6
Suka fraß nicht. An diesem Tag nicht und auch am nächsten nicht. Sie lag auf der Veranda und sah mir zu, wie ich mit der Motorsäge die Stämme zerschnitt, die Trommeln in Scheite hackte und diese an der Außenseite und der Innenseite der Verandenbalustrade aufschichtete. Wenn ich die Hand nach ihr ausstreckte, zog sie die Lefzen zurück und knurrte; wenn ich sie streichelte, beruhigte sie sich und ließ es über sich ergehen. Ich lud sie zu einem Spaziergang ein, ging ein paar Schritte voraus, klopfte mir auf die Schenkel; sie rührte sich nicht vom Fleck; also blieb ich ebenfalls daheim, was mir eigentlich auch recht war, die Arbeit am Holz war quälend schwer für mich, und ich fand, ich hatte genügend Zeit an der frischen Luft verbracht. In der Nacht trug ich sie ins Haus; von sich aus hätte sie die Schwelle nicht übertreten. Sie legte sich an die Tür, die Schnauze an die Ritze gepreßt, durch die Luft von draußen hereinzog. Am dritten Tag schlabberte sie eine Schale mit Milch aus; und als ich sie unter dem Maul kraulte und sie lobte, ruckte sie energisch mit dem Kopf, um meine Hand an die Stelle zu leiten, wo es ihr am angenehmsten war. Ich nahm mir Zeit und redete mit ihr. Sie hatte, seit sie bei mir war, noch keinen Laut von sich gegeben. Ich erzählte ihr, was ich am Vormittag treibe, wenn ich auf der Veranda vor dem Klickklackding sitze — sie sollte sich an meine Stimme gewöhnen, also mußte ich ja irgend etwas reden —, ich las ihr sogar die Seite vor, die ich geschrieben hatte, entwickelte in die großen, wäßrigen Augen hinein, wie die Geschichte weitergehen sollte, daß es die Geschichte meines Vaters sei, die ich, ein paar tausend Kilometer von seinem Grab entfernt, so wahrheitsgetreu wie möglich niederzuschreiben versuchte,»was mir aber nicht gelingt, ich weiß nicht, warum, schon, wenn ich das Wort er niederschreibe, komme ich mir wie ein Lügner vor, und bei dem Wort ich geht es mir nicht anders, und je genauer ich beschreibe, wie er mir zwei Jahre vor seinem Tod in seinem Studio in der Scheune gegenübersaß und mir erklärte, wie man mit drei Tonbändern den Effekt erzeugen kann, daß sich aus einer Singstimme auf einmal zwei weitere Singstimmen abspalten, so daß sie ein wenig zeitversetzt am Ende der Strophe ankommen, und je genauer ich beschreibe, wie er ausgesehen hat, immer noch dürr und sehnig, das Haar grau wie Hochgebirgsmoos an den Schläfen hinauf, ich winde mich, weil mir dabei ist, als würde ich ihn preisgeben«— und rettete mich, als ich merkte, daß ich mich mit Selbstmitleid aufzufüllen begann, in eine Hollywoodszene, in der ein Schriftsteller seinem Hund, der vor ihm sitzt wie eine Sphinx, erklärt, warum er sich in die Einsamkeit zurückgezogen habe … beichtete Suka, daß ich mir Vorwürfe machte — wegen Maybelle zum Beispiel, weil in der Erinnerung an sie mehr Schauder als Glück enthalten sei; und wegen Dagmar, weil ich so lange gar nicht an sie gedacht hatte; und wegen David; aber auch wegen meiner Mutter, weil ich ihr in meinem Leben nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte wie dir, Suka, in den ersten drei Tagen unseres Zusammenseins; Vorwürfe nicht zuletzt wegen Carl, weil ich ihm in einem einzigen Telefonat die Meinung zu mehr als zwanzig Jahren Schutzengeldienst gegeigt hatte … Was sollte es für einen Sinn haben, vor einem Tier in vollständigen Sätzen zu sprechen? Was hatte ein Tier von der Wahrheit oder der Vorspiegelung derselben? Zwischen Menschen sind oft sehr sonderbare Sachen wahr, und wir setzen alles daran, dafür Worte zu finden und sie auch aussprechen zu dürfen. Zwischen Mensch und Tier aber genügt es, Namen zu nennen. Also sagte ich ihren Namen, sprach ich ihren Namen aus — in der Hoffnung, sie fände in ihrer Brust einen Bellton, der nur mir zugeordnet sein würde —, immer wieder ihren Namen —»Suka«—»Suka«—»Suka«; knetete in die beiden Silben alle emotionalen Motivlagen hinein, die mir einfielen — Freude, Trauer, Seufzen, Spott, Befehl, Zorn, Essen-gibt’s! Spielen-wir! Melancholie, Weinerlichkeit, Jammer und Verzweiflung, Braver-Hund! Böser-Hund! Gehen-wir-jagen! Resignation, Enttäuschung — bitter oder wehmütig —, eine gute Idee, eine schmerzliche Erinnerung, Tatendrang, Optimismus, Scheinheiligkeit, Witz, Drohung, Ekel, Sachlichkeit, Überzeugung, moralische Betroffenheit, Niedertracht, Ahnung … Es ist erstaunlich, wie variantenreich Komposition plus Improvisation für die Vokale U und A sein können. Meinem Vater hätte das gefallen. Ich lag neben Suka auf der Veranda und verlor mich in diesem Spiel, wie ich mich sonst nur im Gitarrespielen verlieren konnte; und wider ihren Willen und wider die Treue gegenüber ihrem ehemaligen Herrn fand auch Suka daran Gefallen. Wenn ich — absichtlich — eine Weile nichts gesagt und — absichtlich — von ihr weggesehen hatte, hörte ich ihren Schweif auf die Bretter schlagen, und aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie sie ihren Kopf zu mir hinreckte und die Brust ein wenig hob. Nun begann ich mit dem S, zischte es erst leise, dann lauter werdend zwischen den Zähnen hervor —»Sssssss …«—, schlich unmerklich in das U über —»Sssssuuuu …«—, und als ich an der Klippe zum K, auch wegen Luftmangels, abbrach, bellte sie zum erstenmal.
