Oben in Maybelles Zimmer wollten wir uns die Wartezeit mit Sex vertreiben, aber wir kamen nicht dazu. Es klopfte an die Außentür. Maybelle legte den Finger auf ihre Lippen, trat hinaus auf den Gang und zog die Tür zum Zimmer hinter sich zu. Ich hörte eine Männerstimme und lauschte. Es war unverkennbar die Stimme eines Schwarzen, und wie mir schien, war es eine junge Stimme. Ich verstand höchstens die Hälfte, der Mann sprach verschliffen und durchsetzt mit Slangworten, von denen ich viele nicht kannte. Worum es in diesem Gespräch ging, schloß ich hauptsächlich aus dem, was Maybelle sagte. Und das reimte ich mir zusammen: Der Mann wollte Maybelle besuchen, er meinte, die Gelegenheit sei gut, weil Maybelles Tochter und deren Mann außer Hauses seien; und es bestand auch nicht der geringste Zweifel, warum der Mann Maybelle besuchen wollte. Maybelle sagte, heute sei es nicht günstig, und sie sagte, nein, sie wolle nicht, daß er hereinkomme, auch nicht für eine Minute. Der Mann verfiel in einen weinerlichen Ton, und Maybelle redete auf ihn ein wie auf ein Kind. Eine Weile war es still. Dann hörte ich, wie Maybelle die Außentür abschloß. Er war wohl ohne Gruß gegangen. Sie sagte nicht, wer dieser Mann gewesen war, sie erfand keine Story für mich; sie sagte gar nichts. Und ich fragte nicht.
7
Zwei Monate nach unserem Ausflug nach Hyde Park — die Bäume auf der Carlton Avenue waren längst schon kahl — brachte mich Maybelle mit dem Ehepaar Sarah Jane und Fabian McKinnon zusammen. Die beiden waren meinetwegen aus Manhattan zum Fort Greene Park gekommen. Wir hätten in ein Café gehen können, es war bereits empfindlich klamm draußen, aber keiner machte den Vorschlag. Die McKinnons arbeiteten an der City University in der Nähe vom Times Square, am Hunter College. Sarah Jane schätzte ich auf Ende Zwanzig, sie sah aus wie eine Frau, die sich erst vor kurzem sehr viel Gewicht abgetrotzt hatte, ihr Kopf war schmal, und ihr Gesicht wirkte hohl, ein Eindruck, der durch die langen, glatten blonden Haare noch verstärkt wurde. Sie hatte ein mädchenhaftes, unregelmäßiges Lächeln, und sie lächelte bei allem, was sie sagte. Sie war Ethnologin. Fabian, ihr Mann, war Musikwissenschaftler. Er wirkte knurrig, sah auch aus wie ein Bär, groß, umfangreich, zottelhaarig, dunkelbärtig. Sie hatten über einen — von Maybelle präparierten — Bekannten erfahren, daß ein Schriftsteller aus Vienna in Brooklyn lebe, der ein exquisiter Kenner der mittel- und osteuropäischen Volksmusik sei und — das hatte ihnen Maybelle persönlich am Telefon erzählt — vorübergehend in Amerika lebe, um ein Buch zu schreiben, in dem er sich vergleichend mit der europäischen und amerikanischen Folklore auseinandersetze. Dieser Schriftsteller war ich. (Nach dem Treffen gestand mir Maybelle:»Das mit dem Vergleich habe ich mir ausgedacht. Was nämlich nichts mit Amerika zu tun hat, interessiert diese Leute nicht.«)
«Schon viel von Ihnen gehört«, begrüßte mich Fabian und schüttelte mir die Hand. Sarah Jane fragte, ob ich wisse, wer Alan Lomax sei. Ich wußte es nicht. Das verwirrte sie, und beide blickten zu Maybelle hinüber, die aber hatte ihren Voodoo-Blick aufgesetzt.
«Mr. Lomax hat Großes vor«, erklärte Fabian und sprach dabei durch die geschlossenen Zähne, bedachtsam und sacht, als handelte es sich um etwas außerordentlich Gefährliches — top secret.»Eine weltweite Sammlung von Folkmusic. Von Vietnam bis Togo, von Sibirien bis Sizilien, von Feuerland bis Grönland, von Spanien bis Cuba. Die Rockefeller Foundation hat ihre Zuwendungen für dieses Projekt deutlich erhöht, beinahe ver-dop-pelt. Im nächsten Jahr wird Alan die schon lange angekündigte Gründung der Association for Cultural Equity endlich realisieren können. Das aber bedeutet für uns: Wir brauchen Leute. Und zwar: nicht nur Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika. Deshalb die Frage: Wollen Sie bei uns einsteigen?«
«Das kommt darauf an, welche Arbeit Sie für mich vorgesehen haben.«
«Schreiben natürlich.«
«Für Zeitungen«, präzisierte Sarah Jane.»Sie schreiben, und wir hängen unser Logo an.«
«Und einen Kasten, in dem unsere Arbeit vorgestellt wird«, ergänzte Fabian.
