Alan Lomax war bereits in den frühen dreißiger Jahren zusammen mit seinem Vater und einem hundertfünfzig Kilo schweren Ampex-Aufnahmegerät durch Louisiana, Mississippi, Kentucky und Tennessee gefahren, um Lieder und Sänger aufzuspüren. Sie taten dies im Auftrag der Library of Congress in Washington. Feldforschung nannten sie es. Sie bauten ihr Gerät in Küchen auf, in Hinterzimmern von Kneipen, in Sprechzimmern von Gefängnissen, im Schatten von Bäumen, in Kirchen und in Schulen. Alan studierte später Anthropologie und anschließend leitete er die Musikabteilung der Library of Congress. In den frühen fünfziger Jahren tauchte sein Name auf den Listen der» Red Channels «auf, auf denen jene 151 Frauen und Männer registriert waren, die im Verdacht standen, kommunistisches Gedankengut ins Radio und ins Fernsehen zu tragen. Er verließ Amerika, reiste durch Irland und Schottland, später durch Spanien und Italien. In Europa entstand die Idee einer World Library of Folkmusic. Als der McCarthy-Spuk vorüber war, kehrte er nach New York zurück. Er frischte seine Kontakte auf, knüpfte neue, vergab den Verrätern, zumindest innerlich (empörten Herzens auch dem Sänger und Schauspieler Burl Ives), umarmte die Standhaften, die sich auf Kosten ihrer Karriere geweigert hatten, Freunde und Kollegen an das House Committee on Un-American Activities zu verraten — allen voran den vorbildlichen Pete Seeger (der von Burl Ives verraten worden war), der mit seinem Lied Where Have All the Flowers Gone die ultimative Antikriegshymne geschrieben hatte. (An einer der Wände im ACE war diesem Lied ein Sonderplatz eingeräumt, ein Arrangement, das mich an ein Altarbild erinnerte. Hier hingen unter anderem Bilder von prominenten Interpreten des Songs wie Marlene Dietrich, Nana Mouskouri, Peter, Paul & Mary und Joan Baez; weiters die Texte von verschiedenen Übersetzungen und zwei Autographen der Notenschrift mit Akkordangabe für Gitarre, beide in C-Dur, die eine mit a-Moll, die andere, die archaische, ohne a-Moll, erstere von einem gewissen Reverend Douglas F. Helgeson niedergeschrieben, die andere von Pete Seeger himself. Eine Zeitlang trug ich mich mit dem Gedanken, über diesen Song eine Dissertation zu schreiben; ich war mir sicher, ich würde unter der Postachtundsechziger Professorenschaft von Frankfurt oder Wien dafür einen Doktorvater gewinnen. Mr. Lomax hatte alles gesammelt, was mit diesem Song zu tun hatte: Pete Seegers Vorlage für den Text — ein ukrainisches Volkslied, das Michail Scholochow in seinem Roman Der Stille Don zitiert; die Vorlage für die Melodie — der Railroad-Song Drill Ye Tarriers Drill, ein Traditional, das aber, wie Mr. Lomax herausbekommen hat, identifizierbare Urheber besitzt, nämlich Charles Connolly und Thomas Casey, beide Irish railroad workers, die im Jahr 1888 gemeinsam dieses Lied geschrieben hatten; so erfuhr ich auch, daß der deutsche Text — Sag mir, wo die Blumen sind —, dem Marlene Dietrich in jener berühmten Aufnahme von 1962 ihre Stimme geliehen hatte, von Max Colpet stammte, der sich wiederum an dem Lied Sag mir, wo die Veilchen sind des deutschen Dichters Johann Georg Jacobi aus dem Jahr 1782 orientiert hatte. Für einen Nachmittag lang war ich erschüttert von dem Gedanken, was für ein großer Gefallen der guten Sache getan wäre, wenn das völkerverbindende Rhizom dieses einfachen Liedes offengelegt würde. Und das verlockendste daran: Mr. Lomax würde mir vielleicht ein Interview mit Pete Seeger verschaffen, und Pete Seeger kannte Bob Dylan, und vielleicht würde mir Pete Seeger ein Interview mit Bob Dylan verschaffen, damit ich ihn endlich fragen könnte, warum er dieses Lied nie gesungen habe … — Ich hörte mir an einer der Abhörboxen im College etwa zwanzig verschiedene Versionen an. Danach hatte ich eine Aversion gegen diesen Song — sie hält bis heute an — und verließ erleichtert das Gebäude in der 41. Straße und spazierte der Abendsonne entgegen in Richtung Times Square, fest entschlossen, mich nie wieder der Versuchung auszusetzen, meinen Namen mit den zwei akademischen Ehrenbuchstaben und dem Punkt zu schmücken.) Nachdem er in die USA zurückgekehrt war, führte Alan Lomax seine Sammlertätigkeit bei der Library of Congress fort, nun allerdings als freier Korrespondent. Es gelang ihm, die Verantwortlichen bei Columbia Records zu überreden, eine Plattenreihe mit amerikanischer Folkmusic zu starten. Die Reihe sollte der Beginn einer gigantischen Sammlung von Volksmusik aus aller Welt sein, der inzwischen von ihm so genannten Global Jukebox — ein nachgerade abstruses Unternehmen, wie er selbst meinte.
