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Ich wollte keine Verantwortung für unsere Familie mehr tragen, wollte nicht mehr voraus- und schon gar nicht mehr zurückblicken. Wollte mich in Zukunft um nichts mehr scheißen und mich bloß noch in dem Revier herumtreiben, das von dem brutalen Gitarrenriff in I Can’t Get No Satisfaction, dem polternd abstürzenden Baß in 19th Nervous Breakdown und der unerhörten Stimme von Mick Jagger ausgesteckt worden war. Ich wollte mies sein dürfen. Under my thumb / The girl who once had me down / Under my thumb / The girl who once pushed me around // It’s down to me / The difference in the clothes she wears / Down to me, the change has come / She’s under my thumb. Wenigstens ein bißchen mies. Die Beatles sollte mein Vater bekommen, die Rolling Stones waren für mich. Ich hatte mich gegen die Klischees meiner Generation gestemmt, ohne Applaus, von welcher Seite auch immer; jetzt wollte ich loslassen und einsinken in diesen süßen Brei aus Rebellion und Unterwerfung, Verweigerung und Hosenmode. Was mich einzig dabei störte, war, daß ich wußte, es handelte sich um einen süßen Brei. Seit ich einen klaren Gedanken fassen konnte, war ich in unserer Familie der ruhige Pol gewesen, der Flageolettpunkt, der Beschwichtiger, der Schiedsrichter, der Versöhner, der Launenglätter, der Vermittler-Aufrüttler-Aufheiterer-Aufheller, der Ernüchterer, der Mutmacher, der Friedenstifter, der Lober, der Anti-Schwarzseher, der Ruhegeber und Ruhehalter, der Sich-Freuende, wenn Freude erwartet wurde, der Tröster, wenn Trost erwartet wurde, der die Zähne zusammenbiß, wenn erwartet wurde, daß einer die Zähne zusammenbeißt —; ich war allein gelassen in allem; stets war ich einer Sorge ausgeliefert, die sich nicht bändigen ließ. Ich wunderte mich, woher ich in diesen Jahren die Kraft und die Zuversicht genommen hatte und dazu den Glauben, das habe alles einen Sinn.

Von weit her war eine Kreissäge zu hören — wenn sie ins Holz schnitt, kreischte sie kurz auf und hielt gleich wieder konstant und verläßlich ihren Ton, als wollte sie allen anderen Geräuschen im weiten Umkreis Gelegenheit geben, ihre Stimmung aufzunehmen. Die Mostbirnenbäume, die in der Wiese neben und hinter unserem Haus wuchsen, prunkten in ihrer Blüte, das Gras um sie herum war frisch gemäht und leuchtete in einem hellen, gedunsenen Grün. Mitten über die Wiese war eine Wäscheleine gespannt von einem Baumstamm zum nächsten und weiter zum übernächsten. Leintücher und Tischtücher hingen daran, die einen weiß, die anderen mit rotaufgestickten Kreisen. Die Sachen gehörten zu dem Gasthaus mit dem merkwürdigen Namen Matschels auf der anderen Seite der Wiese. Ein Mädchen aus der Parallelklasse gefiel mir, und es war ein bißchen aufregend, mit ihr in der großen Pause unter den Arkaden beim Marktplatz zu stehen und in eine Käsesemmel zu beißen, aber inzwischen ging sie mir doch eher auf die Nerven, weil sie vor den anderen unbedingt so tun wollte, als müßten wir zwei gar nichts miteinander reden und verstünden uns trotzdem. So wurde schon zu Hause getan, auch mein Bedarf an Schweigen war gedeckt. Mit Maro hätte ich mich wirklich gern unterhalten und hätte ihm wirklich gern zugehört. Von welchen Dingen aber sollte er mir erzählen? Von seinen Motoren? Seinen schrägen Geschäften? Den Faustschlägen, die er abbekommen, die er ausgeteilt hatte? Seinen Familienangelegenheiten? Und worüber sollte ich mit ihm reden? Ich hatte gerade begonnen, mich ernsthaft für Literatur zu interessieren. Ich besorgte mir wöchentlich Bücher aus der Leihbibliothek der Arbeiterkammer, setzte mich an den Nachmittagen im Auwald auf eine Lichtung, den Rücken an den harzigen Stamm einer Föhre