Zehntes Kapitel
1
Maybelle stammte aus Montgomery, Alabama, sie war das zweitjüngste von acht Kindern.»Ich bin von einem Freund des großen Dr. Martin Luther King entdeckt worden«, sagte sie und verdrehte dabei die Augen, als wäre sie der Star, der mir, dem x-ten Reporter, erzählte, was jeder im Land bereits wußte.»Er hieß Michael Jeremias Vincenc und hielt sich für eine Reinkarnation von Aaron, dem Bruder des Mose, und führte sich dementsprechend auf wie der Agent des Stellvertreters Gottes auf Erden. «Er habe ihre Eltern sowohl auf die schöne Singstimme als auch auf die Intelligenz der Tochter aufmerksam gemacht und ihnen angeboten zu helfen. Er wolle» alle Protektion aktivieren, über die ich verfüge«(Zitat M.J.V.), damit Maybelle auf eine bessere Schule als die Industrial School of Girls komme und später nicht auf die Booker T. Washington High School angewiesen sei, deren Zeugnisse für eine Karriere einmal genausoviel wert sein würden wie das Einwickelpapier der Pausenbrote.»Allerdings reichte alle Protektion, über die er verfügte, nicht aus, um ein schwarzes Mädchen auf eine weiße Schule zu schicken. «Als sich Mr. Vincenc einer größeren Aufgabe zuwandte, nämlich der Organisierung des berühmten Montgomery Bus Boykott, und sich neben Rosa Lee Parks logischerweise nicht auch noch um ein weiteres Schicksal kümmern konnte, gewährte er Maybelle immerhin freien Zutritt zu seiner privaten Bibliothek; was sie ausgiebig nutzte — bis er sie rausschmiß, weil sie, wie er behauptete, eine Biographie über Harriet Beecher Stowe geklaut habe. Maybelle:»Habe ich aber nicht. Ich habe das Buch mit nach Hause genommen, weil ich mich in einem fremden Zimmer nicht so laut zu ärgern getraute, wie ich es wollte. Ich hätte es selbstverständlich zurückgegeben. «Mit Zwanzig heiratete sie Lawrence Houston (spricht sich aus wie der Stadtteil von New York —»Hausten«— und nicht wie die Stadt in Texas —»Justen«), der in der Dexter Avenue, gleich gegenüber der Baptist Church wohnte, in der Dr. King predigte. Lawrence war fast auf den Tag genau gleich alt wie Maybelle; er war der Sohn eines radikalen Funktionärs der Brotherhood of Sleeping Car Porters — so nannte sich eine schwarze Teilorganisation der Eisenbahnergewerkschaft; und der wollte, daß sein Sohn etwas Ähnliches werde wie er, denn er hatte gar nichts für Basketball übrig und noch weniger für die Idee seines Sohnes, dieses Spiel zu seinem Beruf zu machen — mit dem Traumziel, eines Tages in das Team der Boston Celtics oder der Philadelphia Warriors oder der New York Knicks oder der Syracuse Nationals aufgenommen zu werden. Lawrence drängte Maybelle, mit ihm in den Norden zu ziehen; erst suchten sie ihr Glück in Washington, später in Baltimore und in Philadelphia, ehe sie sich in New York niederließen, wo Lawrence — traurigerweise durch Intervention seines Vaters — eine Stelle bei der Long Island Rail Road in Queens bekam. Maybelle brachte eine Tochter zur Welt, Becky. Bald darauf geriet Lawrence beim Verschieben zwischen zwei Waggons. Er starb, ehe die Ambulanz zur Stelle war. Maybelle zog mit einer Frau zusammen, die Mariana hieß und als Kind mit ihren Eltern aus Puerto Rico nach New York gekommen war und die auch eine kleine Tochter hatte, um die sie sich allein sorgte. Mariana vermittelte Maybelle einen Job in einer Bäckerei in Greenpoint, wo sie eben erst gekündigt hatte, weil ihr etwas Besseres in einer Großküche der Roy-Stimson-Stiftung an der Queens Plaza angeboten