«Was soll ich für dich spielen, Koba?«fragte er.
«Ein besonderes Lied ist es«, sagte Stalin.»Du hast es vor vierzig Jahren gespielt. Ich kenne es, aber ich weiß seinen Namen nicht.«
«Ein trauriges Lied oder ein fröhliches?«
«Ein trauriges Lied, Chutkuntschula.«
«Ein trauriges, so. Es wird sich also um ein langsames Lied handeln, habe ich recht, Koba?«
«Ja, es war ein langsames Lied.«
Stalin verschränkte seine Arme, das hieß, das mußte heißen: Reden wir nicht, spiel! — Ich weiß aber nicht, welches Lied er meint, dachte Grigol. Mindestens hundert Lieder kenne ich, die langsam und traurig sind.
«War es vielleicht dieses?«Er schlug einen Akkord an und begann zu singen. Einer der Soldaten kannte das Lied und stimmte mit ein.
«Das ist es nicht!«unterbrach Stalin.
Es ist gut, daß es das nicht war, dachte Grigol. Wenn ich’s gleich beim erstenmal getroffen hätte, wäre ihm womöglich alles zusammen nicht viel wert gewesen — das Lied nicht und ich auch nicht.
«Kannst du mir vielleicht noch ein paar weitere Worte zu dem Lied sagen, Koba?«
«Ich glaube, das Meer ist in dem Lied vorgekommen«, sagte Stalin.
«Bist du sicher, es war das Meer? Nicht vielleicht ein Fluß, unsere Kura zum Beispiel?«
«Nein, das Meer, sicher das Meer.«
«Kannst du vielleicht zwei, drei Töne singen, Koba?«
Stalin brummte zwei, drei Töne.»So ungefähr.«
«Jetzt weiß ich es!«rief Grigol.»Es kann eigentlich nur das folgende Liedchen sein.«
«Seht ihr«, wandte sich Stalin an die Soldaten.»Seht ihr, schon haben wir, was wir wollten. Und jetzt sing, Chutkuntschula!«
Grigol sang den Anfang eines bekannten Liedes, das so bekannt war, daß sich sogar die Soldaten anschauten, die vielleicht aus irgendeinem anderen Land der großen Sowjetunion stammten.
«Nein, nein! Das doch nicht!«rief Stalin.»Dieses Lied kenne ich doch! Ich hätte doch gleich sagen können, spiel das! Dieses Lied kennt doch jeder!«
Wenn ich, dachte Grigol, noch einmal ein falsches Lied anstimme, wird sich Koba vor seinen Soldaten für mich schämen, weil der, auf den er gesetzt hat, nichts wert ist. Das kann mir nicht gleichgültig sein. Er weiß nicht, was für ein Lied er meint, er weiß nur, wenn er eines nicht meint. Aber, dachte Grigol Beritaschwili, ist es nicht so, daß alle langsamen, traurigen Lieder irgendwie ähnlich klingen? Kaum einer kennt so viele langsame, traurige Lieder wie ich, und ich sage: Fast alle klingen sie gleich. — Also ließ er die Finger selbst einen Akkord suchen und begann zu summen.
«Das ist gut, Chutkuntschula«, rief Stalin.»Ich glaube, jetzt hast du es.«
Grigol, der ein schlauer Mann war und deshalb Chutkuntschula genannt wurde, weil der Chutkuntschula im Märchen auch ein schlauer Mann war, der sich nicht nur gegen die Angriffe seiner Brüder zur Wehr setzte, sondern am Schluß auch den Riesen besiegte, den seine Brüder angeheuert hatten, ihn zu töten; Grigol sang und spielte und — erfand im Augenblick Wort für Wort, Ton für Ton, das Lied, an das sich Stalin zu erinnern glaubte. Und Stalin hörte zu, nickte und weinte und ging.
