In der allgemeinen Ratlosigkeit meldete sich einer der Seminarteilnehmer zu Wort. Wenn man leider schon nicht hören könne, was Herr Lukasser komponiert habe, ob er wenigstens bereit wäre, quasi als Ersatz, etwas auf der Gitarre vorzuspielen. Dieser Herr war der einzige, der hier offensichtlich genug von Jazz verstand, um zu wissen, daß mein Vater in dieser Sparte — einst — ein großer Mann gewesen war. Alle waren erleichtert, niemand wünschte sich eine Blamage. Eine Gitarre und ein Verstärker standen in einem der Räume — das Schloß Kranichstein beherbergte während des Jahres verschiedene Musikschulklassen —, man holte die Sachen, und mein Vater, vernichtet und überrumpelt, saß auf einmal inmitten eines Halbkreises, hatte eine minderwertige E-Gitarre auf den Oberschenkeln, und weil ihm gar nichts einfiel, nichts Originelles, keine Kunst, spielte er das alte Zeug, das er vor fünfundzwanzig Jahren in Wien im Embassy-Club in der Siebensterngasse gespielt hatte: Cole Porters In the Still of the Night, Ellingtons In a Sentimental Mood, Tschaikowskys Pathétique im Arrangement von Django Reinhardt, einen Walzer von Lanner, auch den Cowboysong, den er bei seinen Auftritten im Strohkoffer extra für meine zukünftige Mutter in sein Programm genommen hatte; spielte, was er draufhatte, sogar ein, zwei Schrammeln, spielte, was seine Finger draufhatten. Die Seminarteilnehmer waren begeistert, sie wollten mehr hören, immer mehr, noch niemals zuvor sei ein solcher Meister auf seinem Instrument zu den Ferienkursen eingeladen worden!
Aber mein Vater war tieftraurig, und am nächsten Morgen, als alle noch schliefen, verließ er Darmstadt und fuhr nach Hause. Das Tonband, an dem er fast ein Jahr geschnitten und kopiert hatte, war in seinem Koffer, eingewickelt in die frischen Sachen, die gar nicht zum Einsatz gekommen waren. Niemand hatte sein Stück bis zu Ende angehört. Warum auch? Rauschen ist Rauschen ist Rauschen, und wer zehn Sekunden kennt, kennt alles. Er weinte in den Armen seiner Frau. Und fing wieder mit dem Trinken an.
Den Chor gab er auf. Er unterrichtete weiter an der Schule, aber es freute ihn nicht mehr. Ein Jahr lang wollte er von Musik nichts wissen. Er betrat die Scheune nicht, und wenn im Radio Musik gesendet wurde, schaltete er aus oder verließ den Raum. Eines Tages besorgte er sich neue Saiten, spannte sie auf die Gibson auf und spielte wieder. Und er fing auch wieder an, in der Scheune zu basteln. Vielleicht reichte der Mut nicht aus; ich denke, der Mut hatte sich in Whisky aufgelöst — darf ich das sagen? — , am 11. Februar 1976 nahm sich mein Vater, Georg Lukasser, das Leben.
Vierter Teiclass="underline" Adonai
Dreizehntes Kapitel
1
Elf Sekunden Film: Ein Mann in weißem Hemd taucht zwischen den Demonstranten auf. Als hätte er sich aus der Hocke gestreckt. Er hebt einen Arm, reckt ihn weit über seinen Kopf und die Köpfe der anderen. Er blickt in die Kamera. Sein Arm färbt sich dunkel. Sein Hemd färbt sich dunkel, vom aufgekrempelten Ärmel über die Schulter und an der Seite. Wer immer wir auch sein mögen, er winkt uns zu. Blut quillt aus Streifen, die sich von den Handwurzeln bis in die Achselhöhlen ziehen. Das Gesicht des Mannes versinkt wieder in der Menge, aus der es vor elf Sekunden aufgetaucht war.