worden war. Nun fuhr Maybelle jeden Morgen um drei mit dem Fahrrad zu ihrer Arbeit, mittags war sie fertig und löste Mariana bei den Kindern und am Herd ab. Maybelle wollte keine feste Beziehung mehr eingehen, mit ihren Liebhabern traf sie sich in deren Wohnungen oder, wenn es dort nicht günstig war und sie Geld übrig hatten, in Hotels. Als Becky sechzehn war, stellte sie ihrer Mutter einen Mann vor, der war zwanzig Jahre älter als sie — also gerade ein Jahr jünger als Maybelle —, den wollte sie heiraten. Er hieß Gil Clancy, betrieb einen Boxclub in der Myrtle Avenue im Süden von Williamsburg und war Manager und Trainer einiger bekannter Boxer, zum Beispiel des Halbschwergewichts Horace Hal Carrol oder des Superleichtgewichts Adolph Pruitt. Maybelle verhörte Gil eine Stunde lang, endlich sagte sie:»Wenn du Becky haben willst, mußt du mich mit dazu nehmen. «Gil war einverstanden, und so gab sie den Job bei der Bäckerei, in der sie sich wohl gefühlt hatte, auf und übersiedelte mit ihrer Tochter und ihren Siebensachen von Queens nach Brooklyn. Das Zusammenleben mit ihrem Schwiegersohn habe sich von Anfang an praktisch und harmonisch gestaltet, Konflikte habe es so gut wie nie gegeben, vor allem auch deshalb nicht, weil sie ein Zimmer mit eigenem Eingang bewohnte. Maybelle arbeitete die Steuererklärungen aus, schrieb Rechnungen und bezahlte Rechnungen und verwaltete die Kasse des Boxclubs; außerdem organisierte sie den Trainingsplan der Boxer, die sich den Ring im Erdgeschoß und im ersten Stock teilten und die drei Räume im Keller, wo die Hantelbänke standen und der Butterfly und die Bizeps- und die Trizepsmaschinen und wo die Punchingballs und die Sandsäcke von der Decke hingen; und sie kümmerte sich obendrein um die Öffentlichkeitsarbeit, was die Journalisten mehr als nur verwunderte, aber auch ihre Ohren spitzte, denn so etwas hatte es noch nie gegeben: daß sich eine Frau um die Belange von Boxern kümmerte. Der erste Kampf, zu dem sie ihr Schwiegersohn mitnahm, war ein nicht angemeldeter Halbschwergewichtskampf, er fand in einer ehemaligen Turnhalle statt, die zum Teil unter der aufsteigenden Brooklyn Bridge lag und einer Großgärtnerei als Pflanzenlager diente, was wenigstens einen Vorteil hatte, nämlich daß die Wachstumslampen ein gutes Licht gaben. Solche Kämpfe hatten den Zweck, junge Boxer, die noch keine Lizenz hatten, zu rekrutieren, die Regeln wurden dabei nicht allzu streng ausgelegt; nichts anderes, als rekrutiert zu werden, konnte bei diesen Fights gewonnen, viel aber verloren werden. Sie habe, erzählte mir Maybelle, den Kampf schlichtweg wahnsinnig gefunden.»Ich saß weit vorne und hatte freie Sicht auf alle Wunden. «Schon nach der ersten Runde wollte sie gehen. Sie blieb bis zum K.o. in der achten. Der Kopf des am Boden liegenden Boxers ragte unter den Seilen hindurch über die Kante des Rings; er sah aus wie ein blutig geraspelter Stumpf. Sie schaute sich daraufhin lange Zeit keine Kämpfe mehr an. Im Gym beobachtete sie das Sparringstraining, aber da waren die Köpfe unter gepolsterten Lederhelmen geschützt. Sie hörte zu, wenn Gil mit seinen Boxern diskutierte, und sie gewann den Eindruck, ihr Schwiegersohn sei ein guter Lehrer. Aus seinem Mund klang die schärfste Kritik wie ein Lob. Bald ging sie auch wieder zu Kämpfen mit, freute sich nach einem schönen Fight und ärgerte sich nach einem dummen, konfusen; und wenn einer» aus der family «kämpfte, schlug ihr das Herz bis in den Hals.