Der Sänger aber blieb sitzen, bis die Sonne über den Bergen aufging. Er blieb sitzen bis zum Mittag. Er legte die Arme auf den Tisch und den Kopf auf die Arme und schlief ein. Am Nachmittag pumpte er Wasser in den Holzeimer und goß die Setzlinge, die hinter dem Haus in Säcken aufgereiht waren wie Buben in Schulbänken. Er stimmte die Tschonguri nach, aber nicht einmal der erste Akkord des Liedes fiel ihm ein. Er nahm das Geld, das einer der Soldaten auf Stalins Befehl auf den Tisch gelegt hatte, und ging hinunter zur Straße. Die Händler verneigten sich vor ihm.»Welche Ehre, Chutkuntschula!«Sie füllten einen Korb mit Sachen und sagten, den Korb brauche er nicht zurückzubringen, den solle er ruhig behalten, und Geld nahmen sie keines von ihm. Denn sie hatten erfahren, was in der Nacht geschehen war. Zu Hause aß er die guten Sachen und trank den guten Wein. Schließlich stimmte er wieder die Tschonguri. Eine Melodie fiel ihm ein. Sie kam ihm bekannt vor und auch wieder nicht. Er ließ den Mund selbst die Worte suchen. Nur das Meer sollte vorkommen, alles andere überließ er seinen Lippen. Er sang und spielte das Lied so lange, bis er es sich gemerkt hatte. Er ging hinter das Haus, redete mit seinen Setzlingen, sah zu, wie die Sonne über der Kura unterging. In der Nacht spielte und sang er das Lied noch ein paarmal, feilte, verlängerte und verkürzte. Endlich stieg er in seine Kammer hinauf und legte sich schlafen.
Chutkuntschula, der Tschongurispieler aus Gori, wurde bald wieder zu Parteiveranstaltungen und Hochzeiten, zu Jahrestagen und Erntefesten eingeladen. Er wurde berühmter, als er je gewesen war. Überall, wo er sang und spielte, wollten die Leute das Lied hören, das er dem Vater des Vaterlandes in jener Nacht vorgespielt hatte. Er nannte es:»Tebrone midis zchalse!«—»Tebrone, geht Wasser holen!«
Es war ein Märchen, war ein Märchen
Im Wäldchen war ein Vogel gestorben
Ich legte ihn auf den Zaun, da war er vertrocknet
Ich nahm ihn herab, da war er verfault
In einen großen Kessel paßte er nicht
In einem kleinen war er zu klein
Hundert Leute konnten ihn nicht aufessen
Er war ein Bissen für einen Mann
Und der Mann schwamm durch das Meer
Wie ein Vogel durch die Luft fliegt.
Grigol Beritaschwili, genannt Chutkuntschula, starb im Jahr 1958 im Alter von hundertundvier Jahren. Bis zuletzt hatte er seinen Haushalt allein geführt, und jeden Abend habe er, wird in Gori erzählt, auf seiner Tschonguri gespielt.
Zu dieser Geschichte kontrastierte ich eine Geschichte über den Folksänger Woody Guthrie. Fabian McKinnon hatte sie mir erzählt (nachdem ich ihm erzählt hatte, Maybelle und ich hätten erst vor kurzem das Anwesen der Roosevelts besucht —»um zu recherchieren«). Der zufolge sei Mr. Guthrie ausgerechnet am Nachmittag des 7. Dezember 1941 von Präsident Roosevelt und dessen Frau Eleanor nach Hyde Park eingeladen worden. Der Präsident habe mit dem Sänger eine — wie es Woody Guthrie in einem der vielen Interviews mit Alan Lomax genannt hatte —»politisch höchst brisante Sache «zu bereden gehabt. Das Zusammentreffen war übrigens auf Vorschlag und Vermittlung von John Steinbeck zustande gekommen. Der Präsident hatte den Schriftsteller als Mitstreiter gegen die isolationistische Stimmung im Land gewinnen wollen. Im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung wünschte der Präsident nämlich, daß Amerika an der Seite Englands in den Krieg gegen Hitler eintrete.»Sie sind der Homer des modernen Amerika«, hatte er (so William Hasset, Roosevelts Privatsekretär, später vor Alan Lomax) zu Steinbeck gesagt.»Ihr Tom Joad ist ein moderner Odysseus. Schreiben Sie einen Roman über einen modernen Achill!