Am vierten Tag schließlich war sie auch in ihrem Herzen mein Hund. Da war sie es in meinem schon lange.
Sie hatte tatsächlich etwas von einer Wölfin. Die spitze kurze Schnauze zum Beispiel. Die Stirn allerdings war nicht so flach wie bei ihrer wilden Schwester. Suka, fand ich, hatte eine Denkerstirn. Akkurat in der Mitte zwischen den Augen standen zwei Denkerfalten, an deren Außenwölbungen sich das Fell, an dieser Stelle sattbraun, aufspreizte und die weiße Haut hindurchschimmern ließ. Wenn sie am Boden lag, den Kopf auf ihren Pfoten, und zu mir emporblickte, bildete sich bisweilen eine dritte Falte, und die verlief horizontal, legte sich als ein Querbalken über die Denkerfalten, was sie nun nicht mehr wie eine Philosophin, sondern wie eine arme Sünderin aussehen ließ. Allerdings fand ich bald heraus, daß dieser Blick weder auf Reue noch auf Demut deutete, sondern eher auf eine Art Geistesabwesenheit, oder sollte ich besser sagen, auf eine Art Nicht-bei-mir-Sein, denn ihre Augen waren nicht auf mich gerichtet, wie ich gemeint hatte, sondern ihr Blick ging durch mich hindurch, eigentlich ein Aus-der-Welt-Sein, so als hinge sie Erinnerungen und Traumbildern nach, die tatsächlich bis in die Wolfszeit zurückreichten; in solchen Momenten reagierte sie nicht auf meine Stimme, erhob sich nicht, wenn ich von meinem Sessel aufstand — was sie sonst immer tat —, wandte nicht einmal den Kopf, wenn ich die Tür nach draußen öffnete — was sie sonst immer jubelnd als Auftakt zu einer Wanderung, als Auftakt zur wilden Jagd, interpretierte; auch wenn ich vielleicht doch nur die fünfzig Schritte den Hang hinunter zum Brunnen ging.
