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Morgens um Viertel nach sieben stiegen mein Vater und ich in den Bus, der uns zur Schule brachte, mittags fuhren wir gemeinsam nach Hause. Wider alle Erwartungen fand mein Vater von Anfang an großen Gefallen an seiner neuen Arbeit. Er war glücklich, und darum war dies eine glückliche Zeit für unsere Familie. Meine Mutter bekam eine Stelle bei der Arbeiterkammer, und ihre Arbeit war ähnlich wie in Wien beim ÖGB. Was das genau war, wußte ich wieder nicht. Ich habe sie nie so oft lachen sehen wie damals. Sie richtete sich her, sah jünger aus, trug bisweilen eine lindgrüne schulterfreie Bluse, die so eng anlag, daß sich der BH-Verschluß am Rücken abzeichnete, und in der sie auf mich wirkte, als wäre sie schon einmal auf Hawaii gewesen, dazu einen gerüschten steifen Rock und hohe Stöckelschuhe. Die steckte sie in ihre Handtasche, wenn sie mit meinem Vater manchmal abends den langen Weg zu Fuß in die Stadt ging. Unter dem Churer Tor zog sie sie an. Sie spazierten die Marktstraße hinauf und durch den Gymnasiumshof und über die Neustadt hinunter zum Dom und beim Katzenturm wieder in die Marktstraße, wo sie im Gasthaus Lingg, dem besten am Ort, ein Entrecôte Café de Paris aßen und wo es nicht selten vorkam, daß jemand an ihren Tisch trat und zu meinem Vater sagte, der Sohn oder die Tochter sei begeistert von seinem Musikunterricht.

Mein Vater nahm seine Arbeit sehr ernst, euphorisch ernst. Er war der einzige Musiklehrer an der Schule, und er unterrichtete alle Klassen. Bei den Schülern war er bereits nach wenigen Wochen beliebt wie kein anderer Lehrer. Er spielte ihnen auf der Gitarre vor oder auf dem Klavier, erzählte ihnen so spannend vom Zusammenwirken der Klänge, als wär’s ein Spiel mit Detektiven, Banditen und Leichen. Er sprach über die Beatles, verkündete, daß die Band, als er selbst in den Staaten gewesen sei, sieben Plätze unter den ersten zehn in der amerikanischen Hitparade belegt hätte und daß er und Chet einige Nummern von ihnen für Trompete und Gitarre arrangiert hätten; er setzte sich ins Gegenteil der meisten Schülereltern, indem er nicht nur zugestand, dies sei Musik, sondern sogar behauptete, dies sei unvergleichlich schöne Musik,»geniale Musik«,»unfaßbar geniale Musik«,»unglaublich unfaßbar geniale Musik«,»nicht kleiner als Schubert oder Johann Strauß oder Duke Ellington oder Charlie Parker«. Er versicherte seinen Schülern, diese Musik sei allein für sie komponiert worden. Er besorgte auf eigene Kosten einen Plattenspieler und kaufte stoßweise Singles: A Hard Day’s Night, I Want To Hold Your Hand, She Loves You, All My Loving, I Feel Fine, Eight Days A Week … Man hörte seine Begeisterung durch das Schulgebäude dröhnen, vom Physiksaal im Erdgeschoß bis hinauf zum Zeichensaal. Er gab Gitarrestunden für ein Drittel des Honorars, das ihm in Wien geboten worden war, die Schüler rannten uns die Scheune ein; er notierte die Akkorde sämtlicher Beatles-Songs, klopfte sie auf Matrize, vervielfältigte sie und verteilte sie in der großen Pause im Schulhof.

Er gründete einen Chor. Von Anfang an gab er sich nicht mit Leichtem ab. Er studierte mit den Burschen und Mädchen in stundenlangen Proben Jazzstandards ein — wie I Got Rhythm von George und Ira Gershwin oder Georgia On My Mind von Hoagy Carmichael; Beatles-Songs gehörten zum Repertoire und — Vorarlberger Volkslieder. Er konnte kein Wort im Vorarlberger Dialekt sprechen, verstand nur wenig, bemühte sich auch nicht darum.»Zusammen mit Musik wird jeder Text zu bla-bla oder yeah-yeah, es ist sogar ein Vorteil, wenn man nicht versteht, was gesungen wird«, war seine Meinung. Er verwandelte biedere Volksweisen in aufreizende Nummern. Meine Mutter sagte, dies sei die schönste Musik, die sie in ihrem Leben gehört habe. Der eine oder andere Schülervater, die eine oder andere Schülermutter fragten, ob sie im Chor mitsingen dürften. Mein Vater nahm jeden auf, der mitmachen wollte, er fragte nicht nach musikalischen Qualitäten welcher Art auch immer; ihn interessierte die Verschiedenheit von Stimmen und nicht ihr Belcanto. Er war glücklich. Geprobt wurde in unserer Scheune. Auf der Gitarre spielte er nur noch selten.

