Das Haus war von der Veranda aus betretbar, es hatte nur einen Raum, in seiner Mitte stand ein hoher gußeiserner Ofen; über seinem Feuertor war ein Backrohr, von der Decke hing ein Drahtgitter, auf dem ich Wäsche und Schuhe trocknen konnte. Die Wände bestanden aus rohen Brettern und waren mit Häuten behängt, auf die indianische Ornamente gemalt und gebrannt waren. Ein grobgehobelter Tisch stand in einer Ecke, zu den Fenstern hin eine zusammengenagelte Sitzbank, zwei Holzsessel waren da und ein schmales Bett mit einer harten Matratze. Die andere Seite des Raumes bildete die Küche, hier hingen Regale mit Geschirr, ein Spülkasten mit einem Emailbecken war in eine Ecke eingelassen, darauf konnte man eine Arbeitsplatte legen, einen kleinen Eisschrank gab es und zwei elektrische Herdplatten. Strom erzeugte ein Dieselgenerator draußen auf der Veranda. Wasser gab es in der Hütte nicht. Man mußte mit einem Eimer fünfzig Meter in die Talsenke gehen, dort war eine Pumpe. Im Winter rate er mir, mich mit Wasser aus der Stadt einzudecken, sagte Lenny, sonst bleibe mir nichts anderes übrig, als in einem Topf Schnee zu schmelzen — falls Schnee liege, es sei nämlich auch schon vorgekommen, daß das Thermometer auf minus 30 Grad Fahrenheit gesunken, aber bis in den März hinein kein halber Daumen hoch Schnee gefallen sei. Außerdem, darauf müsse er mich aufmerksam machen, könne es vorkommen, daß bei sehr niederen Temperaturen der Diesel sulzig werde, in so einem Fall werde das Leben hier draußen doch ziemlich frugal. Toni schlug vor, daß ich über den Winter in ihr Haus ziehe; sie werde ein Gästezimmer für mich herrichten. Ich aber freute mich auf den Winter; ich nahm mir vor, unter allen Umständen in der Wildnis auszuharren. An die Außenwände der Hütte war Brennholz gestapelt; wenn ich ökonomisch umsichtig heize, werde es genügen, sagte Lenny. (In diesem Punkt irrte er sich übrigens gewaltig.) Der erste Stock des Hauses, der Dachboden, war leer und konnte nur über eine Leiter von außen erreicht werden. Er sei vom Erbauer wohl nur deshalb aufgesetzt worden, um eine schöne Proportion zu wahren und das Dach möglichst steil halten zu können, wegen der Schneemassen nämlich. Die Toilette war über einer Grube an die Veranda angebaut.
So war ich also in North Dakota gelandet — und wenn ich mich an die Sommerzeit erinnere, während der der Wind über die Prärie wehte und das hohe Gras in Wellen wie ein Meer bis zum Horizont wogte, so scheint mir dieser Begriff sehr richtig und zudem mit so bildstarker Symbolkraft aufgeladen, daß er mir heute noch den Rest an Gottesfurcht einjagt, der sich in den Ritzen meines Lebens erhalten hat. Ohne Wehmut hatte ich New York den Rücken gekehrt. Mit einem Koffer war ich zweieinhalb Jahre zuvor in der Stadt angekommen, mit demselben Koffer und dazu einer Gitarre verließ ich sie. Als ich im Taxi auf dem Weg zum La Guardia Airport durch Queens fuhr, empfand ich nichts weiter als Erleichterung. Mr. Albert hatte zum Abschied gesagt, er gehe davon aus, daß wir weiter in Kontakt blieben, ich solle mich erkundigen, ob dort oben für einen Mann seiner Hautfarbe ein friedliches Leben möglich sei. Aber ich wußte, er meinte es nicht ernst; und wir beide wußten, daß wir uns nicht mehr wiedersehen würden. Ich habe ihm ein paar Zeilen geschrieben — auf die Grußkarte eines zwei Meter langen Ansichtskartenleporellos vom Theodore Roosevelt National Park und seiner Umgebung; das gleiche schickte ich auch meiner Mutter, Bilder wie aus Wildwestfilmen: Bisons, Felsriffe, Pferdetränken, Windräder, Blockhütten und Männer mit Cowboyhut, Bandana und Chap, auch ein Gemälde von Sitting Bull mit Federbusch und Kriegsbemalung und eine Collage aus deutschnamigen Ortstafeln — New Leipzig, Manfred, Karlsruhe und Bismarck — und einem Bild der» größten Holsteinkuh der Welt«, die, aus Polyester gegossen, auf einem Hügel stehend, als ein Wahrzeichen des Landes die Prärie überragte; auf beide Karten schrieb ich:»Grüße aus meiner neuen Heimat. «Als meine Adresse gab ich das Germanistische Institut der Universität in Dickinson an. Meine Mutter schrieb mir zurück, Mr. Albert nicht. Auch Carl schrieb ich, ebenso Dr. Kupelian, beiden eine schmucklose Postkarte. Dr. Kupelian antwortete postwendend; das Buch würde sehr schön werden, schrieb er, und wie die Vorbestellungen aussähen, dürfe ich mich auf einen Erfolg freuen; im Frühling, wenn ich bis dahin noch nicht aufgegeben hätte, würde er mich gern besuchen. Bald nachdem ich mich» in meiner neuen Heimat «eingerichtet hatte, wartete in Antonias Büro ein Paket auf mich. Es enthielt dreißig Exemplare von Musicians. Auf dem Umschlag war, in einem warmen Ockerton gehalten, eine Fotografie des berühmten Fotografen Andreas Feininger, die einen großen Himmel mit Wolken über der alten Route 66 zeigte. Das Buch hatte 212 Seiten und ein Lesebändchen und kostete 12 Dollar und 9 °Cent. Auf der Rückseite war ein Bild von mir — ich saß auf einer Bank vor dem Geländer zum East River und grinste, im Hintergrund waren die Brooklyn Bridge und Downtown Manhattan zu sehen. Das Foto hatte Maybelle gemacht — an dem Tag, an dem wir aufgebrochen waren, um durch das Hudson Valley nach Hyde Park zu fahren. Ich hatte auf diesem Bild bestanden.