Suka war eine längst nicht mehr nachvollziehbare Mischung, eine Bastardin in der x-ten Generation; als wäre alles, was je Hund gewesen war, in ihre Gene eingeerbt worden. Wenn sie neben mir stand, konnte ich gerade meine Hand auf ihren Kopf legen. Ihr Fell war zwei-, genaugenommen dreifarbig, nämlich über den Rücken schwarz, an Bauch und Brust weiß, am Kopf aber, ebenso an den Pfoten und gegen die Spitze des Schwanzes hin breiteten sich braune Inseln aus, leopardenfleckig, von café noir bis café au lait. Der langbehaarte Schwanz ringelte sich, wenn sie straff stand, unedel nach oben; dies lasse (habe ich, wenn ich mich recht erinnere, bei Jack London gelesen) auf besondere Intelligenz schließen. Sie hatte warme, gütige, teilhabende Augen, etwas glubschig vielleicht, was jemanden, der sie nicht kannte — auch mich anfänglich —, zu dem Irrtum verleiten konnte, sie sei drollig. Das war sie nicht. Dazu fletschte sie zu oft und zu gern die Zähne; auch gegen mich, das bereitete mir am Beginn unserer Freundschaft Sorgen; bald aber erkannte ich, daß dies nicht Beißlust, sondern lediglich eine Marotte war. So gern sie auf unseren Wanderungen herumtollte, jeder Fährte begeistert nachschnüffelte und hinter Tieren aller Art herjagte (nicht hinter Kojoten, vor denen hatte sie einen heiligen Respekt; nicht Angst, eher so etwas wie Ehrfurcht vor der Verwandtschaft), am Spiel, also der Imitation der Jagd, hatte sie wenig Interesse. Wenn ich den Ball warf, den ich nur zu diesem Zweck besorgt hatte, trottete sie ihm zwar nach, klaubte ihn auch mit den Zähnen auf, stand aber ziemlich ratlos in der Welt und blickte zu mir herüber und ließ sich durch mein Zurufen nicht überreden, ihn mir zu bringen, damit ich das Spiel fortsetze; schließlich spuckte sie ihn aus. Öfter als dreimal hintereinander ließ sie sich zu diesem Zeitvertreib nicht bewegen; demonstrativ hockte sie sich hin und sah zu, wie der Ball an ihr vorüberrollte, und nicht ein Muskel in ihrem Leib zuckte. Es war mir nicht möglich, ihr irgend etwas beizubringen. Sie setzte sich nicht, wenn ich» Sitz!«sagte, sie legte sich nicht, wenn ich» Platz!«sagte, sie blieb nicht an meiner Seite, wenn ich es — sie aber nicht — für notwendig hielt. Das mochte ich an ihr, und zuletzt erteilte ich diese Befehle nur noch, um mich daran zu erfreuen, wie wenig sie sich darum scherte. Der Drang nach Selbstauflösung in Kameradschaft war ihrem Wesen völlig fremd. Nicht aber der Drang, mir ihre Empfindungen zu zeigen. Oft war mir nicht klar, was diese Empfindungen ausgelöst hatte. Ich gewöhnte mir schließlich doch an, in ihrer Gegenwart vor mich hin zu reden — nicht mit ihr sprach ich, das nicht; was ich direkt an sie richtete, blieb einsilbig, höchstens zweisilbig und ging weiterhin nur wenig über die Nennung ihres Namens hinaus; aber ich gewöhnte mir an, wenn ich an der Schreibmaschine saß, manche Formulierung laut vor mich hin zu rezitieren oder nachzuplappern, welche Handgriffe ich gerade vollführte, oder schleifenartig zu wiederholen, was ich als nächstes vorhatte. Ich weiß nicht, ob ich zu dieser Art von Selbstgesprächen auch ohne Hund irgendwann Zuflucht genommen hätte — ob das vielleicht jeder tut, der sechs Tage in der Woche keinen Menschen sieht, außer am Morgen für drei Minuten sein eigenes Spiegelbild, und keinen Menschen hört, nicht einmal aus einem Transistorradio. Suka hielt sich die meiste Zeit in meiner unmittelbaren Nähe auf. Gern lagerte sie mit ihrem Bauch auf einem meiner Füße, was auch ich sehr gern mochte. Die Wärme, die von ihrem Körper auf mich überging, beruhigte mich mehr, als es jedes Medikament vermocht hätte. Aber sie nahm keine Notiz von dem, was ich vor mich hin redete, jedenfalls ließ nichts aus ihrem Verhalten darauf schließen, es wäre anders. Es kam vor, daß sie plötzlich die Ohren aufstellte und in meine Richtung schaute, als hätte ich nach ihr gerufen, was ich aber nicht getan hatte; oder sie sprang auf, wedelte so heftig mit dem Schwanz, daß ihr Hinterleib wackelte; oder sie schnellte gar, wie vom Boden weggesprengt, auf meinen Schoß und führte sich auf, als wolle sie sich in meine Brust hineinwühlen, wobei aus der ihren ein warmes, wehmütiges, mehr katzen- als hundehaftes Knurren aufstieg, gegen das sie nur anzukommen meinte, indem sie sich davon frei bellte; und dieses Bellen hatte etwas eindeutig Empörtes an sich, etwas Ungeduldiges, Zorniges, als wäre sie selbst von diesem Liebesaufwallen überrascht und mahne sich, wieder die Contenance zu gewinnen. Irgend etwas in ihr war wohl der Auffassung, allzuviel von diesem Gefühl sei ungesund; sie sprang von meinem Schoß, verkroch sich ans andere Ende der Veranda oder zog eine Runde um das Haus. Ich finde kein anderes Wort: Sie war verlegen. Eine Vermenschlichung von tierischen Verhaltensweisen ist Illustriertenkitsch, das weiß ich auch, aber wenn so etwas mit einem geschieht, kann man, wenigstens im ersten Moment, nicht anders, als die Palette der eigenen Empfindungen auf die Kreatur zu übertragen und Vergleiche anzustellen; abgesehen davon, daß unsere Sprache ausschließlich menschlichen Bezug kennt, wir also korrekterweise über außermenschliche Natur nur schweigen dürften.