Als Maybelle und ich zum erstenmal allein in einem Hotelzimmer waren und sie mir das Hemd über den Kopf zog, war sie fünfzig und ich zweiunddreißig. Sie trug ihr Haar, wie es schon seit einigen Jahren nicht mehr Mode war, im sogenannten Afro-Look, nicht kraus, sondern in Locken, wie um den Daumen gewickelt, und sie hatte sie indianerschwarz gefärbt. Sie trainierte täglich an den Geräten im Keller des Gym, immer an dem, das gerade frei war; sie hatte einen sehnigen Händedruck, und wenn ich sie umarmte, spürte ich die beiden Muskelstränge in ihrem Rücken. Sechs Jahre zuvor hatte mich Abe, als wir die Busgarage an der Esplanade in Brooklyn Heights betraten, wo die Streetworker-Party stattfand (Abe:»Der Besitzer hat eine Tochter, die von unseren Leuten von der Straße geholt worden ist. Als Dank stellt er uns einmal im Jahr die Garage zur Verfügung und bezahlt das Bankett«), am Ärmel gepackt und hinter sich hergezogen, am Bierausschank und den Grillplatten vorbei, zwischen Männern und Frauen hindurch, die fast alle schwarz waren und sich über die Stehtischchen beugten, die an den parkenden Bussen entlang aufgestellt waren, und als ich schon meinte, jetzt sei er übergeschnappt, hielt er vor einer Frau in einem schimmerndroten, schenkelkurzen Samtkleid, legte meine Hand in die ihre und sagte erst auf deutsch, dann noch einmal auf englisch:»Darf ich Ihnen meine liebe Freundin Maybelle Houston vorstellen!«Und Maybelle, als wäre sie auf meinen Auftritt vorbereitet, zeigte mit dem Finger auf Abes Nase und sagte:»Darf ich vorstellen: Er ist der einzige Jude von Manhattan, der mich leiden kann. «Abe dagegen:»Und Maybelle ist der einzige Mensch in Brooklyn, dem ich meinen rechten Arm übers Wochenende ausleihen würde.«»Und wer bist du?«wandte sich Maybelle an mich; aber ehe ich die Kiefer aufklappen konnte, antwortete Abe:»Sebastian Lukasser, ein verirrtes Schaf, das noch meint, auf dem richtigen Weg zu sein. «Und sie:»Was heißt ›noch‹?«Und Abe:»Maybelle, ich lese zwischen deinen Augen und deinem Mund die Geschichte von Little Red Riding Hood und der Wolfsmutter, die mit ihren makellosen Zähnen ihr Junges am Nacken packt und in die Höhle schleppt, weil sie in Rotkäppchens Körbchen, zwischen Kuchen und Weinflasche, den Lauf einer Fünfundvierziger gesehen hat. «Und Maybelle zu mir:»In Wahrheit, Luke, bin ich die einzige Frau, bei der es Abe leid tut, daß er schwul ist. «Später meinte Maybelle, sie erinnere sich nicht an ein einziges Wort, das wir beide an diesem Abend miteinander gesprochen hätten, allerdings sei sie so stoned gewesen, daß sie sich an gar nichts erinnere.»Aber du hast dich an mich erinnert«, protestierte ich,»sonst hättest du mich doch nicht nach sechs Jahren in dem Café in der Bleeker Street sofort wiedererkannt!«»An dich, Luke, habe ich mich erinnert, ja«, antwortete sie,»aber von dir habe ich in einer nüchternen Nacht geträumt, lange bevor Abe deine Hand in meine gelegt hat. «Wenn sie mir zuhörte oder wenn wir im Fort Greene Park im Schatten des Prison Ship Martyrs Monuments, den Rücken an die Marmorsäule gelehnt, schweigend nebeneinandersaßen — was mich in unserer ersten Zeit irritierte —, bekam ihr Gesicht einen Ausdruck wie aus der Zeit entrückt, die Augenlider halb gesenkt, die Lippen, die im Profil so vornehm stoisch wirkten, zwei Millimeter voneinander getrennt, ein Bild wie erstarrte Trauer, so daß ich sie des öfteren fragte, woran sie denke und ob sie noch bei mir sei. Dieser Eindruck verlor sich augenblicklich, sobald sie zu sprechen begann. Ihre Stimme war kräftig und laut, und die Vokale sprangen innerhalb eines Wortes manchmal über eine Oktave hinauf und hinunter. Bald mochte ich es sogar besonders gern, wenn wir leer in die Luft starrten und nichts sagten und eigentlich auch nichts dachten — jedenfalls ich, soweit ich mich an meinen Teil erinnere.