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In den folgenden zwei Jahren arbeitete mein Vater an der Musik, die er in Darmstadt vorspielen wollte. Walfried An der Gassen war sein Assistent — sein Assistent, sein Schülerlehrer, sein Kritiker, seine Putzfrau, sein Chefideologe, der Deuter seiner Äußerungen, sein Puppenspieler, sein Dr. Frankenstein — sein neuer Carl Jacob Candoris, mit dem Unterschied, daß er ihm kein Geld zukommen ließ, denn Walfried An der Gassen besaß selbst so wenig davon, daß meine Mutter mutmaßte, er inszeniere das Brimborium nur, um regelmäßig an eine warme Mahlzeit zu kommen; tatsächlich wohnte er in diesen zwei Jahren manchmal über Monate in unserem Haus in Nofels. Ich habe ihn bei einem meiner Besuche kennengelernt — ein gedrungener Mann, der kleiner wirkte, als er war, was er einem kurzen, breiten Hals und zwei im rechten Winkel zum Schädel abstehenden Ohren verdankte; ein nach Rasierwasser riechender Mann mit Kurzhaarschnitt und abgekauten Fingernägeln, der nach jedem Satz geräuschvoll die Luft in die Nase zog; übernervös, voll von Ideen, witzig und schnell im Kopf. Meine Mutter und mich behandelte er ausschließlich unter einem Aspekt: Anhang von Georg Lukasser. Es verging kein Gespräch mit ihm, in dem er uns nicht klarzumachen versuchte, mit was für einem Genie wir unter einem Dach lebten.»Das wissen wir längst«, sagte ich. Er zog eine Braue hoch und blickte mich an, als würde ich Lagerobst verkaufen wollen.»Vergiß den Jazz, Sebastian!«sagte er.»Er hat ihn längst vergessen, tu’s du auch!«Ich setzte dem Herrn An der Gassen auseinander, was er, wenn er sich in einschlägigen Kreisen, zum Beispiel in New York, nach George Lukasser erkundigte, dort zu hören bekomme; einmal wurde ich beinahe ausfällig: Weder meine Mutter noch ich würden es dulden, wenn hier einer eine Gehirnwäsche an Ehemann und Vater vorzunehmen beabsichtige. Nicht New York sei der Olymp, konterte Herr An der Gassen lässig nachsichtig lächelnd, sondern Darmstadt, Darmstadt; Mister John Cage komme aus New York nach Darmstadt, Darmstadt; Monsieur Pierre Boulez komme aus Paris nach Darmstadt, Darmstadt; Signor Luigi Nono komme aus Rom nach Darmstadt, Darmstadt. Úr György Ligeti komme aus Budapest nach Darmstadt, Darmstadt; Pan Krzysztof Penderecki komme aus Warschau nach Darmstadt, Darmstadt; Señor Mauricio Kagel komme aus Buenos Aires nach Darmstadt, Darmstadt …

«Aufhören! Aufhören!«schrie mein Vater.»Bitte aufhören, bitte!«

Die Gibson rührte er nicht mehr an; nicht in den zwei Jahren, in denen er sich auf die Internationalen Ferienkurse vorbereitete. Er mied den Kontakt zu Carl. Es kam oft genug vor, daß er sich von meiner Mutter verleugnen ließ, wenn Carl anrief. Und als Carl und Margarida uns einmal während der Semesterferien besuchten und meinen Vater baten, ihnen doch zu erzählen, mit was für einer Art von Musik er sich zur Zeit beschäftige, knurrte er nur etwas von» ausprobieren «und» eh ein Blödsinn «und erfand Ausreden, um sie nicht in die Scheune führen zu müssen. Carl war zornig. Er sagte aber nichts. Als Margarida ihren Besuch am Telefon angekündigt hatte, war mein Vater vor meiner Mutter und mir auf die Knie gegangen und hatte uns mit gefalteten Händen angefleht, vor Carl ja nicht die Worte Walfried An der Gassen und Darmstadt auszusprechen.

Walfried An der Gassen hatte großen Einfluß auf ihn, er konnte ihm vieles einreden; aber er konnte meinem Vater nicht einreden, etwas sei gut, was dieser für schlecht hielt. Und für schlecht hielt mein Vater bereits die Wiederholung des Guten. Nach einem Jahr der Experimente kam er dahinter, daß die» Sprechmelodiemethode«— eine Worterfindung An der Gassens — nicht schulfähig war. Alle Stücke, die er inzwischen nach dieser Methode komponiert hatte, ähnelten dem ersten. Er warf kurzerhand sämtliche Unterlagen der anderen Stücke ins Feuer — Notenblätter, Buntstiftzeichnungen, Tonbänder. Ich kann mir genausogut vorstellen, ich fahr von jetzt an mit dem Bus in die Stadt, weil, was soll ich mich durch das Churertor drücken und dann find ich eh keinen Parkplatz am Marktplatz — das wolle er vorführen, dieses Stück und nur dieses sei die Quintessenz seines Lebens als Musiker. An der Gassen, der erst entsetzt gewesen war, begeisterte sich bald an dem Gedanken. Das Minimalistische, das gegen null Tendierende hatte es ihm angetan. (Ich war der Meinung — und bin es immer noch —, daß seine gesamte Theorie auf einen Rachefeldzug gegen die im Überfluß Begabten hinauslief.) Nachdem im Programm der Internationalen Ferienkurse 1974 bereits angekündigt war, daß der Komponist Georg Lukasser einen Abend bestreite, das Stück aber gerade einmal acht Minuten lang war, schlug An der Gassen vor, besser: verfügte er, daß der Abend folgendermaßen ablaufen sollte: 1. Abspielen des Tonbandes mit der Musik von Georg Lukasser — 8 min; 2. Vortrag von Walfried An der Gassen mit dem Titel» Theorie der Sprechmelodiemethode anhand eines Stücks von Georg Lukasser«— 75 min; 3. Abermaliges Abspielen der Musik von Georg Lukasser — 8 min. Mein Vater war ohne jeden Einwand damit einverstanden. Meine Mutter nannte An der Gassen einen geisteskranken Dieb, sie drohte meinem Vater, Carl anzurufen; worauf mein Vater ihr ruhig ins Gesicht sagte, in diesem Fall würde er sie verlassen. Ich hielt mich raus.