«Klingt interessant«, sagte ich, bemühte mich um einen geschäftlichen Ton.
«Und Sie meinen«, nahm Sarah lächelnd diesen Ton auf,»Ihre Arbeit bei uns einbringen zu können?«
«Meine Ideen«, sagte ich — betonte das» meine«, um anzudeuten, daß meine Arbeit durchaus auf der gleichen Stufe mit der Arbeit von Mr. Lomax zu sehen sei —,»entsprechen durchaus Ihren Absichten, denke ich«, und spann den Faden weiter, den Maybelle zu drehen begonnen hatte:»Ich denke an eine Serie von Doppelporträts …«— beim S des Wortes Serie fiel mir der alte Plutarch mit seinen Doppelbiographien über Theseus und Romulus, Coriolan und Alkibiades, Demosthenes und Cicero, Cäsar und Alexander und all die anderen ein, der mir schon einmal Brot gebracht hatte, als ich aus seinen Büchern ein Dutzend Sendungen für den Hessischen Rundfunk bastelte —»… jeweils ein amerikanischer Musiker soll einem anderen Musiker aus der weiten Welt gegenübergestellt werden …«— den Begriff» weite Welt «wählte ich absichtlich, nämlich um darauf hinzuweisen, daß ich kein Reporter sei, sondern ein Poet, der auch in einem nüchternen Geschäftsgespräch nicht ohne Poesie auskomme —»… ich denke dabei an zehn bis zwölf solcher Paar-Erzählungen …«— double-tales — wunderbar flutschte dieses Wort heraus, als wäre es in der Fachwelt ein fixer Begriff —»… die schließlich zu einem Buch zusammengefaßt werden sollen …«— Maybelle blickte vor sich ins Leere.»Mrs. Houston und ich arbeiten schon seit geraumer Zeit zusammen. Sie besorgt die Übersetzungen. Ich glaube, wir beide sind gut aufeinander eingespielt.«
Ich getraute mich nicht, Maybelle anzusehen, weil ich fürchtete, ich könnte herausplatzen. Sie hatte bisher geschwiegen, nun sagte sie:»Mr. Lukasser wird sich die Geschichten natürlich nicht aus der puren Luft saugen, wir werden zusammen einige Originalschauplätze ansehen müssen. Das heißt, Spesen werden anfallen.«
«Das läßt sich einrichten, davon bin ich überzeugt«, sagte Fabian.
«Das ist das mindeste«, präzisierte Sarah Jane eifrig.
«Wir werden viel unterwegs sein«, sagte ich — und in vielen Motels Nächte und Tage im Bett verbringen und uns unseren Leibern überlassen, die so viel Freude aneinander haben, dachte ich.
Die McKinnons luden Maybelle und mich in ihr Büro ein: Mr. Lomax sei zur Zeit nicht in New York, er sei mit einem Kamera- und Aufnahmeteam in der Karibik unterwegs. Als wir die Räume im sechsten Stock, 450 West, 41. Straße betraten, krampfte sich mein Herz zusammen. Gleich der Eingangstür gegenüber hing ein riesiges Bild von meinem Vater an der Wand — es war natürlich nicht mein Vater, es war Woody Guthrie …
Hatte Carl zu Beginn meiner Erzählung noch eine Miene aufgesetzt, die deutlich verkündete, hier werde lediglich ein Versprechen eingehalten, war er bald in Unruhe geraten, ja, in Aufregung, und schließlich unterbrach er mich im Tonfall bitteren Selbstvorwurfs — schlecht gespielt übrigens, wahrscheinlich sogar absichtlich schlecht gespielt:
«Mein Gott, wie hätte ich ahnen sollen, daß du so einsam warst in Amerika! Ich sehe dich durch New York gehen, wo ich so ein verrücktes Leben geführt habe. Nicht eine Stunde war ich allein gewesen. Das ist mir nie gelungen. Im Leben nicht einmal!«
Frau Mungenast, die gerade im Zimmer war, weil sie die Abrechnung für den vorangegangenen Monat fertig hatte und auf eine Gelegenheit wartete, mit Carl darüber zu sprechen, sagte, als sprächen wir — Carl, sie, ich — von jemandem, der nicht anwesend, der vielleicht überhaupt schon aus der Welt war:»Nein, das kann er nicht. Das kann er wirklich nicht. Er will, daß alle Türen offen sind. Und wenn ich in der Küche sitze und etwas lese, bittet er mich herüberzukommen, und wenn ich sage, ich möchte lieber allein sein, wenigstens eine Stunde, befiehlt er, ich soll Geräusche machen. Also schalte ich das Radio ein. Aber das genügt ihm nicht. Das Radio würde ja auch Musik spielen, wenn niemand in der Küche säße. Dann klappere ich halt mit der Teetasse oder mit den Töpfen. Oder ich huste. Aber so kann kein Mensch in einem Buch lesen. Also setze ich mich neben ihn. Dann ist es gut.«