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Schließlich mußte Makoto das Sanatorium verlassen. In seinem Koffer war alles, was er besaß: zwei weiße Hemden, Strümpfe für Sommer, Strümpfe für Winter, Unterwäsche, eine Uhr, eine Logarithmentafel und Papier. Und eine kleine Taschenlampe, die war ihm das wertvollste. Die Batterie war längst leer, aber er beabsichtigte, sobald er Geld verdiente, eine neue zu kaufen. Die Heimleitung hatte ihn auf einen Weg geschickt. Makoto aber hatte nicht richtig zugehört und vergessen, was ihn am Ende dieses Weges erwartete. So ging er durch die Straßen, wechselte die Seiten, bog nach links ab, bog nach rechts ab, wechselte abermals die Seite, als wäre die Stadt ein Zahlenfeld und er der Mann mit dem Helm und den Schaufelhänden und ein anderer aus einem anderen Traum gäbe ihm die Befehle. Schließlich stellte er seinen Koffer neben sich auf das Trottoir und wartete. Die Hände in den Jackentaschen. Die Schultern ein wenig hochgezogen. Eilende Schritte waren um ihn herum. Er stand niemandem im Weg. Störte niemanden. Selbst die Spatzen kümmerten sich nicht um ihn und nahmen zu seinen Füßen ein Staubbad, hinterließen kleine, kreisrunde, saubergefegte Flecken auf dem Asphalt. So flach atmete er, daß er meinte, er benötige bald auch die Luft nicht mehr. Der Hunger erlosch, und die Gedanken erloschen. So stand er bis in die Nacht hinein neben seinem Koffer. In seinem Gesicht ein aufsteigendes Lächeln. Das hielt er fest mit unbewußter Kraft, damit er, falls ihn doch jemand anspräche, leichter zu sich zurückfände.

Jemand sprach ihn an — es muß wohl so gewesen sein. Makoto erinnerte sich nur an wenig; er sei in ein Krankenhaus gebracht worden, aber dort habe man ihn nur ein paar Tage behalten. Dr. Yamazaki, einer der Ärzte, habe in seinem Haus ein Bett für ihn aufgestellt; aber auch hier konnte er nur wenige Tage bleiben. Er wurde in einem provisorischen Sanatorium aufgenommen, das überfüllt war und nur wenig Personal hatte. Dr. Yamazaki besuchte ihn und brachte ihm Medikamente. Das war nicht legal. Makoto mußte ihm versprechen, daß er mit niemandem darüber redete. Der Doktor hatte zwei Söhne, die waren etwas älter als Makoto, beide dienten in der Armee, der eine war in der Mandschurei stationiert, der andere kämpfte auf der Insel Guadacanal gegen die Amerikaner. Dr. Yamazaki hatte Makoto seiner Frau zuliebe in sein Haus aufgenommen, damit sie in ihrer Sorge abgelenkt würde; aber dann war sie zum Arbeitsdienst eingezogen worden, und auch er hatte nicht die Zeit, sich um den Patienten zu kümmern, wie es notwendig gewesen wäre. Nach einem halben Jahr wurde Makoto aus dem Sanatorium als geheilt entlassen. Wieder nahm ihn das Ehepaar Yamazaki bei sich auf. Makoto hustete noch, aber seine Genesung schritt voran. Als er genügend Kraft gewonnen hatte und auch nicht mehr so stark schwitzte, verschaffte ihm der Doktor eine Arbeit als Pfleger im Krankenhaus, in dem er als Arzt tätig war, und auch eine Unterkunft, und er setzte sich dafür ein, daß Makoto an der Universität Vorlesungen besuchen durfte, bei denen es um Zahlen ging.

Die amerikanische Luftwaffe flog Angriffe auf Kobe, Osaka, Nagoaka und auch Tokio. Dr. Yamazaki ließ seinen Schützling in die Wäscherei des Krankenhauses versetzen, er fürchtete, sein labiler Gesundheitszustand könnte unter den Belastungen des Pflegedienstes leiden. Erst arbeitete Makoto an den dampfenden Bottichen, in denen die Verbände und die Wäsche ausgekocht wurden, später nahm ihn eine der Frauen zu sich in die Büglerei. Sein Husten hatte sich in den Laugendämpfen wieder verschlimmert. Er war der einzige Mann hier unten. Die Frauen mochten ihn. Er unterhielt sie, indem er dreistellige Zahlen im Kopf schneller miteinander multiplizierte, als es ihnen auf dem Papier trotz Vorsprung gelang.»Wie machst du das?«fragten sie, und er lächelte, und sie liebten ihn, als wäre er ein Verwandter. Die Frauen waren sich einig, daß aus ihm einmal ein schöner und erfolgreicher Mann würde, er sollte sich nur vornehmen, mindestens eine halbe Stunde am Tag seinen Daumen gegen seine Schneidezähne zu drücken, damit die sich geradestellten. Er spannte die Leintücher in die Pressen und faltete sie, ließ das Eisen über die Verbände gleiten und wickelte sie auf einer Handkurbel zu prallen Rollen, legte Nachthemden zusammen und stapelte sie in die Gitterwägen.

