Da sagte sie wieder:»You can’t do that to me, Luke!«, und wieder füllten sich ihre Augen mit Wasser, und ich war nicht darauf gefaßt gewesen, hatte mich wieder einmal von ihrem ausdruckslosen Blick täuschen lassen und hatte auch nicht die geringste Ahnung, was daran zum Weinen sein sollte, wenn ich mir einen Job suchte, und sagte das auch.
Sie erklärte es mir sehr genau:»Es wird eine Zeitlang dauern mit uns, und irgendwann wird es vorbei sein. Aber ich möchte mir hinterher nicht vorhalten, ich habe ihm die Zeit gestohlen, die er gebraucht hätte, um sein Buch zu schreiben. Ich möchte, daß du sagst, ohne sie hätte ich mein Buch nicht schreiben können. Das hätte ich wirklich gern, Luke. Und am liebsten hätte ich, wenn das irgendwo in dem Buch drinstehen würde, vorne oder hinten, das ist mir egal. Ich glaube nämlich an Jesus. In Brooklyn glauben viele an Jesus, ich bin eine davon. Du auch, Luke?«
«Was soll ich sagen, wenn ich ehrlich sein soll? Und was hat Jesus mit einem Buch zu tun, das ich eventuell irgendwann einmal schreiben werde?«
«Ich hätte gern, daß du mich brauchst, Luke. Das ist es, nur das, Luke.«
Ich schrieb. Allerdings ohne große Ambition, daß ein Buch daraus werden sollte. Den Novellenzyklus hatte ich aufgegeben. Maybelle fragte immer wieder danach. Sie machte sich Sorgen deswegen. Sie meinte, ich verplempere meine Zeit. Von den kleinen Dingen, die ich in mein Notizbuch schrieb, erzählte ich ihr nicht. Wer bitte sollte sich für eine Sammlung erster Sätze interessieren?
Ansonsten ging alles so weiter wie bisher. Maybelle holte mich mittags ab, wir spazierten in den Park, aßen, redeten. Eines Abends klickte ein Steinchen an mein Fenster. Sie stand unten auf der Straße und winkte mir zu. Ich huschte in Strümpfen über die Treppe hinunter, aus Mr. Alberts Wohnzimmer hörte ich den Fernseher, öffnete vorsichtig die Tür, Maybelle schlüpfte aus ihren Schuhen und ging vor mir her zu meinem Zimmer hinauf. Sie stellte den Wecker, den mir Mr. Albert zum Geburtstag geschenkt hatte, sperrte die Tür ab und führte mir vor, wie man einen mächtigen Orgasmus haben kann, ohne einen Laut von sich zu geben. Mr. Albert war vielleicht zwanzig Jahre älter als Maybelle, und ich war achtzehn Jahre jünger als sie, und daß sie sich in Mr. Alberts Haus schlich und wir es heimlich wie Teenager miteinander trieben, war natürlich komisch, für einen Außenstehenden mußte das zum Lachen gewesen sein. Aber damals war es nicht lächerlich für mich, nicht komisch, und ich war tatsächlich gerührt, eben weil gar nichts Romantisches daran war, sondern weil es die einzige Möglichkeit war, die Maybelle sah, bei mir zu sein, ohne ihren Freund Mr. Albert vor den Kopf zu stoßen oder im Haus ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes eine lästige Debatte auszulösen. Sie schlief bei mir bis in den frühen Morgen, dann schlich sie sich wieder aus dem Haus. Und so hielten wir es von nun an fast jede Nacht.
Ende November sagte sie:»Gil und Becky fahren über Thanksgiving nach Connecticut, du kannst zu mir kommen.«
Ich sagte, ich würde gern für sie kochen, aber um Himmels willen keinen turkey. Ich würde gern kochen, wie man in meiner Heimat kocht. Nämlich Rindsrouladen mit Kartoffelpüree und Gelberübengemüse.
Ich besorgte vier Rindsschnitzel, Frühstücksspeck, Senf, eingelegte Gurken, Zwiebeln, Karotten, mehlige Kartoffeln, Milch, Muskatnuß, zwei Dosen mit Rindsbrühe und eine Flasche herben Weißwein. Ich benötigte dafür einen halben Tag, fuhr sogar nach Manhattan hinüber.
Am späten Nachmittag wartete Maybelle an der Myrtle Avenue auf mich. Es regnete. Sie stand unter der Markise des Sportartikelladens, der an Gil Clancys Boxclub anschloß und in dessen Schaufenster Punchingballs und Sandsäcke von der Decke hingen; auf einer mannshohen Halterung Gewichte gestapelt und Boxerschuhe in allen Farben neben dazu passenden Boxershorts aufgereiht waren, als Begleitung schepperte Rapmusik aus zwei dünnen Lautsprechern. Auf der Straße war viel los, und ich war hier der einzige Weiße. Maybelle hatte sich ein Cape übergezogen, und als sie mich aus dem Taxi steigen sah, lief sie durch die schmale Gasse, die zum Hintereingang vom Gym führte. Sie wollte nicht, daß mich jemand zusammen mit ihr sah. Ich gebe zu, das ärgerte mich, und deshalb tat ich so, als hätte ich sie nicht gesehen und blieb vor dem Eingang des Clubs stehen, die Plastiktüten mit meinen Einkäufen in den Händen. Die Fenster zur Straße waren zugemauert, die Höhlungen mit Plakaten verklebt, über dem Eingang hing eine gelbe Neonschrift — Gil’s Gym —, sie war ausgeschaltet. Maybelle erschien wieder an der Hauskante und winkte mich hastig zu sich. Sie nahm meine Hand und stöckelte über eine Holzstiege hinauf, die zu einem Anbau auf der Hinterseite des Hauses gehörte. Ich trat in einen Vorraum, der wie ein Puff beleuchtet war, die Wände waren mit Bilderrahmen behängt, einer dicht neben dem anderen, Fotos hingen hier, mir schien, es waren Hunderte, auch Zeitungsausschnitte und Kinderzeichnungen, wie ich mit einem ersten flüchtigen Blick erfaßte.
«Ich denke, deine Leute sind nicht im Haus«, sagte ich.»Warum tust du so heimlich?«
«Ich will nicht, daß dich jemand sieht«, sagte sie.
«Das habe ich gemerkt.«
«Es ist eben so, mach dir nichts draus.«
Maybelles Zimmer war eng, und man konnte sich darin nicht bewegen, ohne irgendwo anzustreifen, es war vollgestellt mit Puppen, Bilderrahmen, Kissen und bunten Töpfen verschiedener Größe, aus denen Pflanzen wuchsen, echte und künstliche aus Plastik oder Seide. Unter einem der beiden Fenster stand eine Nähmaschine, darauf waren Stoffreste ausgebreitet und ein mit Bleistift gezeichneter grober Schnittplan und ein Stück weißes Fell. Auch ein Plattenspieler war in dem Zimmer, ein altes Ding mit dem Lautsprecher in der Abdeckung. In einer Ecke, abgeteilt durch einen glasperlenbestückten Vorhang, der nun zur Seite geschoben war, stand ihr Bett. Über dem Tisch in der Mitte des Zimmers lag ein Teppich, auf dem eine Jagdszene wie aus Tausendundeiner Nacht zu sehen war — ein Mann saß auf einem glänzendschwarzen Pferd, er hatte einen Turban um den Kopf gewunden und war eingezwängt in einen goldprunkenden Jagdrock, die Beine steckten in purpurnen Pluderhosen, er hatte einen kurzen Reflexbogen gespannt und zielte mit dem Pfeil auf eine Gazelle, die gerade über einen blütenbesetzten Busch sprang. Mitten in dem Dreieck der gespannten Bogensehne stand ein gezuckerter Marmorkuchen, daneben eine Kanne mit Tee. Maybelle zog sich das Kleid über den Kopf, sie trug darunter keinen BH, nur einen leuchtendweißen Slip.
«Mir wäre es lieber, wir tun es erst nachher«, sagte ich.
«Wann nachher?«fragte sie.
«Nach dem Essen.«
«Wie du willst«, sagte sie und schlüpfte wieder in ihr Kleid.»Tee auch erst nach dem Essen?«
«Ich habe nicht gemeint nach dem Essen«, korrigierte ich mich, ich war auf einmal sehr verlegen,»ich meinte nach dem Kochen. Es dauert sicher zwei Stunden, bis das Essen fertig ist.«
«Gut, nach dem Kochen«, sagte sie.
Ich folgte ihr über eine Treppe hinunter in die Wohnung ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes. Es roch nach Weihrauch oder irgendwelchen Räucherstäbchen und nach Putzmittel. Die Küche war geräumig und eingerichtet wie bei einer Fernsehfamilie, der Herd rundum zugänglich, davor eine Bar mit drei Hockern. Ich glättete das Fleisch mit einem Löffel, rieb es mit Salz und Pfeffer ein, bestrich es auf einer Seite mit Senf, legte je zwei Scheiben Speck darüber, rollte eine Zwiebelscheibe, ein Stück Karotte und eine halbe Essiggurke in das Fleisch ein und befestigte es mit einem Zahnstocher. Ich briet die Rollen kurz in Butter an, so daß sie eine braune Kruste bekamen, und legte sie beiseite, zerhackte grob die Reste der Zwiebeln, des Specks, der Karotten und der Gurken, briet sie ebenfalls in der Pfanne, bestäubte sie mit Mehl und löschte mit Wein ab. Schließlich legte ich die Rouladen in einen Topf, goß den Sud mitsamt den Einlagen darüber und füllte mit Suppe auf. Ich schaltete den Herd auf kleinste Flamme.