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Vor allem der Erinnerung zuliebe und weil ich doch wissen wollte, wie sich so ein Satz anfühlt, zitierte ich Maybelle und sagte:»You can’t do that to me!«

Noch etwas — nämlich, um diesen Teil abzurunden, bevor ich mit dem letzten beginne: Am 16. September 2001, ein halbes Jahr nach Carls Tod, es war ein Sonntag, rief nachts um zwölf — jawohl! — Chucky an. Ich weiß bis heute nicht, wie er zu meiner Nummer gekommen war, im Telefonbuch steht sie nicht. Auf dem Display konnte ich sehen, daß er, bevor ich nach Hause gekommen war, bereits sechzehnmal meine Nummer gewählt hatte. Ohne Begrüßungsfloskel sagte er, er habe mich im Fernsehen gesehen und müsse dringend mit mir sprechen. Genau sagte er:»Ich muß dringend mit Ihnen sprechen.«»He«, sagte ich,»wir kennen uns doch! Chucky! Wir müssen doch nicht Sie zueinander sagen. «Das ignorierte er. Also sagte ich:»Worüber wollen Sie mit mir sprechen, Herr Rottmeier?«»Über die Sendung«, sagte er.»Alles weitere nicht am Telefon.«

Ich hatte an diesem Abend an einer Fernsehdiskussion des ORF teilgenommen. Es ging um Afghanistan, um einen eventuell geplanten Militäreinsatz der USA gegen das Regime der Taliban als Folge der Terroranschläge vom 11. September. Ein Oberst des österreichischen Bundesheeres war eingeladen, ein ruhiger, sympathischer Mann, mit dem ich am Ende der Sendung Visitenkarten tauschte; weiters ein Journalist, der seit vielen Jahren Afghanistan, Usbekistan, Tadschikistan, den Iran, Pakistan und Indien bereiste und Bücher darüber schrieb und der jede Wortmeldung mit» Nein «begann, aber nicht im Sinne eines Widerspruchs, sondern als wolle er sagen: Jetzt im Ernst; weiters eine Ärztin, die für Ärzte ohne Grenzen tätig war und gleich in ihrem Eingangsstatement klarstellte, daß sie es für möglich halte, daß George W. Bush eine Atombombe auf Kabul werfe, natürlich nicht aus militärischen Überlegungen, dort unten sei ja eh nichts mehr kaputtzumachen, sondern einer nationalen Befriedigung willen. Neben mir saß eine Friedensaktivistin — als solche wurde sie jedenfalls vom Moderator vorgestellt —, eine attraktive Frau um die Vierzig, die uns ermahnte, keine» Denkvariante auszuschließen«, auch nicht — nach dem Prinzip cui bono? — , daß die Passagiermaschinen am 11. September von Agenten der CIA im Auftrag der amerikanischen Regierung auf die Türme des World Trade Center und auf das Pentagon gelenkt worden seien. Ich war wohl eingeladen worden, damit nicht eine reine Fachleutedebatte stattfinde. Man hatte uns vor der Sendung gebeten, unsere Argumente (wofür oder wogegen eigentlich?) in einem Kernsatz zusammenzufassen. Meiner lautete:»Selbstmördern kann man mit dem Tod nicht drohen.«(Als ich meinen Satz anbrachte, griff die Friedensaktivistin neben mir nach meiner Hand und drückte sie. Ich tat das gleiche mit ihrer Hand bei entsprechender Gelegenheit; ich spürte ihren Daumen über meinen Handrücken streichen, und das hatte mit Gewißheit nichts mit unseren Argumenten zu tun. Nach der Sendung fuhr ich gemeinsam mit ihr im Taxi in die Stadt, und wir setzten uns in der Bar des Imperial in eine Nische und tranken etwas, sie Rotwein, ich Jasmintee. Sie hieß Sabine und war verheiratet. Sie gab mir ihre, ich gab ihr meine Handynummer, und wir versprachen einander, anzurufen. Beim Taxistand vor dem Imperial küßten wir uns, öffneten dabei die Lippen, sie berührte meine und ich berührte ihre Zunge, ein schneidender Wind blies, der in unseren hohlen Mündern leise aufheulte. — Sie hat mich nicht, ich habe sie nicht angerufen.)

«Ich wohne im Sechzehnten«, sagte Chucky.»Treffen wir uns zum Mittagessen im Café Vorstadt, Ecke Herbststraße Haberlgasse. Um zwölf.«

«Das will ich nicht«, sagte ich.»Ich werde selbstverständlich nicht kommen.«

Eine Weile war es still. Schließlich fragte er:»Gibt es eine palästinensische Botschaft in Wien?«

«Herr Rottmeier«, sagte ich,»vor zweiundzwanzig Jahren in Frankfurt haben Sie mir einfach keine andere Wahl gelassen, als Sie zum Narren zu halten. Ich bitte Sie, dieses Spiel nicht noch einmal mit mir zu spielen. Damit auch ich nicht noch einmal so ein Spiel mit Ihnen spielen muß.«

Wieder ignorierte er, was ich gesagt hatte.»Sie sind ein bekannter Schriftsteller, man hat Sie im Fernsehen gesehen. Ich möchte nur, daß Sie mich zur palästinensischen Botschaft bringen. Alles weitere ist nicht Ihr Problem.«

Ich legte auf. — Was auch immer folgen wird, dachte ich, den weitaus größeren Teil meines Lebens werde ich in jedem Fall nach meinem Willen und meinem Plan geführt haben, auch wenn beide meistens doch nur aus purer Wirrsal bestanden hatten.

