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Im März erhielt ich eine Einladung des Germanistischen Instituts der Miami University in Oxford, Ohio. Man bat mich, einige meiner Geschichten vorzulesen und mit den Studenten darüber zu diskutieren. Ich sagte zu — und blieb zwei Monate.

In New York wartete eine weitere Einladung auf mich, vom Germanistischen Institut der State University in Dickinson, North Dakota. Dort lehrte eine Österreicherin aus Leoben die deutsche Sprache; sie habe, schrieb sie, Woche für Woche meine Geschichten gelesen und wünsche sich, daß ich ihren Studenten etwas erzähle. — In North Dakota nun blieb ich vom Herbst 1984 bis zum Herbst 1985 — bis ich von Carl jenen Brief erhielt, in dem er mich darum bat, nach Österreich zu kommen, weil sich im Leben meiner Mutter eine tiefgreifende Veränderung abzeichne.

(Zu den ersten drei Punkten meiner Wunschliste auf dem New Calvary Cemetery in Queens möchte ich anmerken: Die Morphiumabhängigkeit machte mir damals in der Tat schwer zu schaffen. Nachdem Dr. Michaelis verschiedene Morphinderivate ausprobiert hatte, weil er irrigerweise meinte, so könne die Abhängigkeit gemildert und bald überhaupt überwunden werden, wechselte er, als ihn mein Verlangen nach immer höheren Dosen aus diesem Konzept brachte, erst zu einem Piritamid-, dann zu einem Pentazocin-, zuletzt zu einem Dextromoramidpräparat, bevor er auf Methadon umstieg. Schließlich geriet meine Behandlung völlig aus dem Ruder, und er kehrte zu Hydromorphin zurück. Inzwischen konnte ich längst ohne Krücken gehen; das einzige, was von dem Unfall zurückgeblieben war, war ein leichtes Schlenkern des rechten Beins — eben der sogenannte Steppergang. Ich hatte eigentlich auch keine Schmerzen mehr, und hätten wir von Anfang an einen vernünftigen Ausstieg durchgezogen, wäre ich wahrscheinlich medikamentenfrei gewesen und hätte bei Wetterumschwüngen mit Aspirin oder Paracetamol mein Auslangen gehabt. So zog sich meine Morphinsucht fast über ein Jahr hin, am Ende verschaffte ich mir Spritzen und Heroin über einen Dealer bei der Hühnerbraterei; dazu kam, daß ich nun auch noch Barbiturate nahm, weil ich unter Schlafstörungen litt. Im Sommer setzten Panikattacken ein, und ich stürzte in eine schwere, allein durch diesen abenteuerlichen Drogen- und Medikamentenmix ausgelöste Depression. Dr. Michaelis verschrieb mir Amitriptylin, das mir jede Libido nahm und mich wie ein Zombie durch die Tage schlurfen ließ. Um den Hang-over-Effekt abzufedern, nahm ich Aufputschmittel, schließlich Kokain, das ich unter das Heroin mischte und mir spritzte. In der Nacht konnte ich nun erst recht nicht schlafen, und am Tag war es mir nicht möglich, auch nur eine halbe Stunde lang bei einer Sache zu bleiben. In North Dakota endlich unterzog ich mich einer radikalen Selbstentwöhnung, die übrigens auch das Zigarettenrauchen mit einschloß — ein Horrortrip, der eine knappe Woche dauerte. Heroin, Kokain und den anderen Shit wurde ich los; aber nach drei Monaten fing ich wieder zu rauchen an. Noch etwas: Es mag einigermaßen komisch klingen, wenn ich mir auf dem Friedhof vor Maybelles Grab wegen meines Biergenusses Sorgen machte, größere Sorgen sogar als wegen des Morphiums. Ich hatte in meinem Leben bis dahin so gut wie nie Alkohol getrunken, und nach diesem Friedhofsbesuch nie wieder etwas angerührt. Der Mensch kennt seine Süchte, noch bevor er ihnen begegnet, heißt es, und ich habe sehr deutlich gespürt, daß in diesen harmlosen Budweisers eine Gefahr schlummerte, die genetisch in mir verankert ist und der ich, im Gegensatz zum Morphium, nicht nur wenig, sondern innerhalb kürzester Zeit gar nichts entgegenzusetzen gehabt hätte.)

4

Das Haus stand an einer sanften Anhöhe über den Mäandern des Little Missouri. Als ich es zum erstenmal vor mir sah — das war im später September 1984 —, war mein erster Gedanke: Hier möchte ich leben. Hier, dachte ich, würde ich gesund werden, an Leib und Geist und Seele und an meinen Erinnerungen. Das tiefbraune, im unteren Teil von der Sonne geschwärzte, an den Dachvorsprüngen bald laubrote, bald whiskyfarbene Holz versprach Behaglichkeit, Ruhe und Frieden in einem verschwenderischen Ausmaß, so daß ich für einen Augenblick überwältigt war von der Vision, endlich am Ziel angekommen zu sein — wobei ich bis eine Minute zuvor gar nicht gewußt hatte, daß ich überhaupt auf dem Weg dorthin unterwegs war. Das Haus war nach Osten, Süden und Westen von einer breiten, mit Zinkblech überdachten Veranda umgeben, über deren Balustrade im Winter Fenster eingesetzt werden konnten. Im Rücken reichte ein Mischgewächs aus Föhren, kanadischen Pappeln und Eichen nahe heran; die Bäume sollten das Haus vor den Blizzards schützen, die bereits ab November von Kanada herunterbrausten. Mitten auf dem hohen, spitzen Blechdach saß auf einer Stange ein rostiger Hahn, der sich aber längst nicht mehr nach dem Wind drehte. Das Haus war vor vielen Jahren eine Aufseherstation gewesen; es stand nicht weit von der Interstate 94, die von Dickinson nach Montana führte, und markierte nach Osten hin den Beginn des Theodore Roosevelt National Park in den Badlands von North Dakota.

