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Er wolle nicht herumreden, sagte Prichett mit vollem Mund, er arbeite mit dem SIS, dem Secret Intelligence Service, zusammen. Er habe sich in Kinnelon, nachdem Carl nach New York City zurückgefahren sei, bei Frau Professor Noether nach ihm erkundigt; sie habe sehr warmherzig von ihm gesprochen und sei mit ihrem Wort dafür eingestanden, daß ihr ehemaliger Student Candoris erstens: ein hervorragender Wissenschaftler sei, einer der besten auf seinem Gebiet, ohne Zweifel der beste, den sie jemals zu einer Dissertation begleitet habe; vor allem aber, daß er, zweitens: mit den neuen Machthabern in Deutschland mit absoluter Sicherheit nichts zu tun haben wolle. So traurig er darüber sei, daß Frau Professor Noether nicht mehr lebe, wisse er doch, daß ihr dadurch viel Kummer erspart geblieben sei, wenn man bedenke, wie es vielen ihrer Freunde in Deutschland seither ergangen war. Inzwischen sei auch den friedliebendsten Politikern in Europa klargeworden, daß Herr Hitler einen Krieg wünsche; er, Prichett, sei sogar der Meinung, daß dieser Führer in Wahrheit den Krieg um seiner selbst willen anstrebe, seit allem Anfang an angestrebt habe, daß alle Gründe, die er nennen werde, wenn er ihn erst vom Zaun gebrochen habe, vorgeschoben sein würden.»Er will den Krieg. Die Ziele sind zweitrangig, die Gründe nicht einmal das. Also wird dieser Krieg kommen, denn es kann gar keine Bedingung geben, unter der er darauf verzichten wird. «Wie kein anderer Krieg in der Geschichte werde dieser Krieg ein Krieg der Maschinen sein, und er werde entscheidend am Himmel ausgetragen; diese Einschätzung gründe nicht in der Tatsache, daß er selbst Offizier der Royal Air Force sei, sondern werde von allen Waffengattungen geteilt. Und: Dieser Krieg werde in den Laboratorien und den technischen Versuchsanstalten, den Universitätsinstituten und Forschungseinrichtungen gewonnen.

«Seit Hitler an der Macht ist, bemühen sich England und Amerika um die deutschen Wissenschaftler. Die besten haben uns die Nazis von selber geschickt. Aber viele sind in Deutschland geblieben. Es sind hochkarätige darunter. Heisenberg, von Weizsäcker oder der hochverehrte Max von Laue, den Sie sicher aus Ihrer Göttinger Zeit noch kennen, auch Otto Hahn. Frau Dr. Noether hat mir versichert, daß sie keinem ihrer ehemaligen Kollegen zutraue, daß er mit den Nazis zusammenarbeite. Frau Noether war ein grundgütiger Mensch, politisch naiv, sie hat in niemandem das Schlechte gesehen, das brauche ich Ihnen nicht zu erzählen, Sie kannten sie besser als ich. Sie hatte sich geirrt, das wissen wir definitiv.«

Ohne daß ihn Carl auch nur einmal unterbrochen hätte, kam Mr. Prichett zum Schluß:»Sie sind für uns ein idealer Mann, Dr. Candoris. Sie haben sich während Ihrer Zeit in Deutschland nicht politisch auffällig engagiert, Sie leben in Portugal, aber nicht als Flüchtling, Sie sind inzwischen Geschäftsmann, der oft in Deutschland zu tun hat. Sie sind — verzeihen Sie, das ist in dieser Zeit nicht unbedingt ein Kompliment — durch und durch unverdächtig. Sie kennen viele deutsche Wissenschaftler und können mit ihnen in Verbindung treten, ohne daß jemand argwöhnisch würde. Woran arbeiten Ihre Kollegen in Deutschland? Das wollen wir wissen. Helfen Sie uns, es herauszufinden!«

Mr. Prichett sagte, er müsse sein Wasser abschlagen; so lange gebe er Carl Zeit, sich zu entscheiden. Er stellte sich ein paar Schritte von der Bank entfernt an einen Baum; Carl konnte zwischen seinen leicht gespreizten Beinen hindurch sehen, wie der Urin schäumend am Baumstamm entlanglief und im Gras versickerte.