Für 1500 Dollar kaufte ich mir einen gebrauchten Toyota-Jeep, dessen Rückbank fehlte, der aber, wie mir versichert wurde, eine gut funktionierende Heizung habe und wie geschaffen sei für die Badlands. Einmal in der Woche fuhr ich die knapp siebzig Meilen nach Dickinson, stopfte unterwegs an einem Parkplatz mit Aussichtsferngläsern meinen Abfall in die Mülleimer; frühstückte bei Burger King in der Nähe des Dinosaurier-Museums ein Stück von den bunten süßen Biskuitkuchen, die in Form von Tyrannosaurus-Rexen angeboten wurden; besuchte anschließend Toni in ihrem Institut und borgte mir in der Bibliothek Bücher aus (durch den Nachlaß eines ehemals deutschen Zuwanderers aus Odessa war die Bibliothek gut bestückt mit Klassikern der Literatur und Philosophie, darunter eine üppig kommentierte Shakespeare-Ausgabe, zweisprachig, in den Übersetzungen von August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin, die ich, dank Tonis Intervention, über meinen ersten Winter in den Badlands ausleihen durfte); zum Mittagessen traf ich Toni und Lenny in der Mensa — Toni hatte mir meinen Lehrkörperausweis verlängern lassen —, drückte mich am Nachmittag auf dem Campus herum, plauderte mit Studenten und Lektoren, flirtete mit Studentinnen und Lektorinnen oder setzte mich im Zentrum der Stadt (was immer man als solches bezeichnen mochte) in die hübsche Cafeteria mit den blauen Fensterrahmen, las, schrieb mir Sachen auf — ich hatte wieder an meinem Erste-Sätze-Poem Gefallen gefunden —, hob, wenn nötig, bei der Wells Fargo Bank Geld von dem Konto ab, das ich mir noch in New York in diesem für meine Ohren romantisch klingenden Institut eingerichtet hatte, und kaufte, als die Sonne niederging, im Supermarket gleich neben der Auffahrt zum Freeway ein, was ich für die kommende Woche brauchte. Brot war übrigens ein Problem. Es gab nur helles Brot, das war nach einem Tag wie gepreßtes Stroh und nach zwei Tagen ungenießbar. Toni riet mir, mein Brot selbst zu backen, sie halte es auch so. Bei meinem nächsten Besuch hatte sie in einem Pappkarton alles zusammengestellt, was ich brauchte — Roggenmehl, eine vakuumverschweißte Sauerteigmutter, Hefe, Gewürze und in einem Kuvert das Rezept. Ich stellte mich nicht ungeschickt an, die Kruste erinnerte die ersten paar Male zwar an die Felsküste auf Lanzarote, innen aber war das Brot weich, feucht und aromatisch, und es blieb auch lange so. In einem Spezialgeschäft, das mir Lenny empfohlen hatte, kaufte ich mir eine Angel samt Grundausstattung und die teuersten wadenhohen Wanderschuhe, die angeboten wurden, und das beste: einen breitkrempigen Hut aus Känguruhleder. Lenny sagte, ich solle mir ein Gewehr zulegen. Wozu, fragte ich. Ob ich mir bewußt sei, daß ich dort draußen zwar völlig einsam, aber ganz und gar nicht allein lebe, antwortete er. Ich werde es mir überlegen, sagte ich. Die Vorstellung, eine Waffe zu besitzen, löste tatsächlich einen enormen Reiz in mir aus; und als ich Lenny das nächste Mal traf, bat ich ihn, mir doch so ein Ding zu besorgen. Er blickte mich geduldig wissend unter hängenden Augenlidern an; er hatte bereits eines besorgt, auf Kommission, ein sogenanntes Lever-action- oder Unterhebelrepetiergewehr der Firma Browning; es kostete, inklusive dreihundert Schuß Munition, satte 850 Dollar. Lenny hatte seine eigene Büchse draußen in seinem Wagen, und nachdem wir in der Mensa Spinat mit Salzkartoffeln und zum Nachtisch einen Apple Pie gegessen hatten, fuhr er mit mir hinaus, und den ganzen Nachmittag lang ballerten wir auf Blechdosen. Er hatte sich extra dafür freigenommen. Ob ich das Gewehr denn nicht anmelden müsse, ob ich nicht überhaupt einen Waffenschein benötige, fragte ich ihn. Doch, doch, brummte er, den alten Scout spielend, aber eigentlich auch nicht, dem Gesetz nach wahrscheinlich schon, in Wahrheit jedoch spiele es hier oben keine Rolle; wichtiger sei, daß ich mich nicht beim Fischen erwischen lasse —»oder wie mein bessarabiendeutscher Großvater gesagt hätte: beim Angeln«.