«Maybelles Story «hatte mir Abe am Morgen nach der Party beim Frühstück erzählt, als ich ihn fragte, wie er und Mrs. Houston einander kennengelernt hätten — nicht die ganze Geschichte freilich hatte er mir erzählt.»Sie meint, sie habe eine große Schuld auf sich geladen«, deutete er an.
«Hat sie das?«fragte ich.
Er blickte mir auf die Stirn, als hätte ich zum wiederholtenmal den gleichen Fehler begangen und sagte.»Ich kann mir niemanden vorstellen, der sich weniger berufen fühlt, diese Frage zu beantworten, als ich. «Dabei war ihm anzusehen, daß er mit sich rang und daß der Vorwurf, den sein Blick mir zugeschoben hatte, eigentlich ihm selbst galt: ob er loyal zu seiner Freundin stehen und schweigen oder ob er sich der Köstlichkeit hingeben sollte, die im Erzählen einer guten Story bestand. Er entschied sich für die Loyalität.
Als Abe altersbedingt aus dem Lehrkörper der Columbia University ausschied, war ihm langweilig gewesen, er sei sich unnütz vorgekommen, und so habe er beschlossen, seine Kompetenz als Psychologe der Rehabilitation straffälliger Jugendlicher zur Verfügung zu stellen — ein weites Feld, für dessen Pflege die Stadt New York keine Zeit und kein Geld habe, was er, Abe, Bürgermeister Abraham D. Beame bereits zweimal bei einer» Audienz «unter die Nase gerieben habe.»Er hat nicht auf mich gehört. Ich habe ihm meine Erfahrung angeboten! Umsonst! Er hat durch mich hindurchgesehen wie durch eine Qualle! Welche Schande! Welche Demütigung! Er ist schließlich Demokrat! Ich habe ihn gewählt! Und er hat den gleichen Vornamen wie ich!«Abe erkundigte sich beim Verband der jüdischen Wohltätigkeitsvereine, dessen Vorsitzenden Sheldon Steinbach er kannte, ein besonnener, gottesfürchtiger Mann, der immer wieder davor warnte, daß es zu Feindseligkeiten zwischen Juden und Schwarzen, vor allem in Brooklyns Viertel Williamsburg, kommen werde, wenn nicht gegenseitige Vertrauensmaßnahmen gesetzt würden. Steinbach nannte Abe eine Adresse in Brooklyn, es war eine private Organisation, die sich die Eingliederung junger schwarzer Straffälliger als Aufgabe stellte und sich ausschließlich aus Spendengeldern finanzierte. Und dort traf er Maybelle.
Maybelles Job war ein ähnlicher wie zuvor im Gym ihres Schwiegersohns, sie organisierte: Termine bei Anwälten, Richtern, Polizisten, Termine für Aussöhnungsgespräche zwischen Muggern und Bestohlenen, Schlägern und Geschlagenen und Treffen zwischen Häuptlingen von miteinander verfeindeten Gangs und Treffen von Prostituierten, die aussteigen wollten; und sie stellte die Dienstpläne der Streetworker zusammen, die in der Mehrheit entweder selbst ehemalige Kriminelle oder Angehörige von Kriminellen waren und ihre mühselige Kunst des Zuhörens und Überredens neben ihrer Arbeit erledigten, denn für die gute Sache bekamen sie nicht einen Cent. Maybelle, erklärte mir Abe, obwohl sie als einzige entlohnt werde, betrachte sie ihren Dienst dennoch als eine Art Buße.»Deshalb betont sie auch immer wieder, sie werde uns nur eine abgemessene Zeit lang zur Verfügung stehen, nämlich bis ihre Schuld gesühnt sei.«
«Eine Buße wofür?«fragte ich.