«Ja«, sagte er,»ich werde es tun!«

Im Jänner des folgenden Jahres fuhr Carl nach Berlin; dort besorgte er sich — wie immer, wenn er in einer deutschen Universitätsstadt war — die neueste Nummer von Naturwissenschaften, jenem Periodikum, in dem deutsche, aber auch — noch — internationale Naturwissenschaftler ihre Erfahrungen mitteilten und diskutierten. Diese Ausgabe nun enthielt einen Aufsatz von Otto Hahn, der in einem merkwürdig unsicheren, beinahe zum Greifen wackeligen Stil verfaßt war. Der» Kernchemiker«, wie er sich nannte, berichtete von Experimenten, die Madame Joliot-Curie vor ihm in Paris angestellt und die er zusammen mit seinem Kollegen Straßmann mit exakten radiochemischen Methoden nachgeprüft habe. Es handelte sich um die Beschießung von Uran mit langsamen Neutronen. Dabei sei ihm und Straßmann ein physikalisch unerklärliches Resultat gelungen, nämlich: In den Reaktionsprodukten fand sich ein Stoff, der vorher nicht dagewesen war; es handelte sich ohne Zweifel um Barium, ein Element von nur halbem Gewicht des Urans. Dieses unbegreifliche Vorhandensein des Bariums könne nur durch vorausgegangenes» Zerplatzen «des Urankerns und einer daraus folgenden Umwandlung eines Elements in ein anderes erklärt werden, wobei sich ein Teil der Materie in Energie verstrahlt habe.

Er habe zuwenig von Kernphysik verstanden, um die Tragweite dieser Entdeckung abschätzen zu können, sagte Carl. Aber er habe an der Art und Weise, wie der Artikel formuliert war, gespürt, daß hier einer die Sätze in Eile niedergeschrieben hatte, zitternd gleichermaßen vor Begeisterung und Entsetzen; und er erinnerte sich an die Gespräche mit dem Freund Eberhard Hametner in Göttingen, als der versucht hatte, ihm darzulegen — auch er zitternd vor Begeisterung und Entsetzen —, daß in dem winzigsten Winzigen unvorstellbare Energien gebunden seien, die eines Tages zu befreien allerdings nur eine Institution das Geld aufbringen werde, nämlich das Militär. — Dafür, dachte Carl, würde sich Major Prichett sicher interessieren. Prichett sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an, sagte, auch in England verstehe man wissenschaftliche Aufsätze zu lesen, inzwischen sogar, wenn sie in deutscher Sprache geschrieben seien; das hier wisse man bereits alles. Aber er lobte ihn auch; Carl bohre genau an der Stelle, für die man sich interessiere.

Carl hielt sich nicht an das Versprechen, das er Prichett gegeben hatte, mit niemandem über seinen Auftrag zu sprechen. Carl hatte —»selbstverständlich!«— Margarida von Anfang an alles erzählt.»In ihren Augen war ich nun ein Widerständler. Sie war stolz auf mich. Ich wußte, daß sie stolz auf mich sein würde, und deshalb hatte ich ihr erzählt, daß ich von nun an eine Art Agent gegen Nazideutschland war. Daß mir irgend etwas zustoßen könnte, nun, daran wird sie schon gedacht haben, aber geglaubt hat sie es nicht. Sie hielt mich immer für einen alten Mann. Für einen sehr alten Mann. Für einen Mann, der in seinem Inneren immer schon so alt war, wie ich jetzt erst geworden bin. Und so einer stirbt nicht, bevor er nicht auch äußerlich dieses Alter erreicht hat. — Ich war damals dreiunddreißig …«

