofft, du sagst nein?«

«Ja, das meine ich. Er war endlich auch in seinem Kopf in Wien angekommen, und die amerikanischen Träume hatten sich verduftet. Aber er hatte bereits den Mund zu weit aufgemacht. Vor allem dir gegenüber. Das war für ihn die schlimmste Vorstellung: daß er seinen Sohn enttäuschen könnte.«

«Meine Mutter hat es ähnlich gesehen.«

«Hat sie das zu dir gesagt?«

«Ja. Nach seinem Tod. Auf unserem langen Spaziergang. Er habe sich am Ende seines Lebens so viel vorgeworfen. Weil er geglaubt habe, ich sei immer nur enttäuscht von ihm gewesen.«

«Das war nicht fair von Agnes, daß sie das zu dir gesagt hat. Nach seinem Tod.«

«Fair sicher nicht, aber vielleicht die Wahrheit.«

Die Wahrheit lautete: Mein Vater hatte das Interesse am Jazz verloren. Wahrscheinlich war er sich dessen gar nicht bewußt. So viele Einflüsse hatte er in Amerika in sich aufgenommen, die schwirrten alle durch seinen Kopf und durch sein Herz. Nicht nur mir gegenüber hatte er ein schlechtes Gewissen, vor allem seiner Musik gegenüber. Im magischen Weltbild meines Vaters anthropomorphisierte sich jedes Ding, wenn er erst eine Weile damit Umgang gehabt hatte, jedes Ding, jede Idee, jede Gewohnheit. Er ging einen bestimmten Weg, nahm eine bestimmte Straßenbahn, kehrte in einem bestimmten Kaffeehaus ein, trug Schuhe, Hosen, Jacken, Hemden bis zu ihrem Zerfall — warum? Weil bei einem Wechsel der Weg, die Straßenbahn, das Kaffeehaus, die Schuhe, die Hose, die Jacke, das Hemd gekränkt sein könnten. Er hatte schon einmal musikalischen Verrat begangen, nämlich an der Schrammelmusik seines Vaters; das hatte ihm lange zu schaffen gemacht. Und nun, das spürte er, kündigte sich ein neuer Verrat in ihm an: am Jazz. Er erzählte uns von so vielen Musikern, denen er in New York und auch während der Tournee mit Chet Baker begegnet war, mit denen er gesprochen, mit denen er gespielt, die er gehört hatte, deren Eigenarten nachzuahmen er auf der Gitarre versucht hatte, ob es sich um Joe Pass, den Zauberer auf der Gitarre, oder um Spieler auf anderen Feldern wie die verschollene Bluessängerin Memphis Minnie, die jeden Ton am Ende umstülpte, oder den Schlagzeuger Art Blakey oder um Thelonius Monk handelte.

Carclass="underline" »Er war enttäuscht von denen allen. Tief in seinem Herzen war er enttäuscht, daß er mit ihnen mithalten konnte. Er hatte erwartet, daß sie größer wären. Daß sie für ihn unerreichbar wären. Nun konnte er nicht nur mithalten mit ihnen, vielleicht war er sogar besser. Es war so, wie ich es ihm von allem Anfang an gesagt hatte. Nun hatte er es erlebt: Er gehörte zu den Besten. Damit hatte diese Musik für ihn jedes Hoffen und Bangen verloren. Sie bot nicht einmal Anlaß für seine Eifersucht. Sie ließ keinen Platz für den Traum. Dein Vater zählte sich nicht zu jenen Glücklichen, denen sich ein Traum erfüllt. Ergo: Wenn sich doch einer erfüllte, dann war er es nicht wert gewesen, geträumt zu werden.«

