Dies war geschehen am 8. September 1945 — sechs Tage nach der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde durch Außenminister Shigemetsu Mamoru und General Umezo Yoshijiro; dreißig Tage nach dem Abwurf einer Plutoniumbombe auf Nagasaki; dreiunddreißig Tage nach dem Abwurf einer Uranbombe auf Hiroshima.
Wie Frau Mungenast vorausgesagt hatte, war es wärmer geworden. Der Föhn allerdings war ausgeblieben; die Gerüche, die in der Nacht über das Stoppelfeld auf das Haus zugetrieben waren, hatten mein Herz mit so viel euphorischer Wehmut erfüllt, daß alle Sorgen um meine Gesundheit und mein weiteres Leben zerstoben und ich mich am Morgen in hoher Stimmung fühlte, obwohl draußen leichter Regen fiel und ein eher düsterer Tag bevorstand. Ich hatte lange geschlafen, Frau Mungenast und Carl erwarteten mich bei gedecktem Frühstückstisch. Als ich im Morgenmantel das Wohnzimmer betrat, streckte mir Carl seine dünnen Arme aus dem Rollstuhl entgegen.
«Verzeih mir«, sagte er,»bitte, Sebastian, verzeih mir meine gräßliche Laune gestern!«Wir umarmten einander; ich spürte seine zitternde Hand über meinen Hinterkopf streichen, als suche sie in meinen Haaren nach etwas. Seine Stimme war noch ein wenig schleppend infolge des Morphiumpflasters, das ihm in der Nacht frisch aufgelegt worden war.»Wenn dich Frau Mungenast nicht im Hotel Central abgeholt hätte«, fragte er,»was hättest du unternommen?«
«Was hätte ich schon unternommen«, lächelte ich verlegen.»Ich hätte in Innsbruck unten Semmeln eingekauft, hätte mir ein Taxi genommen und wäre rechtzeitig zum Frühstück hier gewesen. Wohin hätte ich denn sonst gehen sollen?«
«Genau das war meine Meinung«, sagte Frau Mungenast und begann, die Semmeln, die sie besorgt hatte, aufzuschneiden und mit Butter zu bestreichen.
Nachdem sie Carl in der Nacht ins Bett gebracht hatte, waren wir noch lange in der Küche gesessen. Sie hatte ein weinrotes Kostüm getragen, das gut auf ihre Figur geschnitten war und sich vorteilhaft in ihre resoluten Bewegungen fügte. Das Rot ihrer Haare biß sich ein wenig mit der Farbe ihres Kostüms. Ihr Mund war mir etwas zu auffällig geschminkt erschienen, auch die Augen, aber vielleicht kam mir das nur so vor, weil sie während ihrer Arbeit ungeschminkt war. Sie erzählte von sich. Daß sie geschieden sei, schon seit fast zwanzig Jahren, daß ihr Mann längst wieder verheiratet sei, daß sie sich manchmal sähen, er lebe in Innsbruck, auch mit seiner Frau habe sie Kontakt, deren Kinder sagen» Tante «zu ihr, was sie gar nicht störe, zwei Mädchen, achtzehn und sechzehn, leider beide fett; daß sie es seither erst einmal wieder mit Heiraten probieren wollte, mit einem Mann, der allerdings so viel geschäftliches Unglück gehabt habe, daß sie sich schließlich von ihm trennte, und zwar mit dem glücklichen Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein; daß sie eine Tochter und einen Sohn habe; die Tochter lebe als Anästhesistin in Salzburg, sei verheiratet, aber kinderlos, wolle auch keine Kinder, ihr Mann auch nicht, er besitze eine Apotheke und ein Labor in der Stadt, ein geldgieriger Zyniker, der seine Frau betrüge, Mitglied der ÖVP sei und im Gemeinderat sitze; ihr Sohn sei Techniker in Zürich, woran er genau arbeite, wisse sie nicht, sie sehe ihn selten, ein sensibler Mann, sie habe sich immer gewünscht, er werde ein Künstler, er habe eine sehr hübsche Frau, die mir sicher gefallen würde, und zwei Kinder, zu denen sie leider keine warme Beziehung habe aufbauen können, bisher nicht. Ich hatte mich vor Frau Mungenast geschämt, weil ich auf Carls schlechte Laune so kindisch reagiert hatte; in der Folge sogar doppelt geschämt, weil sie mich im Hotel Central aufgespürt und mich wie mein Kindermädchen in Carls Mercedes zurück nach Lans gebracht hatte. Nicht eine einzige meiner Stärken (1.? 2.? 3.? …) hatte sie bisher kennengelernt, aber viele meiner Schwächen und Gebrechen. Das gab mir die seltsame Macht dessen, der nichts zu verlieren hat. Sie fühlte sich zu mir hingezogen, das spürte ich, und ich war mir sicher, wenn ich sie gefragt hätte, ob sie sich in dieser Nacht zu mir legen wolle, sie hätte nicht nein gesagt. Ich dachte auch, sie hat sich für mich schön gemacht; und ich hätte mich gern für sie schön gemacht. In meinem Zimmer hing ein Anzug, der schon seit zehn Jahren dort hing, ein schicker, kakaobrauner Dreiteiler, der mir wahrscheinlich immer noch paßte. Und wenn ich mich rasiert hätte. Und wenn ich mir die Haare frisch gewaschen hätte. Und wenn ich ein bißchen mehr Sonnenfarbe im Gesicht gehabt hätte. Es wäre freilich nichts daraus geworden; hätte ja gar nichts daraus werden können. Sie zupfte ein borstiges Haar in meiner Braue zurecht; ich sah, daß nun sie verlegen war, weil sie darauf wartete, daß ich den nächsten Schritt setzte. Wenn sie lachte und die Lippen wieder schloß, sah es aus, als nehme sie noch einen Schluck Luft; ihr Mund blieb ein wenig spitz und ließ eine kleine schwarze Öffnung. Ich hielt ihre Hand fest, wußte kein anderes Entgegenkommen, als mein melancholisches Lächeln aufzusetzen, das eines meiner besten ist, und preßte mein Auge gegen ihren Daumenballen. Und das war alles, aber es war schön gewesen. Und dann hörten wir Carl in seinem Bett schreien, und wir zuckten zusammen, als hätte uns derselbe Pfeil durchbohrt.