Der Ausblick war überwältigend. So sehe die Hölle aus, nachdem das Feuer erloschen sei, erklärte mir mein Begleiter, Lenny Redekopp, und fügte mit einem ausgeliehenen Lächeln hinzu:»Was unter unserem gegenwärtigen Präsidenten ja nicht zu befürchten ist, jedenfalls nicht, solange Mrs. Kirkpatrick hinter ihm steht und ihm ins Ohr flüstert, was er denken soll. «Im Auto von Dickinson hierher hatte ich nicht geahnt, was ich zu sehen bekommen würde. Das Land brach plötzlich in sich zusammen; und kurz davor, in der horizontweit endlos scheinenden Prärie, die sich über hundert Kilometer und mehr von Bismarck bis hierher in einschläfernder Eintönigkeit erstreckte, war nichts zu ahnen, nichts davon zu sehen gewesen. Zwischen brandroten Felsstürzen, schwarzen Geröllhalden, wie von Riesenteufelskrallen ausgeschabt, weißen, grauen, gelben, blauen Felstischen, Felsköpfen, Felsnadeln, zwischen violetten und purpurnen Gesteinsschichten wie von altem Blut lagen karge Kräuterteppiche oder zogen sich Streifen mit hohen, scharfkantigen, dünenmäßigen Gräsern dahin und wuchsen vereinzelt Dornensträucher und langstielige Disteln, die jetzt im Herbst braun und verdorrt waren. Wir waren vom Freeway abgefahren und hatten nach einer knappen Meile auf einem Schotterweg das Haus erreicht. Unter uns schlängelte sich der Fluß durch seine grüne Umfassung, die Sandbänke schimmerten in der Sonne. Ich konnte nicht abschätzen, wie weit es vom Haus bis dort hinunter war.

«Wenn du einen Vierradantrieb hast, kannst du mit dem Auto hinunterfahren«, sagte Lenny.»Zu Fuß gehst du nicht mehr als zehn Minuten.«

Das Haus gehörte Lenny; er habe es vor Jahren vor dem Abriß gerettet und zu einem Überpreis erworben. Manchmal, leider viel zu selten, fahre er heraus, setze sich einen Hut auf den Kopf und spiele einen Nachmittag lang, er sei ein anderer. Lenny war liiert mit Toni — Frau Prof. Dr. Antonia Fasching —, die an der Universität in Dickinson deutsche Sprache und Literatur unterrichtete und ein Projekt zur Erforschung der Sprache der Rußlanddeutschen leitete, die sich vor hundert Jahren in der Gegend angesiedelt hatten — was eine akademische Verneigung vor ihrem lieben Partner sei. Lenny stammte nämlich von solchen ab; er war als Jugendlicher in den Süden gezogen, hatte ein Viertel seines Lebens in Arkansas Grundstücke und Häuser verkauft und war heute Angestellter der Kommune; was genau sein Arbeitsbereich war, wußte ich nicht; ich vermutete, daß sein Job dem eines höheren städtischen Beamten bei uns entsprach. Er hatte einen krummen, griesgrämigen Rücken und knickte beim Gehen etwas ein; er war ein witziger Kerl mit einer sprunghaften, sarkastischen Phantasie. Er habe, sagte er mir einmal mit eisernem Gesicht, nur aus einem einzigen Grund Arkansas verlassen und sein Lager wieder in North Dakota aufgeschlagen, weil nämlich dort unten laut Gesetz ein Mann seine Frau höchstens einmal im Monat schlagen dürfe, hier heroben aber ein versuchter Selbstmord als Mordversuch gelte und mit der Todesstrafe geahndet werde. In seiner Gegenwart verkrampfte sich ständig ein Lachen unter meinem Adamsapfel; ich mochte ihn gern. Toni wirkte dagegen alpin stramm und streßfrei humorlos; sie hatte freundliche Apfelbacken und war glücklich, mit mir in ihrem steirischen Dialekt sprechen zu dürfen; spickte dabei das Heimatliche dicht mit amerikanischen Ausrufen des Erstaunens, der Freude, des Übermuts und des Spottes —»Wow!«,»Yeah!«,»Marvelous!«,»Crazy!«—, ob es nun paßte oder nicht. Sie und Lenny seien schon seit zehn Jahren ein Paar, teilte sie mir stolz mit, aber sie lebten nicht zusammen. Ich merkte, sie erwartete, daß ich» Warum?«sage; ich sagte es aber nicht. Lenny sammelte alles, was mit den Indianern in North und South Dakota zu tun hatte — den Ojibwa und den Sioux und den Yanktonai-Sioux, wie er mir erklärte; er hatte einen Bildband über deren bemerkenswerte vergangene Kultur und das erbärmliche Leben, das sie heute führten, herausgegeben — auf der linken Seite früher, auf der rechten Seite heute —, den er mir am Weihnachtsabend 1984 im Tausch gegen Musicians gab. Nachdem ich am Ende meiner Vorlesungen vor Antonia von der Prärie und dem Himmel darüber geschwärmt und gesagt hatte, ich könne mir durchaus vorstellen, eine Weile hier in North Dakota zu leben und zu arbeiten, hatte Lenny vorgeschlagen, mir sein Haus im Nationalpark zu zeigen; wenn ich Interesse hätte, wolle er es mir gern für 150 Dollar im Monat vermieten, inklusive Hut, er komme ohnehin kaum noch dazu herauszufahren.