Vom Untergang der Stadt Hiroshima erfuhr er vierundzwanzig Stunden, bevor die Bombe auf Nagasaki abgeworfen wurde. Eine einzige Bombe, berichteten die Frauen, habe alle Häuser zerstört und alle Menschen getötet, hunderttausend. Makoto glaubte es nicht, und die Frauen glaubten es auch nicht. Aber als die zweite Bombe fiel, glaubten sie es. Sie meinten, nun komme eine Stadt nach der anderen an die Reihe, als letzte die Hauptstadt. So, sagten die Frauen, würden sie es machen, wenn sie die Amerikaner wären. Sie fürchteten sich nicht. Sie verrichteten ihre Arbeit, wie wenn ihnen jemand garantiert hätte, daß auch nach dem Untergang gedämpfte Leintücher und gebügelte Nachthemden gebraucht würden.

In der Nacht fiel eine Bombe auf das Krankenhaus. Am nächsten Morgen, als Makoto zur Arbeit antreten wollte, fand er die Straße nicht mehr. Von nun an trieb er sich zwischen den Ruinen herum. Er wurde von amerikanischen Soldaten aufgegriffen und wieder freigelassen, nachdem er ihnen mit seinen Rechenkünsten einiges Vergnügen bereitet hatte. Er kam wieder, führte neue Tricks vor, nahm Dollars dafür, obwohl er damit nichts anfangen konnte. Man gab ihm Essen und Zigaretten und ließ ihn schlafen, wo er sich gerade hinlegte. Manchmal warf man ihm eine Decke zu. Selbst die Katastrophe vermochte ihn nur kurze Zeit von seinen Zahlen abzulenken.

3

Es entsprach der von Carl bevorzugten Dramaturgie, bei einer Geschichte an ihrem Ende zu beginnen und in der Erzählung nachzuholen, wie es dazu gekommen war. Ich vermutete hinter dieser Methode einen Bescheidenheits-Trick; ich meine damit, er suggerierte dem Zuhörer zunächst, daß es im folgenden nicht um ihn, den Erzähler, sondern um einen anderen gehe, um dann in der Vorgeschichte doch von sich selbst zu erzählen; damit bekam die Geschichte des Erzählers doppeltes Gewicht — erstens ihr eigenes, zweitens das als Vorgeschichte zu einer anderen, bereits als sensationell angekündigten Begebenheit. Ich weiß nicht, ob sich Carl des Raffinements dieser Strategie bewußt war, ich denke aber, man würde ihn unterschätzt haben, wenn man geglaubt hätte, er wäre es nicht.

Die Vorgeschichte zu der Begegnung mit Makoto Kurabashi —»diesem Erwählten, hätte er die Wahl nur angenommen«,»meinem verlorenen Bruder«— beginnt im Frühling 1935 in Kinnelon, New Jersey, bei der Party zu Ehren von Emmy Noether, auf der Carl, wie ich bereits berichtet habe, Abraham Fields kennengelernt hatte.

Ebenfalls lernte er bei dieser Gelegenheit Major Rupert Prichett von der britischen Royal Air Force kennen. Ihn nun traf er dreieinhalb Jahre später in London wieder — und dieses Treffen war folgenschwer.

Carl war geschäftlich in London, für Bárány & Co., es ging um schottischen Whisky und den Gegenhandel mit Portwein. Er war aus Paris gekommen, wo er sich mit einem belgischen Kakaohändler, einem Senfkocher aus Dijon und zwei selbstbewußten Vertretern einer Käsereigenossenschaft aus der Auvergne getroffen hatte. Außerdem — und das war der Grund, warum er an diesem und auch an den folgenden Tagen in einer — wie er es nannte —»so leichtfertigen Stimmung «war — hatte er am Abend im Hot Club de France in der Rue Chaptal am Fuß des Montmartre Django Reinhardt gehört — zum erstenmal. Merkwürdigerweise waren es die Bauern aus der Auvergne gewesen, die ihn auf den Club und seinen Star hingewiesen hatten.»Django, il était la musique fait l’homme!«Carl war schon an den Abenden zuvor durch die Stadt gezogen, von einem Jazzclub zum anderen, wie immer, wenn er in Paris war, auf der Suche nach einem Erlebnis, das den Flash erneuern sollte, den in New York das Konzert mit Billie Holiday — die Initiation! — in ihm ausgelöst hatte. Er hatte die fabelhafte, in diesem Sommer in Paris so heftig umjubelte kubanische Frauenband Anacoana im Nobelclub Les Ambassadeurs an den Champs-Elysées gehört; er war begeistert gewesen und vom Tisch aufgesprungen und hatte, was gar nicht seinem Naturell entsprach, laut» Brava! Brava!«gerufen; aber in der Nacht im Hotel war er aufgewacht in der zehrenden Unbefriedigtheit eines Süchtigen.»Allein die Tatsache, daß ich bei meinem Ausbruch die weibliche Form der Begeisterung gewählt hatte, sagte mir: Das war’s nicht. «Django Reinhardt an der Gitarre, Stéphane Grappelli an der Geige — das war’s. Im Zug nach Calais hatte er nur diese Musik im Kopf gehabt; die Felder und Dörfer, die Hügel und die Kathedralen am Horizont waren an ihm vorübergezogen wie Illustrationen zu den Klängen aus der Geige und der Gitarre. Besonders angetan hatte es ihm My Serenade, diese träge Melodie voll melancholischer Erotik, bei der, wie bei den meisten Stücken des Quintetts, die Gitarre den männlichen Part, die Geige den weiblichen übernahm. Grappellis rhapsodischer Legatostil mit den verschleppten Akzenten, der für sich zu weich, zu schnulzig gewesen wäre, war von den harschen, kantigen Gitarrensoli an die Kandare genommen worden — eigentlich schamlos, mitten auf der Bühne. Die Band hatte das Stück gleich dreimal an diesem Abend gespielt, jedesmal in einer anderen Improvisation. Promiskuitiv!