Elf Sekunden Schwarzweiß aus einer Reportage des japanischen Fernsehens vom Juni 1960, die das deutsche Fernsehen übernommen und bearbeitet hat. Berichtet wird von einer Großkundgebung der Tokioter Studenten gegen den bevorstehenden Besuch des amerikanischen Präsidenten Eisenhower. Zu hören sind fauchende Sprechchöre, im Vordergrund die verzerrte Stimme eines Mannes aus einem Lautsprecher. Darüber der deutsche Kommentar: Die Lautsprecherstimme, so heißt es, warne den Ministerpräsidenten, den Sicherheitsvertrag mit den USA zu verlängern. Die Kamera ist über den Köpfen der Menge positioniert, vermutlich auf dem Rednerpodium, sie hält starr auf ein engbegrenztes Feld. Es läßt sich nicht abschätzen, wie viele Menschen hier versammelt sind. Wenn man allerdings weiß, daß es fast eine halbe Million war, urteilte Carl, liege der Verdacht nahe, daß die Reporter angehalten waren, die Sache herunterzuspielen. Der Mann hatte sich während der Kundgebung mit einer Rasierklinge beide Arme der Länge nach aufgeschnitten. Als die Sanitäter zu ihm durchgedrungen waren, lebte er nicht mehr. Der deutsche Kommentator sprach von einem Selbstmord aus politischen Motiven, bei dem Mann handle es sich um einen» nationalistischen Kamikaze«.
Makoto Kurabashi, Dozent am Mathematischen Institut der Universität Tokio, vierunddreißig Jahre alt. Der Selbstmord hatte mit Politik nichts zu tun gehabt. Warum er sich auf so spektakuläre Weise um das Leben gebracht habe, darüber könne man nur Vermutungen anstellen, sagte Carl; aber das wolle er nicht und könne er nicht, japanische Mystik sei ihm ebenso unzugänglich wie alle andere Mystik auch. Der Grund für diese Tat allerdings sei ihm in Umrissen klar:»Makoto Kurabashi war dahintergekommen, daß Zahlen einen nicht trösten können, daß man mit ihnen keinen Spaß haben kann, nicht über eine ausreichend lange Zeit, daß sie einem nicht zuhören, wenn man sich etwas von der Seele erzählen möchte, etwas Schönes, das man erlebt hat, eine Nacht mit einer Frau zum Beispiel, die beinahe stattgefunden hätte, daß sie weder nach etwas riechen noch nach etwas schmecken, daß man mit ihnen keinen Sex haben kann und daß sie keine Kinder zur Welt bringen.«
Carl fragte mich, was ich von der Szene auf dem Videoband halte.
«Ich finde sie abstoßend«, sagte ich und meinte damit, ich finde abstoßend, wie er die Szene kommentierte.
Er schüttelte den Kopf und ächzte und antwortete, als hätte er meine Gedanken gelesen:»Sag das nicht! Es kränkt mich. Die Zauberwirkung des Abstands bewirkt, daß es beinahe schön ist. «Dann schaltete er mit der Fernbedienung den Fernseher aus.
