Carl und Sergeant Cousins teilten sich den Tag. Die Vormittage verbrachte Carl mit Makoto; an den Nachmittagen bekam Makoto Fahrunterricht — bereits nach zwei Tagen spielte Cousins selbst den Lehrer. Makoto schien sich für beides zu interessieren — für die Mathematik am Vormittag und fürs Lastwagenfahren am Nachmittag. Anfänglich, als Carl und Cousins noch gemeinsam an ihrem Schutzbefohlenen» arbeiteten«(und es durchaus auch so formulierten), tauschten sie ihre Beobachtungen und Erfahrungen noch aus. Ihre Phantasie reichte allerdings nicht bis dorthin, wo sich ein Bild von dem entwerfen ließ, was in dem jungen Mann vorgehen mochte. Makoto war immer gut gelaunt, immer zu Clownerien aufgelegt. Die Soldaten drüben beim Reparaturfeld hatten ihren Spaß mit ihm. Sie riefen ihm sechsstellige Zahlen zu, damit er sie multipliziere, wobei Makoto das Ergebnis wußte, ehe der Frager Atem geholt hatte. Bei Divisionen, die nicht aufgingen, rechnete er bis auf zehn, zwölf, fünfzehn Kommastellen; dabei schloß er die Augen und vollführte mit dem Kopf seine Achterschleifen, verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen, beschwichtigte Carl und Cousins aber: es tue ihm nichts weh, gar nichts. Die Soldaten lachten und äfften ihn nach; aber sie meinten es nicht böse, es war eben ihre Art zu staunen. Carl und Cousins ließen das bald nicht mehr zu. Sie hielten die Mannschaft von ihrem Wunderkind fern — und das Wunderkind von der Mannschaft. Auch das schien Makoto recht zu sein. Er beschwerte sich nicht, fragte nicht nach. Genau damit aber hatte Carl gerechnet; er hatte ihn beobachtet, wenn er mit den Soldaten zusammen war; er schien sich bei ihnen wohl zu fühlen, er kannte einige beim Namen, und er genoß es sichtlich, wenn der Jubel ausbrach, nachdem einer der Soldaten mit Bleistift und Papier eine Division oder eine Multiplikation nachgerechnet hatte. Bei den Soldaten gab sich Makoto anders als bei Carl. Er spielte ihnen etwas vor — den naiven Tor nämlich, der weder über die Situation, in der er sich befand, noch über sich selbst reflektierte; was war er denn: ein vater- und mutterloser junger Mann, dessen gesamter Besitz in seine zwei hohlen Hände paßte, der sich am Rande einer zur Unkenntlichkeit zerbombten und verbrannten Stadt bei jenen Männern aufhielt, die an der Zerstörung seiner Welt mitgewirkt hatten. Die Soldaten mochten ihn gern; aber so, wie man ein abgerichtetes Äffchen gern mag. Bald langweilte sie seine Zauberrechnerei, und sie wandten sich anderen Themen zu — Frauen und Geld; und in diese Gespräche bezogen sie Makoto nicht ein. Der blieb noch eine Weile bei ihnen sitzen, bewegungslos, still, und schlich sich schließlich davon, ohne daß sie es merkten. Sie wollten im Grunde nichts mit ihm zu tun haben, das war offensichtlich, er war ihnen zu kurios, ein freak. Jeder andere wäre darüber gekränkt gewesen — Makoto war es nicht. Daraus schloß Carl, daß er seinerseits mit den Soldaten im Grunde nichts zu tun haben wollte; daß sie ihm mindestens ebenso gleichgültig waren wie er ihnen.