«—»Homer war ein Sänger«, habe Steinbeck geantwortet.»Romane sind für Menschen, die lesen wollen und lesen können. Solche gibt es leider nicht allzu viele in Amerika. «Und er hatte dem Präsidenten von Woody Guthrie erzählt; und daß The Grapes of Wrath unter anderem deshalb so bekannt sei, weil dieser Sänger in nicht weniger als einem guten Dutzend Lieder (The Dust Bowl Ballads) den Inhalt des Buches singend nacherzählt und auf diese Weise den Roman auch Leuten nahegebracht habe, die nicht lesen und schreiben können oder nicht über die Mittel verfügen, das Buch zu kaufen.»Wenn es einen Homer des modernen Amerika gibt«, so John Steinbeck,»dann Woody Guthrie.«— Woody Guthrie erzählte: Er, der Präsident und dessen Frau hätten an diesem 7. Dezember des Jahres 1941 gemeinsam ein Projekt entwickelt — ein Epos, bestehend aus achtundvierzig Songs, für jeden Bundesstaat einen, jeder Song achtundvierzig Strophen umfassend, jeder Song die Geschichte eines amerikanischen Mannes oder einer amerikanischen Frau oder einer amerikanischen Familie erzählend. Es seien auch gleich die Bedingungen ausgehandelt worden: Alle großen Sender des Landes werden die Songs täglich spielen, zu jeder Stunde des Tages zwei Songs. Guthrie bekommt zudem zusammen mit dem Produzenten Norman Corwin eine fixe Sendung auf CBS, in der er singt und erzählt und auf Hörerpost eingeht. Die Regierung zahlt. Die Songs werden auf Platten gedruckt und so billig verkauft, daß sie sich jeder leisten kann. Das Gespräch — so Guthrie — sei unterbrochen worden, weil William Hasset zur Tür hereingekommen sei und sich über den Präsidenten gebeugt und ihm etwas ins Ohr geflüstert habe. Dem Präsidenten sei plötzlich ein blöder Ausdruck im Gesicht gestanden, der habe eine Minute lang angehalten. Schließlich habe sein Gesicht wieder Farbe bekommen, und er habe gesagt: Entschuldigen Sie mich, Mr. Guthrie. Und zu seiner Frau habe er gesagt: Kümmere dich bitte weiter um unseren Gast. William Hasset schob den Rollstuhl mit dem Präsidenten aus dem Salon, und Eleanor Roosevelt gab dem Chauffeur Anweisung, Mr. Guthrie in die Stadt zurückzufahren. Zum Abschied sagte sie, sie sei überzeugt, der Liederzyklus werde eine der größten kulturellen Leistungen Amerikas in diesem Jahrhundert werden. Bereits auf der Fahrt von Hyde Park nach New York City habe er über den ersten Song nachgedacht, erzählte Woody Guthrie Alan Lomax aufs Band, der Song sollte vom berühmtesten Bürger des Staates New York erzählen, eben von Franklin Delano Roosevelt, der mit seinem New Deal so vielen Menschen die Hoffnung zurückgegeben habe. Eine Refrainzeile hatte sich Guthrie notiert: The world was lucky to see him born … — Als ihn der Chauffeur am Grand Central Terminal absetzte, war es Nacht, und Amerika war in Aufruhr. Japanische Bomber hatten auf Pearl Harbor die amerikanische Pazifikflotte versenkt; das war es gewesen, was William Hasset dem Präsidenten ins Ohr geflüstert hatte. Am nächsten Tag erklärten die Vereinigten Staaten von Amerika Japan den Krieg. Hitler reagierte darauf, indem er seinerseits den USA den Krieg erklärte. Nun war es nicht mehr nötig, Songs zu schreiben, um aus guten Amerikanern gute Weltbürger zu formen. Nach dem Tod von Präsident Roosevelt — er starb wenige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs — schrieb Woody Guthrie ein Lied für die Witwe Eleanor Roosevelt. Der Refrain lautete: