Das erste Stück seiner» neuen Musik «trug den Titeclass="underline"
Ich kann mir genausogut vorstellen, ich fahr von jetzt an mit dem Bus in die Stadt, weil, was soll ich mich durch das Churertor drücken und dann find ich eh keinen Parkplatz am Marktplatz.
Und das war bereits der gesamte Text des» Librettos«. Der Satz war von einem Mann gesprochen worden, der in Nofels wohnte und in der Stadt in einer Steuerberaterfirma arbeitete und im Chor eine der Baritonstimmen sang. Mein Vater hatte den Gesprächsfetzen aus gut zwölf Stunden Tonband herausgepickt. (Der Mann hatte den Satz zu meinem Vater gesagt und aus diesem Grund auf hochdeutsch; er wußte ja, daß mein Vater Schwierigkeiten hatte, den Vorarlberger Dialekt zu verstehen.) Er analysierte die Melodie dieses Satzes, entwickelte aus der Melodie eine zweite, dritte und vierte Stimme und setzte sie in Noten für den Chor. Die herkömmliche Notation ließ sich nur unzureichend verwenden; also zeichnete er die Melodiebögen mit verschiedenen Farbstiften auf Papier und sagte den Sängern, sie sollten sich nicht um Tonhöhe oder Takt kümmern, sondern jede Gruppe, die eine Stimme singe, solle selbst herausfinden, welche Tonhöhe und welcher Rhythmus für sie die geeigneten seien; Gespräche zwischen verschiedenen Leuten würden ja auch nicht vorher» gestimmt«, im Sinne von: heute reden wir in A-Dur oder in c-moll. Er erweiterte sein Equipment, indem er für wenig Geld vom Rundfunk drei ausgediente, aber intakte Aufnahmemaschinen erwarb und dazu ein Mischpult; so konnte er die verschiedenen Stimmen, die von jeweils fünf bis sechs Sängern und Sängerinnen erarbeitet worden waren, in einem Verhältnis zusammenbringen, wie es ihm behagte. Das Ergebnis war die Vorlage für das endgültige Stück, das schließlich mit dem Chor einstudiert wurde.
Es war eine Sensation. Zunächst nach innen. Der Chor und sein Leiter erlebten einen Motivationsschub, der dazu führte, daß eine Zeitlang nicht nur einmal in der Woche, sondern jeden Abend geprobt wurde. Die Partner mancher Chormitglieder protestierten; mein Vater lud sie ein, ebenfalls mitzusingen. Es sprach sich herum, daß in dem Dorf Nofels eine aufregende Musik erfunden werde; täglich riefen Leute an oder kamen vorbei, sie wollten mitmachen. Bald trafen sich in unserer Scheune ein- bis zweimal in der Woche fünfzig bis sechzig Männer und Frauen. Und mein Vater komponierte —»bastelte«— weiter, schürfte weiter Musik aus Gerede und verfeinerte das Verfahren, das gewonnene Erz zur Vielstimmigkeit zu veredeln.
Es gelang ihm — unterstützt durch meine Mutter —, den Leiter der Arbeiterkammer zu überreden, den Saal für eine Vorführung zur Verfügung zu stellen. Zwei Drittel des Programms bestand aus herkömmlicher Chormusik, ein Drittel aus» neuer Musik«— wobei auch der erste Programmteil für die meisten Zuhörer verrückt neu war, weil er aus Stücken bestand, die zwar den meisten bekannt waren — Am Brunnen vor dem Tore, In Muatters Stübele, Der Mond ist aufgegangen und andere —, die mein Vater aber jazzig arrangiert hatte. Der Abend wurde ein großer Erfolg. Wenn einige Zuhörer bei den» herkömmlichen «Liedern noch die Nase rümpften, weil sie ihnen zu» neumödisch «klangen, war die Begeisterung bei der tatsächlich neuen Musik einhellig — wahrscheinlich, weil diese Klänge gar nicht mit einer vorhandenen Vorstellung von Musik zusammengebracht wurden; was meinem Vater nur recht war.
Zuerst war allein dieses eine Konzert vorgesehen gewesen, aber immer mehr Veranstalter interessierten sich für die Musik dieses» bunten Vogels aus Nofels«. Konzerte an anderen Orten in Vorarlberg wurden vereinbart, schließlich auch in der Schweiz, in Liechtenstein und in Süddeutschland. Das lokale Radio lud meinen Vater zu einer Sendung ein. Eine Stunde lang wurde er interviewt, dazwischen einige Stücke seines Chors gesendet. Meine Mutter und ich saßen zu Hause in der Küche, die Arme auf der Tischplatte verschränkt, den Kopf schief über dem Radioapparat. Er sprach in gemäßigtem Tempo und charmanten Wendungen, erzählte und erzählte alles mögliche — nur, verdammt noch mal, nicht, daß er in Wien der begehrteste, weil mit Abstand beste Jazzgitarrist gewesen war, und erwähnte auch mit keinem Wort, daß er in New York mit Barney Kessel und John Coltrane gespielt hatte und fast ein Jahr lang mit Chet Baker durch die Vereinigten Staaten von Amerika gezogen war. Meine Mutter und ich waren baff! Warum stellte er sich in den Hintergrund? Schließlich war er ein Weltklassemusiker, spielte in einer Liga mit Wes Montgomery und Django Reinhardt! Daß er sich hier, in dieser Provinz, mit einem Laienchor abgab, hätte vom Reporter wenigstens mit Staunen kommentiert werden müssen, vorausgesetzt, der Reporter hatte auch nur einen blassen Schimmer vom Jazz. Mein Vater hatte ihm vor der Sendung keinen Hinweis auf seine bisherige Karriere gegeben. Meine Mutter und ich waren voll Sorge gewesen, daß er auf seine panisch ungeschickte Art angeben würde; nach der Sendung sorgten wir uns, weil er nicht angegeben hatte. Wir rätselten, was diese Zurückhaltung bedeutete. Meistens, wenn wir nicht wußten, was etwas bedeutete, hatte es etwas Schlechtes bedeutet.
Ja, mein Vater hatte sich vom Jazz verabschiedet. (Nur einmal noch ließ er sich auf diese Musik ein — wenn man von den Konzerten absieht, die er gelegentlich im Treppenhaus der Familie Lukasser vor Frau und Sohn gab; wenige Monate vor seinem Tod spielte er zusammen mit Toots Tielemanns in einem Studio in Zürich, und das auch nur, weil ihn Toots in fast einem Dutzend Briefe darum gebeten und ihm versprochen hatte, selbst nicht auf der Gitarre, sondern nur auf der Mundharmonika zu spielen.) Sicher wäre der Bruch nicht so radikal ausgefallen, wenn nicht ein junger Mann namens Walfried Andergassen bei uns aufgetaucht wäre. Walfried Andergassen — er hatte die Schreibweise seines Namens in» An der Gassen «geändert — war noch nicht dreißig; in Feldkirch geboren und aufgewachsen, hatte er in Wien, Köln und Paris Musik studiert. Er spielte passabel Klavier, hatte auch versucht zu komponieren, war aber in beidem vor seinen Ansprüchen gescheitert und sah sich inzwischen nur noch als Theoretiker. Seit seiner Studienzeit besuchte er regelmäßig die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, dieses alle zwei Jahre stattfindenden Treffen der musikalischen Avantgarde; seit kurzem gehörte er dem Programmbeirat an, der den Leiter des IMD (Internationales Musikinstitut Darmstadt), Ernst Thomas, in der Erarbeitung von Vorschlägen unterstützte. An der Gassen war beim Anhören der Musik meines Vaters außer sich geraten; er müsse, bestürmte er ihn, unbedingt in zwei Jahren (das meinte 1974) zu den Kursen kommen, um dort seine Musik vorzustellen. Mein Vater schrieb mir einen Brief nach Frankfurt — den einzigen, den ich je von ihm bekommen habe —, in dem er mich bat, Informationen über das IMD und seinen Leiter einzuholen und mich nach den Komponisten und Musikern zu erkundigen, die in den vorangegangenen Jahren dort aufgetreten waren — ob das etwas Seriöses sei oder» eben wieder nur so ein Blödsinn«. Ich fuhr nach Darmstadt und erkundigte mich an Ort und Stelle im Schloß Kranichstein, wo die Musiktage stattfanden; und kehrte mit großem Respekt vor meinem Vater zurück, denn ich hatte erfahren, daß nur die Besten der Allerbesten dorthin eingeladen würden, um ihre Kunst zu präsentieren.