Sobald sich mein Vater entschlossen hatte, nur dieses eine Stück zu präsentieren, meinte er, Fehler und Schwächen daran zu entdecken. Er begann zu»überarbeiten«. Und ließ sich nicht beraten. Von niemandem. Die Chorproben wurden immer seltener, weil der Chorleiter oft keine Zeit hatte; die Zusammenarbeit mit Walfried An der Gassen kam völlig zum Stillstand — es gebe nichts mehr zu besprechen, war die Begründung meines Vaters. Die Korrekturen an seinem Prototyp waren vielfältig. Zunächst mischte er unter die Chorstellen das» Original«, nämlich den aus seinem Zusammenhang gelösten Satzfetzen des Steuerberaters. Der Chor war aber viel länger als der Satz, also vervielfältigte er den Satz und baute aus den Kopien eine Schleife, verdoppelte und verdreifachte diese Schleife schließlich sogar und breitete sie zu einer Art Soundteppich aus. Um dem Ganzen Körper zu geben, mischte er den Satz, nachdem er das Band auf ein Viertel seiner Geschwindigkeit heruntergefahren hatte, darüber; der Satz war nun zwar nicht mehr zu verstehen, so langsam war er, aber in der Funktion des Basses war er genau richtig. Zum Baß gehört — jedenfalls im Jazz — kontrapunktisch das Hi-Hat beim Schlagzeug, das den Rhythmus erzeugenden Baßtönen die Begrenzung liefert. Um diesen Effekt zu erzielen, vervierfachte er die Geschwindigkeit des Bandes — der Satz wurde zu einem stakkatoartigen Zwitschern und war ebenfalls nicht mehr zu verstehen —, und plazierte ihn als Schleife im Stereo sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite, so daß er zusammen mit dem Baß in der Mitte und der unbehandelten O-Ton-Schleife als Teppich darüber ein stabiles Dreieck bildete. In diesen Rahmen setzte er den Chor — nachdem er auch an ihm einige» Verbesserungen «vorgenommen hatte.

Mit An der Gassen zerstritt er sich schließlich, weil der ihm zu anmaßend gegenübertrat. Er werde, sagte mein Vater, sein Musikstück in Darmstadt präsentieren; aber vorher werde es niemand zu hören kriegen. Niemand. Auch der Herr An der Gassen mußte einsehen, daß die Sturheit meines Vaters nicht zu brechen war. Er kannte ja die erste Fassung des Stücks und wird sich gedacht haben, allzuviel würde sich daran ohnehin nicht ändern. — Er täuschte sich gewaltig!

Darmstadt, Darmstadt. — Die Zuhörer glaubten zuerst an ein technisches Gebrechen. Daß irgend etwas mit dem Abspielgerät nicht stimmte. Nach einer halben Minute schaltete Ernst Thomas das Gerät ab und versuchte, den Tonkopf zu säubern. Aber daran lag es nicht. Mein Vater sagte nichts, er saß auf seinem Sessel, die Arme hochverschränkt und starrte grimmig in die Wand.

Was die Zuhörer so irritierte, war das Rauschen. Das Rauschen überdeckte die Musik; die klang von weither, so als sei ein Sender nicht richtig eingestellt. Zuerst meinten einige der Zuhörer, sie würden zum Narren gehalten —»den Teilnehmern der Darmstädter Ferienkurse kann man alles aufbinden …«; daß mein Vater und Herr An der Gassen sich tatsächlich einbildeten, sie könnten Bandrauschen als Musik verkaufen, nach dem Motto: Früher benutzten die Komponisten den vorhandenen Vorrat an Tönen, um sie in einem Kunstwerk neu zu ordnen, hier schafft ein Kunstwerk neue Klänge pur aus dem verwendeten Material. Tatsächlich probierte der vor Scham und Ärger zitternde An der Gassen diese Argumentation — bis ihm mein Vater kurzerhand widersprach: Das Rauschen sei Folge des oftmaligen Kopierens, das sei alles. Woraufhin An der Gassen auf sein Referat verzichtete.