«Angenommen«, sagte er nach einer langen Pause und zog sich mit Hilfe einer typischen Abraham-Fields-Rede am Schopf aus seiner Verlegenheit, wobei seine Stimme, die anfänglich kleinlaut klang, jedesmal lauter und fester wurde, wenn ich protestierend unterbrechen wollte,»angenommen, Sebastian, Sie treffen Maybelle in Ihrem Leben wieder, und angenommen, Sie beide freunden sich miteinander an, was ich für möglich, ja sogar für wahrscheinlich halte, es war ja nicht zu übersehen, wie Sie auf sie abgefahren sind, das sind Sie, das sind Sie, das sind Sie, und Sie wiederum haben einen großen Eindruck bei Maybelle hinterlassen, das haben Sie, das haben Sie, weswegen ich mich verpflichtet fühle, Ihnen doch eines zu verraten, und zwar, was das Hauptproblem im Umgang mit Mrs. Houston darstellt, nämlich, daß man sich niemals sicher sein kann, ob sie ein rein geistiges oder ein rein körperliches Wesen ist. Ich zumindest habe sie nie als eine Mischung aus beidem erlebt, sondern stets, und das ohne merklichen Übergang, entweder als das eine oder als das andere. Wenn sich ihr gegenwärtiger sexueller Wunschtraum, der so deutlich aus Ihren Augen spricht, eines Tages erfüllen wird und Sie mit der prächtigen Maybelle Houston im Bett liegen, dann wird sie Ihnen die Geschichte ihrer Schuld und Sühne selbst erzählen, da bin ich mir gewiß, wahrscheinlich wird Sie Ihnen die Geschichte schon längst vorher erzählt haben, sie macht nämlich nicht das geringste Geheimnis daraus, es scheint sogar ein Bestandteil dieser Buße zu sein, daß sie kein Geheimnis daraus macht, was übrigens wesentlich dazu beiträgt, daß es mir doch um einiges leichter fällt, nicht darüber zu sprechen, es fehlt der Reiz des Gerüchts, verstehen Sie?«
Sechs Jahre später irrte ich durch Manhattan, aber die Stadt erschien mir ohne Abe an meiner Seite nicht mehr als ein gigantisches Symbol meiner eigenen Unbeschwertheit und Zukunftskraft, sondern als ein Riesendampfhammer, unter dem alle Zuversicht flach und öd und gegenwärtig gehauen wurde. Was ich erhofft hatte, nämlich daß mich der Große Apfel mit seinen Verlockungen von den traurigen Gedanken an Margarida und Dagmar und dich, David, ablenken würde, traf nicht ein. Die Stelenfelder von Midtown und Downtown, die, von der Aussichtsplattform des Empire State Building aus betrachtet, die Insel wie einen Riesenfriedhof aussehen ließen, an dessen südlichem Ende die Twin Towers wie die Türme der Friedhofskapelle in den weißen Himmel ragten; die im Dunst sich auflösenden Schneisen der Avenues; der Grand Central Terminal mit seinen five-o’clock-pm-Menschenmassen in young, urban and professional Anthrazit, einige mit winzigen Rucksäckchen zwischen den Schulterblättern; selbst das Chrysler Building, der hybrideste Finger — alles verwandelte sich vor mir in ein Gleichnis von Sinn- und Freudlosigkeit, Verlust und Schuld. Ich wohnte wieder im Hotel Tudor in der 42. Straße Ost. Inzwischen war es noch teurer geworden. Nach einer Woche zog ich aus. Da hatte diese gierige leise Vornehmheit bereits ein beängstigendes Loch in mein Budget gerissen. Ich schlug mir an den Kopf, was für ein Idiot ich denn sei; ich, der von allen nüchternen Fähigkeiten die der Regelung meines Lebensunterhalts am besten zu beherrschen glaubte! Ich hatte alle meine Ersparnisse in kleinen amerikanischen Scheinen aus Europa mitgebracht, trug das Geld Tag und Nacht in einer Ledermappe um den Hals, hatte bereits einen Ausschlag auf der Brust; nun meinte ich am Gewicht zu spüren, wie ich ärmer wurde. Als ein Anfall von Irrsinn kam es mir vor, daß ich bis vor wenigen Tagen noch wie ein melancholischer Millionär in der Gourmet Deli Salad Bar mein Abendmahl eingenommen hatte, und das nur aus» Gewohnheit«, weil Abe und ich dort öfter gewesen waren — allerdings auf seine Rechnung.