Ich zog nach Greenwich Village in ein Studentenhotel in der Bleeker Street, nicht weit vom Washington Square. In der Eingangshalle standen ausgebaute Autositze um Holzkisten herum, eine steile Treppe führte nach oben, die war blutrot lackiert und höchstens einen Meter breit, es roch nach Aschenbecher und ungelüfteten Betten und nach einem Gemisch aus Bohnerwachs und Pisse. Ich teilte mir ein Zimmer mit einem Kanadier, der ein Stück über Fünfzig war und sich Peter St. Paul nannte und dem ein strohtrockener grauer Zopf bis zum Gürtel hing und der eine Art Ziehharmonika besaß, auf der er sich begleitete, wenn er bis spät in die Nacht hinein Gedichte von William Blake und Emily Dickinson und William Carlos Williams rezitierte (von ersterem hatte ich bis dahin eine Handvoll Gedichte gekannt, die Dickinson kannte ich nur dem Namen nach, letzteren gar nicht; ich besorgte mir von den dreien je ein Penguin Taschenbuch in jener Buchhandlung in der Lafayette Street, wo man, wenn man Glück hatte, Arthur Miller, William S. Burroughs oder Woody Allen treffen konnte). Peter St. Paul behauptete von sich, er sei Student der Anthropologie — ein Witz, den ich lange nicht kapiert habe. Mein Anteil an der Miete betrug zwar nur einen Bruchteil dessen, was ich im Tudor für mein Zimmer hingelegt hatte, aber auch wenn ich mich ausschließlich von koreanischem Street-Food ernähren würde, war leicht auszurechnen, wann ich gerade noch über genügend Dollars verfügte, um mir ein Flugticket zurück nach Hause zu kaufen. Der Mann an der Rezeption riet mir, meine Sachen irgendwoanders unterzustellen, er könne keine Verantwortung übernehmen, wenn etwas geklaut würde, und geklaut würde hier wie in der Garderobe der Hölle unten. Also schleppte ich meinen Koffer in die U-Bahn und fuhr hinauf bis zum Grand Central und stellte ihn dort in ein Schließfach; was natürlich eine Schnapsidee war, weil ich immer, wenn ich mir etwas Frisches anziehen wollte, durch halb Manhattan fahren mußte. Erst nach ein paar Wochen kam ich dahinter, daß die Penn Station wenigstens acht Straßen näher lag, aber da hatte ich mich längst auf zwei Garnituren eingestellt. Meine schmutzigen Kleider wusch ich — wie ich es bei anderen gesehen hatte — mit Haarshampoo an einem Trinkwasserbrunnen im Washington Square Park und hängte sie über einen Lorbeerstrauch zum Trocknen und setzte mich daneben auf eine Bank und las One Hundred Years of Solitude von Gabriel García Márquez, das Buch hatte mir Peter St. Paul geborgt (wofür ich ihm heute noch dankbar bin).
Ich sprach Leute auf der Straße an, fragte sie nach Arbeit. Einmal fegte ich in einer Autowerkstatt in der Nähe meines Hotels für acht Dollar den Hof aus; dort bekam ich auch den Tip, oben an der Eastside, in der Nähe der Queensboro Bridge (ja dort, wo Abe gewohnt hatte), könne man sich mit Autowaschen ein gutes Geld verdienen — stimmte auch, hatte aber den Nachteil, daß meine Kleider hinterher verdreckt und durchnäßt waren und ich zwei Tage aufwenden mußte, um sie wieder in Ordnung zu bringen.
Eines Abends spazierte ich die Bleeker Street hinunter Richtung East Village und kam bei Matt Union vorbei, dem Gitarrengeschäft, von dem mir mein Vater erzählt hatte. Ich trat ein und fragte einen der Verkäufer, ob er einen Gitarristen namens George Lukasser kenne, und er kannte ihn — ja, er kannte meinen Vater! — , und ich sagte, ich sei der Sohn von George Lukasser, worauf er mir die Hand über den Ladentisch reichte. Ich fragte, ob er vielleicht jemanden wisse, der einen Gitarristen suche, ich sei nämlich auch ein Gitarrist. Er nickte und gab mir die Adresse eines Clubs ein paar Blocks weiter am Broadway. Es war eine schwarz ausgemalte Fabrikhalle ohne jedes Mobiliar, ein Dutzend Gitarristen wartete bereits; wir wurden durch einen finsteren langen Gang geführt, in dem es nach verdorbenem Essen und nach durchwühlten Müllcontainern roch. Man stellte mir eine Les Paul zur Verfügung, und ich improvisierte zu Strange Brew von Cream. Der Manager zeigte sich davon angetan und lud mich zu einer Session mit noch vier anderen Gitarristen ein. Das Publikum war dünn und bestand wohl zur Hauptsache aus Freunden der Akteure und den» Pennern von der Bowery«— wie ein magerer Bursche von der» Waterkant «bei Bremerhaven meinte, der aus dem gleichen Grund hier war wie ich (nur daß er nicht halb so gut spielen konnte). Anstatt Geld zu bekommen, wie ich erwartet hatte, mußten wir dafür zahlen, daß wir spielen durften, und ich verlor in zwei Stunden, was ich an einem Tag als Autowäscher verdient hatte. Der Bremerhavener hieß Carlo Poell, eine Zeitlang trafen wir uns und langweilten uns miteinander und hockten im Central Park herum, mit Vorliebe oben beim Reservoir; er sagte, er könne sich vorstellen zu klauen, Handtaschen oder Jacken, die neben ihren Besitzern auf der Bank liegen, vorbeirennen, an sich reißen, weiterrennen.»Du kannst es dir vorstellen?«sagte ich.»Ja«, sagte er,»kann ich mir, aber tun tu ich es nicht. «Und wie er das in seinem absolut geheimnisfreien nordischen Akzent sagte, mußte ich lange darüber lachen.
Ich half am Hudson Pier, vier Tage lang für insgesamt hundert Dollar, Kisten mit gestanzten Metallteilen, deren Funktion ich nicht erriet, aus Lastern auf Paletten umzuladen; schon nach zwei Stunden konnte ich an dieser Arbeit aber auch gar nichts Romantisches mehr entdecken; und in der ersten Nacht drehte ich mich unter Schmerzen zur Wand, um Mr. St. Paul wenigstens nicht vor mir zu haben, wenn er schon keine Ruhe gab, und war mir sicher, daß ich mir einen Kreuzschaden fürs Leben zugezogen hatte. Auch der Hochfrühling mit seinem Schaumbad an Blüten im Central Park vermochte es nicht, mich und die Stadt, die wir uns doch, als Abe unser Brautwerber gewesen war, so sehr geliebt hatten, wieder einander näherzubringen.
Für fünf Dollar trug ich eines Tages Kartons mit aus der Mode gekommenen Kleidern und Hosen von einer Boutique an der Avenue of the Americas Ecke 10. Straße zu einem katholischen Sammelplatz für Altkleider in einem pseudoklassizistischen Kasten an der 14. Straße, Ecke Broadway, also gerade etwa zweihundert Meter weit, und dort wurde ich von einer Schwester in hellblau-dunkelblauer Tracht gefragt, ob ich für vier Dollar in der Stunde an den Waschmaschinen aushelfen möchte, was ich fünf Wochen lang tat, bis ich irgendwann nachts auf dem Heimweg mitten im Washington Square Park stehenblieb und in den Himmel blickte, wo tatsächlich Sterne zu sehen waren, und mich die Frage anfiel, ob ich mein Leben mit solchem unbedarften Quatsch vertrödeln wolle, nur um mich wie ein von John Dos Passos erfundener Held zu fühlen …