4

Carl ließ seinen Vertrag an der Universität Lissabon nicht weiter verlängern und übersiedelte — allein — im Frühsommer 1939 nach Berlin. Er mietete ein Büro, von wo aus er den Handel mit amerikanischem Whiskey (über das Kontor in Lissabon) organisierte — sehr erfolgreich übrigens, wie Senhor Costa Caeiro voll Sorge und Bewunderung zugeben mußte —, wohnte aber im Hotel, weil er vor den Behörden weiterhin als seinen Wohnsitz Lissabon ausweisen wollte — das hatte ihm Prichett geraten. Er knüpfte Kontakte zu Wissenschaftlern — was ihm als» Göttinger «nicht schwerfiel. Zwei Männer seien, hatte ihm Prichett gesagt,»zum Einstieg «besonders wichtig: Paul Rosbaud und Manfred von Ardenne.

Rosbaud war wissenschaftlicher Lektor beim Julius Springer Verlag, in dem die Zeitschrift Naturwissenschaften erschien; er hatte für den Aufsatz von Hahn und Straßmann das Dezemberheft in letzter Minute umgestaltet — die Neuigkeit müsse so schnell wie möglich in die Welt hinaus. Er stammte aus Österreich; er habe sich, wie er in breitem Berlinerisch in die Runde verkündete, seit Jahren danach gesehnt, endlich wieder einmal in den sieben Wiener Dialekten zu sprechen — ottakringerisch, meidlingerisch, hietzingerisch, hernalserisch, leopoldstädterisch, josephstädterisch und alsergrundlerisch. Rosbaud ließ keine Gelegenheit aus, ein Fest zu feiern; außerdem hatte er im Verlag einen wöchentlichen Jour fixe eingerichtet, an dem sich vor allem Autoren des Verlags, aber auch Gäste aus dem Ausland sowie aufgeschlossene Dilettanten trafen. Er schien jeden interessanten Menschen zu kennen, der Deutschland noch nicht verlassen hatte. Carl nahm er in den Kreis auf, als wäre er ein alter Freund. Über Rosbaud lernte Carl Wissenschaftler kennen, die an den Kaiser-Wilhelm-Instituten von Berlin und Heidelberg experimentierten, aber auch Mitarbeiter des Amtes für Technik der NSDAP wie den nachgerade monströs ehrgeizigen Professor Drescher-Kaden (dessen Lebensziel es war, Dekan der Universität Göttingen zu werden; was er 1940 auch wurde, nur war diese Universität dann nicht mehr, was sie weiland gewesen war) oder Otto Haxel vom Marinewaffenamt oder Heinz Große-Allenhöfel, den persönlichen Assistenten von Abraham Esau, dem Präsidenten der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. Und er lernte Wilhelm Jobst kennen, einen jungen, eierköpfigen Physiker, der gerade von der Universität Jena nach Göttingen gewechselt war, aber oft» in der Hauptstadt zu tun «habe, wie er mit flatternden Augenbrauen und in wichtigtuerischem Geheimniston Carl verriet. Jobst sah in Carl einen Vertreter des» goldenen Göttinger Zeitalters«, einen aus der» alten Garde«, womit er ja wohl nur jene Wissenschaftler meinen konnte, die zu einem großen Teil von seinesgleichen aus Göttingen vertrieben worden waren — Jobst war selbstverständlich Mitglied der NSDAP, aber auch Mitglied der SS im Rang eines Obersturmführers, er hatte an der Universität Jena den sogenannten» Assistentensturm «gegründet, eine Vereinigung des akademischen Mittelbaus, die in ihren Statuten als Ziel die Definition einer deutschen Physik, einer deutschen Chemie und einer deutschen Mathematik angab. Er wollte Carl imponieren; seine streberische Eitelkeit würde sich, dachte Carl, vielleicht ausnützen lassen.