Carl hatte Makoto Kurabashi gekannt; mehr noch: er war sein» Entdecker «gewesen. Als Master Sergeant Jonathan C. Cousins von der 11. Luftlandedivision den jungen Mann — Makoto war damals gerade neunzehn — zu Carl in das provisorische Büro gebracht hatte, das für seine Abteilung (in der er der einzige Zivilist war) in einer C-47-Transportmaschine mit Motorschaden auf dem strengbewachten Flugplatz Atsugi bei Tokio eingerichtet worden war (die» Büros «waren mit Decken voneinander abgeteilt, damit, falls es eine Interview- oder Verhörsituation notwendig erscheinen ließ, der Anschein von Diskretion entstehen konnte), hatte Makoto eine lange Nacht hinter sich, in der er die Soldaten mit seinen Rechenkünsten und seiner Fähigkeit, sich auch über den Zeitraum einer Stunde ein Dutzend zwölfstelliger Zahlen zu merken, unterhalten hatte, wofür er von ihnen mit Essen und Trinken belohnt worden war. Mit seinen verstrubbelten Haaren, die er sich, wie er Carl erzählte, mit einer Papierschere selbst geschnitten hatte, sah er wie ein Clown aus; dieser Eindruck wurde durch die zwei schiefen Schneidezähne, die ein wenig vorstanden, noch verstärkt. Er wirkte unkonzentriert und nicht bei der Sache. Das Gegenteil war der Fall; vorausgesetzt, die Sache war seine Sache. Sergeant Cousins meinte, der Bursche könne für Carl interessant sein (später breitete er vor Carl seine Theorie aus, nämlich daß Makoto deshalb so gescheit sei, weil er eine Überdosis von den» Atomstrahlen «abbekommen habe; die Tatsache, daß die beiden Bomben ja nicht über Tokio abgeworfen worden waren, brachte ihn keinen Millimeter von dieser Überzeugung ab).»Ein interessantes Studienobjekt«, genau so drückte sich Sergeant Cousins aus — in Makotos Anwesenheit übrigens, der jedes Wort verstand.»Man hat ihn durch die halbe Stadt hierhergeschleppt, weil es hieß, hier sei ein Professor, der von solchen Abartigkeiten etwas versteht. Sie sind doch Mathematiker? Beweisen Sie, daß das mit rechten Dingen zugeht, was der kann. Sollte es nämlich nicht mit rechten Dingen zugehen, habe ich meine Befehle. «Sergeant Cousins stammte aus Los Angeles, seine Mutter war Mexikanerin, sein Vater Nachfahre von Franzosen. Er war verheiratet und hatte Sehnsucht nach seiner Frau und seinen beiden Söhnen, die gerade erst auf den Füßen zu stehen gelernt hatten — er zeigte Carl Fotos, die Buben sahen darauf aus wie Muster vom kleinen traurigen Elefanten. Hier war er für die Quartiere verantwortlich; seine genaue Funktion werde erst noch definiert. Er ließ sich täglich den Hinterkopf kahl rasieren, das Vlies oben sah aus wie eine zu klein geratene schwarze Kappe; er war breit in den Schultern und an der Brust und schmal überall sonst. Noch vor wenigen Wochen hätte Cousins nicht einen Gedanken an einen Rechenkünstler verschwendet, auch an einen feindlichen nicht; inzwischen aber war so viel geschehen, was auch die Klügsten nicht für möglich gehalten hatten, daß eben vieles andere auch möglich schien, nämlich alles mögliche, und es deshalb ratsam war, jedes gemeldete Unerklärliche mit aller zu Gebote stehenden Vorsicht und militärischen Präzision zu behandeln; das hieß in diesem Falclass="underline" Untersuchung durch einen Experten — und so einer war Dr. Jake Candor vom DMAD, warum wäre er, ein Zivilist, sonst wohl hier.»Und worin«, fragte Carl,»bestehen Ihre Befehle, falls irgend etwas nicht mit rechten Dinge zugeht?«Die Frage gab Sergeant Cousins die militärische Selbstsicherheit zurück, die er vor diesem hochgeschossenen Mann in dem lässigen hellen Sommeranzug, der angeblich als einer der crackpots bei der Herstellung der beiden Wunderbomben beteiligt gewesen war, immer wieder einbüßte. Er straffte sein Rückgrat, ließ Augenbrauen und Mundwinkel in ihre gewohnten unerschütterlichen Positionen schnellen und sagte:»Darüber Auskunft zu geben bin ich nicht befugt, Sir. Aber die Kontrolle über diesen Mann untersteht mir. Vergessen Sie das bitte nicht. «Er ließ sich von Carl unterschreiben, daß er Makoto Kurabashi zur Begutachtung übernommen habe — für drei Stunden. Carl ärgerte sich, vor allem weil ihm nicht die geringste Notwendigkeit zu bestehen schien, daß der Sergeant so einen schnarrenden Ton anschlug; und als er mit dem jungen Japaner, der nichts weiter als ein Unterhemd und eine Hose am Leib trug, allein war, entschuldigte er sich für Cousins’ Verhalten: Soldaten seien eben so, amerikanische genauso wie japanische; er selbst habe deshalb nie auch nur den Gedanken gehabt, einer zu werden.