Interlude

Am Anfang meiner Unternehmung dachte ich noch, es wird sich ein richtiger Zeitpunkt finden, um vom Tod meines Vaters zu erzählen. Aber diese Tragödie läßt sich in keine Dramaturgie zwängen. Ich kann das nicht. Sie sträubt sich gegen einen Zusammenhang. Sie widersetzt sich gar der Chronologie. Ich will nun hier von ihr berichten, und so als wäre sie eine Geschichte für sich. Und das ist sie ja auch.

Womit beginnen? Und wann? — In San Diego 1964.

Während der Tournee mit Chet Baker war mein Vater im Süden von Kalifornien dem Komponisten Harry Partch begegnet, und der hatte ihn zu sich in sein Haus eingeladen, wo sich die beiden einen Tag lang und bis tief in die Nacht hinein über Musik unterhielten. Chet Baker und die übrigen Mitglieder der Band, Joel Jahoda, Chris Turner und Marcus Kreil, hatten ursprünglich mitgehen wollen, waren aber im Suff abgestürzt oder hatten einfach Schiß gekriegt, weil Partch im Ruf stand, alle anzuschnorren, die sein Haus betraten. Das Gegenteil war der Fall, Mr. Partch war ein liebenswürdiger, aufmerksamer Gastgeber, der Rücksicht darauf nahm, daß mein Vater keinen Alkohol trank. Er zeigte ihm die Instrumente, die er selbst gebaut hatte, weil er auf den herkömmlichen Instrumenten seine Mikrotonleiter aus dreiundvierzig Intervallen per Oktave nicht bedienen und vor allem nicht die Klänge erzeugen konnte, die er in seinem Kopf hörte. Er spielte ihm vom Tonband einige seiner Kompositionen vor — The Wayward, The Bewitched, Delusion of the Fury … Mein Vater war erschüttert. Er war wirklich erschüttert. Ihm war zumute, als hätte dieser Mann, der viele Jahre als Landstreicher durch die USA gezogen war, ihm klipp und klar bewiesen, daß alles, was er bisher gemacht habe,»Scheiße «sei. Aber gleichzeitig habe er zum erstenmal in seinem Leben die Musik gehört, nach der er immer gesucht habe. Partch hatte ihm erklärt, daß die Inspiration zu vielen seiner Stücke beliebige Gespräche gewesen seien, die er zufällig mit angehört habe. Er sei von den konventionellen Tonleitern, auch der dodekaphonischen, abgekommen, als er versucht habe, die Melodik von Sprechstimmen wiederzugeben. Der Ursprung aller Musik sei die menschliche Stimme; jedes Instrument ahme einen Aspekt der menschlichen Stimme nach, und die der menschlichen Stimme ureigene Ausdrucksform sei das Gespräch. Der Gesang sei bereits eine Abstraktion, ein Filtrat; auch der Gesang ahme die gesprochene Sprache nach, vergrößere, übersteigere und isoliere die jedem natürlichen Sprechen innewohnenden Melodien — nichts anderes leiste der Gesang. Das Gespräch, je näher am alltäglichen Verkehr, um so besser, sei die Urmusik; ihr spüre er in seinen Kompositionen nach, erklärte Harry Partch meinem Vater. Die Melodien eines Gesprächs seien immer authentisch, immer originell, mögen der Inhalt belanglos oder die Sprecher Lügner sein — in diesen Fällen hörten wir eben die Melodien der Belanglosigkeit und der Lüge.

Als mein Vater später am Gymnasium unterrichtete und soviel Freude an der Leitung des Chores hatte, kam ihm der Gedanke, mit Harry Partchs Theorien zu experimentieren; zunächst gar nicht mit der Absicht, daß dabei Musik herauskomme, er hatte einfach» Lust zu basteln«— Lusthaben bedeutete bei meinem Vater immer Zwang. Er besorgte sich ein Aufnahmegerät und ließ es bei den Proben mitlaufen. Aber nicht der Gesang interessierte ihn, sondern was die Chormitglieder in den Pausen miteinander redeten. Er vermutete nämlich, daß Menschen, die sich zusammenfanden, um zu singen, in den Gesangspausen anders redeten als üblich, nämlich» irgendwie musikalischer«; daß die jedem natürlichen Sprechen innewohnenden Melodien in solchen Momenten» aufschwellen «und somit leichter zu erkennen und aus dem Zusammenhang zu lösen seien. Stunden über Stunden saß er zwischen dem Unterricht am Gymnasium und den abendlichen Chorproben in der Scheune, die er mit Hilfe einiger Chormitglieder zu einem Studio ausgebaut hatte, und hörte die Bänder ab auf der Suche nach einer» Urmelodie«.