Ich sang übrigens nicht in seinem Chor mit. Was ihm, denke ich, sogar lieber war. Ich wollte Musik machen wie die Beatles, aber ich wollte nicht mithelfen, fünf- bis sechsstimmig nachzusingen, was sie zwei- bis dreistimmig vorgesungen hatten. Zu meinem sechzehnten Geburtstag schenkte mir mein Vater einen Verstärker und eine elektrische Gitarre — eine gebrauchte, die er günstig von einem Wiener Freund erstanden hatte. (Fender Telecaster, Baujahr 58. Heutiger Sammlerpreis: etwa die Größenordnung eines Mittelklassewagens. Ich besitze sie selbstverständlich immer noch.) Mein Vater habe sich von der Gitarre verabschiedet, urteilte Carl, er habe sozusagen die Verantwortung für dieses Instrument an mich, seinen Sohn, weitergegeben. Bestimmt neigte Carl nicht zu Archaisierungen, und ich neige ebenfalls nicht dazu — in diesem Fall, denke ich, trifft sein Urteil zu. Seit meiner Kindheit hatte ich auf Gitarren und ähnlichen Gebilden herumgeklimpert. Auf der Ukulele war ich nicht schlecht gewesen. Aber Ukulele geht einem bald auf die Nerven, und sie gibt wenig her, weder was den Klang betrifft noch in bezug auf das Ansehen, das sie einem in der Welt verschafft. Auch auf der Mandoline habe ich mich durchaus mit Erfolg versucht, ebenso auf dem sechssaitigen Banjo (den Klang dieses Instruments haßte meine Mutter, ich kann es ihr nicht verdenken). Später hatte ich auf den Gitarren meines Vaters gespielt. Wir waren oft in unserer Küche in der Penzingerstraße gesessen, und ich hatte ihn begleitet, indem ich im Django-Rhythmus drei verminderte Septakkorde hinauf- und hinunterrutschte, während er seine Soli dazwischensetzte. Ich sei eine Rhythmusmaschine, jubelte er. Er hat mich auch zu eigenen Kompositionen animiert, und manchmal habe ich den Part der Lead-Gitarre übernommen, und er,»einer der besten Gitarristen der Welt«, ist mein dienender Begleiter gewesen. Nun, die bissige, bockige Telecaster am Riemen, stellte auch ich eine Band zusammen, und es gab keinen Beat-Gitarristen in einem Umkreis von fünfzig Kilometern, der, wäre er auf meiner Schulter gesessen, mir auch nur bis zum Kinn gereicht hätte.

Und eines Nachmittags stand Martin Rottmeier vor unserem Haus …

3

Alles hat etwas zu bedeuten, soviel wußte ich; aber ich verstand nicht bei allem, was es bedeutete. Was zum Beispiel hatte das Spucken zu bedeuten, dieses feine Spucken, fast ohne Speichel, das mehr ein Wegblasen eines Krümels oder einer Wimper von den Lippen war? Was hatte es zu bedeuten, daß er sich umdrehte und ohne weitere Anweisungen an mich ging? Hieß das, ich solle ihm folgen? Oder mich in den nächsten Tagen bei ihm melden? Oder warten, bis er sich bei mir meldete? Er hatte einen wiegenden Gang, als würde er alten Swingnummern lauschen; aber er kannte keine alten Swingnummern. Seine Hände steckten in den Taschen seines Lumberjacks, der die Farbe verdreckten Efeus hatte; sein Nacken bewegte sich im selben Rhythmus vor und zurück wie seine Hüften hin und her. Die blonden, fettigen Haare ließen sich nur schwer bändigen, einige Locken sprangen aus der Frisur und wippten synkopisch zur Bewegung des Kopfes und des Körpers. Ich fürchtete mich vor diesem Burschen; aber ich blickte ihm gern nach — wie er unter dem hohen, blassen Frühsommerhimmel dahinschritt, an unserem zusammengenagelten Bretterzaun entlang, über den Asphalt, dessen Staub noch vom Gewitterregen der Nacht schraffiert war. Als wäre alles Irdische auf ihn abgestimmt, auf ihn, der unbeeindruckbar war wie die Dinge, an die er anstreifte. Der in mir das ärgerliche Bedürfnis erzeugte, mich für ihn zu schämen. Dem jedes Nachdenken über sich selbst wider die Natur zu gehen schien. Der elend war, sich aber nicht elend machte. Der Motoren und Regenrinnen reparierte, ohne sich um den Nutzen oder die Benutzer zu scheren. Der sich über die Wunden, die ihm geschlagen wurden, mehr freute als die, die sie ihm schlugen. Wir anderen, wir bemühten uns und waren erfolgreich; er würde immer ohne Widerhall sein, aber auch ohne Beschwer. Wenn man auf seinen Rücken blickte, war es, als würde er aus dem Land gehen; wenn er auf einen zukam, war es, als hätte er einen weiten Weg hinter sich. Und ich dachte, er wird mir vielleicht das Leben ruinieren, aber er wird wunderbar in meine Band passen, er wird meiner Band erst das richtige Image geben: Hier wird nicht gute, hier wird gefährliche Musik gemacht, eine Musik, die sogar der verrückte Herr Lukasser nicht tolerieren will.