gelehnt, und las mich ins Schlaraffenland menschlicher Einbildungskraft; hatte Dostojewskis Raskolnikow verschlungen und Die Dämonen und Der Idiot und Erniedrigte und Beleidigte und von Camus Der Fremde und Die Pest und (zum erstenmal) John Dos Passos’ Manhattan Transfer und von Joseph Conrad Herz der Finsternis und Lord Jim und Nostromo und Mit den Augen des Westens und alles, was es von Jack London gab; und war in John Steinbecks Früchte des Zorns auf Seite 107, wo Tom Joad und seine Familie ihre Sachen aussortieren und das Beste auf den Laster laden, um nach Kalifornien zu fahren, wo sie ein neues Leben beginnen wollen, und ihnen das Herz weh tut bei jedem Stück, das sie zurücklassen müssen, und wo es heißt: Wie sollen wir leben ohne unser Leben? Woher sollen wir wissen, daß wir’s sind — ohne unsere Vergangenheit? Nein. Laß es da. Verbrenn’s. War das nicht unheimlich? Aber es war wunderbar! Das Buch kommentierte mein eigenes Leben! Mir war, als würde ich in die Bücher hineinsteigen und alles, was mir dort etwas bedeutete, mitnehmen in mein Leben, ein literarischer Freibeuter war ich. Ich konnte mir Maro leicht als Helden in einem dieser Romane denken; aber mit ihm über diese Romane reden, das ging nicht. Nein, das würde nicht gehen. Konnte er überhaupt lesen und schreiben? Man erzählte sich, er sei mit zwölf Jahren eines Tages nicht mehr in der Schule erschienen. Weder der Lehrer noch der Direktor hätten etwas unternommen. Bei einem Rottmeier ist es wurscht, ob er zur Schule geht oder nicht. Ich wollte nicht so sein wie Maro, bestimmt nicht. Ich wollte nicht die Lücken haben rechts und links von den oberen Eckzähnen, nicht die flaumigen Wangen, nicht die roten verfrorenen Hände, nicht diese Augen wie Messer, nicht seine leere Zukunft, auch nicht die Anmut seines Lächelns, denn ich mißtraute diesem jähen Ausbruch von Schönheit, seine Stimme hätte ich gern gehabt, die ordinär und schrammig war wie eine Rock’n’Roll-Nummer ohne Gitarre-Schlagzeug-Baß; aber ich wollte, daß alle anderen in mir sähen, was ich in ihm sah. Auch wenn er Vorarlberg nie verlassen hatte, ja kaum einmal aus dem Dorf hinausgekommen war — furchtlos, auf niemanden angewiesen, vor der Welt geschützt durch die eigene Regungslosigkeit, eine freie Persönlichkeit mit großartigen Möglichkeiten zur Selbstzerstörung. In seiner Gegenwart, dachte ich, wird, wie Jack London in seinem Abenteuer am Schienenstrang schreibt,»das Unmögliche zum Ereignis und das Unerwartete springt bei jeder Wegbiegung aus den Büschen«. Ich hatte bis dahin nie vor mir selbst zugegeben, so etwas wie Ausweglosigkeit zu empfinden, und obwohl ich nicht einmal hätte sagen können, worin denn das Ausweglose an meiner Existenz bestehen könnte, fühlte ich in den Sekunden, als ich Maro nachblickte, wie er an den Schnauzen der Lastwagen des Frächters Winkler vorbeiging, daß mit diesem Wort das Leben meiner Familie auf den richtigen Begriff gebracht war.

Ich sprach mit Günther Veronik.»Es ist ein Zufall, daß er zu mir gekommen ist«, sagte ich.»Er hätte auch zu einem von euch kommen können. Er ist zu mir gekommen, weil unser Haus am nächsten bei den Feldern steht. «Ich wußte, das stimmte nicht. Maro hatte nur mich gemeint. Er wollte mit mir Musik machen und mit sonst keinem. Günther verlor mit einem Schlag jedes Interesse an der Band. Mit einem Rottmeier wollte er nichts zu tun haben. Und ich wußte, auch unser Schlagzeuger wollte mit einem Rottmeier nichts zu tun haben und auch unser Rhythmusgitarrist nicht. Das war mir recht. Es war meine Band. Und wir würden meine Musik machen, und zwar in einer Besetzung wie Cream. Maro = Jack Bruce = Baß. Ich = Eric Clapton = Lead-Gitarre. Chucky = Ginger Baker = Schlagzeug.