Aber wie sollte er es seinen Freunden — Phillip Mayer, Adi Kochol, Edwin Niedermeyer, Hans Koller, Art Farmer, Jacques Trutz, dem Pianisten aus der ersten Zeit —, die ihm ja alle durch die Bank seinen Erfolg gönnten, wie sollte er es uns, seiner Frau und seinem Sohn, die wir so lange von ihm getrennt waren, wie sollte er es Carl, seinem Förderer und obersten Anhimmler, erklären, daß ihn, der gerade von einer Tournee mit Chet Baker, dessen Name» in Fachkreisen «nur mit Ehrfurcht ausgesprochen wurde, zurückkam, nun diese Musik langweilte? Um vor den Mächten, die ihn umschwirrten und bedrängten, zu verbergen, daß er nun schon wieder im Begriff war, ihr Geschenk zurückzuweisen, nämlich sein Talent, auferlegte er sich eine Mission: Zum zweitenmal sollte dieser Stadt der Jazz gebracht werden. Was beim erstenmal die 5. Armee der Vereinigten Staaten von Amerika nur für die Zeit ihrer Anwesenheit zustande gebracht hatte, sollte nun ein kleiner Mann mit Kraushaar und Bartschatten, ein ehemaliger Schrammelcontragitarrist aus Hernals, für immer hier verfestigen. — Die Sache ging schlecht aus. Nach einem Jahr war der Club bankrott. Mein Vater nahm die Meldung entgegen wie die Radionachrichten über einen Wechsel an der Spitze des Europarates in Straßburg. Arnold lehnte an unserem Kühlschrank und schluchzte. Mein Vater saß mit verschränkten Armen auf dem Sessel, hatte die Beine von sich gestreckt und sagte nichts. Ein wenig ungeduldig war er; als warte er, bis Arnold endlich mit seiner (!) Sache fertig sei, damit man sich wieder anderem zuwenden könne, das es wert war, daß man sich ihm zuwandte. Ich hatte mit Schreierei und einer Explosion aus Selbstvorwürfen und Beschuldigungen gerechnet, mit Umbringenwollen und Drohungen, sich die Griffhand in den Scharnieren der Küchentür zu brechen (war eine Zeitlang seine Lieblingsmethode gewesen, alle zum Schweigen zu bringen). Mit dieser Kaltblütigkeit nun konnte ich nicht umgehen. Meine Mutter ebenfalls nicht. Sie schien uns gefährlicher als alle seine bekannten Verrücktheiten zusammen. Meine Mutter lief hinüber zum Lammel und telefonierte mit Carl. Margarida und er kamen gleich am nächsten Tag mit dem Zug aus Innsbruck. Auch ihnen war die Ruhe meines Vaters unheimlich.

Carclass="underline" »Erst später wurde mir klar, daß sich Georg nichts anderes gewünscht hatte, als daß dieses Projekt scheitere. Nun war er reingewaschen. Er hatte für den Jazz getan, was er konnte. Dagegen hatte der Jazz ihm und seiner Familie nur Schaden zugefügt. Wenn er sich von ihm abwandte, waren sie beide quitt — er und der Jazz.«

Er, Carl, hatte für meinen Vater getan, was er konnte, sogar noch mehr; mein Vater hatte ihm einen großen finanziellen Schaden zugefügt. Heute denke ich, daß ihn das Scheitern dieses unsinnigen Projekts — unsinnig, weil es von den denkbar ungeeignetsten Personen betrieben wurde — das einzige Mal in seiner Loyalität meinem Vater gegenüber hatte wankend werden lassen. Ohne vorher mit uns darüber zu sprechen, organisierte er diesen Job als Musiklehrer am Gymnasium in Feldkirch. Und es war nicht ein Vorschlag, den er meinem Vater unterbreitete, sondern eigentlich ein Befehl. Im Kamelhaarmantel saß er in der Küche, er zog ihn nicht aus, dazu trug er zweifarbige Schuhe, die mir fremd erschienen und wie ein Zeichen, daß er sich von uns abgewandt hatte. Meine Mutter schüttelte den Kopf, den ganzen Abend über schüttelte sie den Kopf, es war wie ein Zittern, und ihre Augen schwammen. Sie glaubte, mein Vater, der Lehrer, würde eine noch größere Bescherung abgeben als mein Vater, der Lokalbesitzer, und sie gab sich alle Mühe, die in ihr tobende Panik nicht nach außen dringen zu lassen. Und ich war auf ihrer Seite. — In den Schulferien 1965 packten wir zusammen und zogen nach Westen.

Zwei Wohnungen standen zur Auswahclass="underline" eine mitten in Feldkirch, zwei Minuten zu Fuß zum Gymnasium, klein, nicht gerade billig, aber in der Stadt und mit Zentralheizung; und: ein Bauernhaus in dem Dorf Nofels, bestehend aus einer leergeräumten Scheune, einem leergeräumten, frisch verputzten und gekalkten Stall, vier engen Zimmern aus gemütlichem Holz, einer mächtig großen Küche, um deren Tisch bequem zwölf Leute Platz hatten, und einem Wohnzimmer. In letzterem, vom Vermieter» Stube «genannt, stand ein Kachelofen. Die Küche wurde mit dem Herd geheizt, der Rest des Hauses durch geöffnete Türen. Meine Mutter war für die Wohnung in der Stadt. Mein Vater nahm das Haus auf dem Dorf. Mir gefiel es in Nofels. Gleich am ersten Tag nach unserer Ankunft machte ich allein einen langen Spaziergang. Die Straßen konnte man blind und taub überqueren, so selten fuhr ein Auto. Hier war ein Fluß, den zu beiden Seiten Auwälder säumten. Der Fluß schäumte über gemauerte Stiegen in einen anderen Fluß. Das gefiel mir. Ich mußte nicht wissen, wie die Flüsse hießen. Ich hatte nicht vor, auch nur einen einzigen Menschen näher kennenzulernen. Ich liebte es, allein zu sein und spazierenzugehen. Für beides gab es in diesem Dorf viel Gelegenheit.