Die Stärke von Mr. Lomax war seine Begeisterung, und die brannte, als wäre sie an die Sonne selbst angeschlossen. Er war der Mittelpunkt, er war Mr. Folk; wenn er in New York war, sprach sich das schnell herum, die Leute drängten sich in den Gängen des ACE, berühmte Männer und Frauen darunter — Izzy Young vom Folklore Center, die Sängerin Maria Muldaur mit ihrem Lockenkopf wie ein französischer König, der Folkmanager und Konzertpromoter Harold Leventhal, auch Tuli Kupferberg bildete ich mir ein gesehen zu haben. Ich habe Alan Lomax nur einmal getroffen, und unsere Begegnung war sehr kurz. Er kam ins Büro, wo ich gerade saß und auf Fabian wartete — ein großer, massiger Mann mit einem Knebelbart und schweren, hängenden Schultern. Er schüttelte mir herzlich die Hand. Natürlich hatte er keine Ahnung, wer ich war und was ich hier tat, und als ich ihm erklärte, ich sei derjenige, der die Kurzgeschichten über Musikanten aus aller Welt schreibe, sagte er:»Das ist wunderbar! Ich hoffe, wir können Sie für unsere Arbeit gewinnen!«Da hatte ich bereits zwei Monate lang Geld vom ACE bekommen (das Institut streckte mir das Geld vor und kassierte bei den Zeitungen). Ich erzählte ihm, daß mein Großvater in Wien ein berühmter Folksänger gewesen sei —»Schrammelmusic«. Bei dem Wort hob er die Brauen.»Stadtfolklore«, sagte er,»ich weiß. Gibt es sonst nur noch in Lissabon. Der Fado. Die Ghirardo-Brüder haben Massen von Bändern aus Portugal mitgebracht, sie stellen gerade eine Auswahl für eine Platte zusammen. Kennen Sie die Ghirardo-Brüder?«»Nein«, sagte ich.»Lassen Sie sich ihre Telefonnummer geben! Ich hoffe, Sie besorgen uns Kopien von Aufnahmen Ihres Großvaters!«Er zeigte mir die Faust, als wäre er auf dem Weg zu einer Versammlung der Black Panthers, und schon war er hinaus zur Tür.
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Ich hatte mir eine Reihe von Musikerpaaren, dazu Kommentare in mein Notizbuch geschrieben. Ich lese darin:
Django Reinhardt und Jimi Hendrix — bei D.R. die Geschichte von seiner Frau, die ihn vom Wohnwagen durch den Schlamm zur Straße trägt, damit seine zweifarbigen Schuhe nicht schmutzig werden. Bei J.H. erfinden: z.B. wie er während eines Konzerts allein mit seinem Gitarrenspiel ein Mädchen aufgerissen hat … oder etwas Ähnliches … Freundschaft mit Eric Burdon … oder geplante Zusammenarbeit mit Miles Davis … oder etwas Privates … indianische Mutter, wenn das stimmt … Cochise und J.H. … das Apachenhafte in seiner Musik …
Duke Ellington und Johann Strauß — wie Volksmusik vergöttlicht wird … ein Zusammentreffen der beiden? J. St. in Amerika, der junge Duke … geht sich das aus?