Cousins gegenüber verhielt sich Makoto wieder anders. Er bewegte sich anders, als er sich in Carls Gegenwart bewegte. Sein Gang wurde schwer und plump, mit den Armen schlenkerte er weit aus, die Hände waren geöffnete Fäuste, als hätten sie gerade derbes Gerät fallen lassen; er kaute Kaugummi, blinzelte auf einem zugekniffenen Auge, spuckte durch seine schiefen Zähne einen weiten Bogen. Seine Stimme senkte sich; seine Sprechweise und sein Englisch, die sonst — das heißt, wenn er mit Carl sprach — satzvollendend und erstaunlich wortreich waren, wenn man bedenkt, daß er zuvor nie mit genuin Englischsprachigen zu tun gehabt hatte, präsentierten sich nun floskelhaft und abgehackt, aufdringlich verschliffen; bereits nach wenigen Sätzen hatte Carl Mühe, sich vorzustellen, daß derselbe junge Mann noch am Vormittag eine so überraschend originelle Überlegung, betreffend einen Beweis für die Annahme, daß sich jede gerade Zahl als Summe von zwei Primzahlen schreiben läßt, vorgetragen hatte. Am Nachmittag gab Makoto den LKW-Fahrer, den Mann, der für alles zu gebrauchen war, auf den man sich in jeder Situation verlassen konnte, der auf jede Theorie pfiff, der zur Crew gehörte. Cousins jubelte:»Ich habe etwas völlig Falsches in ihm gesehen. Ich dachte, er ist ein verwöhnter Intellektueller, bei dem man aufpassen muß, daß er sich nicht erkältet, wenn man beim Fahren das Fenster öffnet.«—»Und wie ist er wirklich?«fragte Carl. — Darauf wußte der Sergeant freilich keine Antwort, die ihn selbst zufriedengestellt hätte. Carl, der mit einem Gemisch aus Rührung, Eifersucht und Forscherneugier die Veränderung in Makotos Wesen beobachtete, hätte wohl eine parat gehabt: Makoto ist, wie sich Sergeant Jonathan S. Cousins wünschte, daß seine Söhne eines Tages werden. Cousins nannte ihn auch» mein Sohn«. Daß Makoto eine» komplizierte Rechenmaschine «sei, wollte er nie gesagt haben. Wie Carl nur auf so einen Ausdruck komme!» So falsch ist der Ausdruck gar nicht«, entgegnete Carl kleinlaut.
Nur wenn Makoto mit ihm zusammen war — daran zweifelte Carl nicht einen Augenblick —, war er er selbst. Sie spazierten von den Baracken zum Stacheldrahtzaun am Ende des unbenutzten, vom Unkraut aufgerissenen Teiles der Landebahn, spazierten weiter am Zaun entlang bis zum äußersten Wachposten (hier stank es nach dem Müllhaufen auf der anderen Seite des Zauns; die Soldaten hatten aus Jux eine Art mittelalterlicher Schleudervorrichtung gebaut, mit deren Hilfe sie den Abfall der 11. Luftlandedivision nach draußen beförderten); kehrten um und gingen den gleichen Weg zurück. Das waren zusammen knapp drei Kilometer unter dem immer gleichmäßigen Stahlglanz des Himmels; meistens gingen sie die Strecke dreimal hintereinander. Sie sprachen über nichts anderes als über Zahlen —»Erkundung des Zahlenuniversums «nannte es Carl, als wäre der Vormittag Schulunterricht mit nur einem einzigen Fach. Makoto gab sich in Carls Gegenwart weder verspielt wie bei den Soldaten noch als der Haudegen wie bei Cousins; er war bescheiden, selbstbewußt, in seiner Art zu sprechen präzise und sachlich — erwachsen. Und brillant! Carl erzählte ihm von Hilberts Problemkatalog von 1900 — in Erinnerung, daß die Ambition, wenigstens eines dieser Probleme zu lösen, einst den Ausschlag gegeben habe, daß er selbst Mathematik und nicht Ornithologie studiert hatte. Manchmal blieben sie stehen, weil Carl mit einem Stück gelber Kreide das Koordinatensystem oder irgendwelche Gleichungen auf den Asphalt malte. Er merkte bald, daß er Makoto Anspruchsvolles zumuten durfte. Eines Tages hielt er ihm einen zweistündigen Vortrag über die Riemannsche Landschaft und deren Nullstellen, dieses merkwürdige imaginäre Bergmassiv, auf dessen höchstem Gipfel das Geheimnis der Primzahlen verwahrt war. Wie es schien, hatte er damit genau Makotos Interesse getroffen —»Interesse «war natürlich ein viel zu schwaches Wort, Makoto war süchtig nach diesen Kernbausteinen der Mathematik. (Erst viel später kam Carl der Gedanke, daß Makoto vielleicht nur die Begeisterung seines Lehrers reflektiert und verstärkt hatte — wäre es nicht ein höchst merkwürdiger Zufall gewesen, wenn diese manische Fixierung auf die Primzahlen sie beide betroffen hätte? — , daß Makoto also lediglich ein bereitwilliger Spiegel gewesen war und er, Carl, in ihm, dem übertalentierten Chamäleon, nur sich selbst gesehen hatte, allerdings ins Monströse überzerrt. Damals hatte ihm Makoto noch nicht von den Zahlenfeldern erzählt, die er vor sich sah, wenn er die Augen schloß, und natürlich auch nicht von dem kleinen Mann mit dem Helm und den Schaufelhänden, der für ihn die tingeltangelhaft rasanten Multiplikationen und Divisionen durchführte, sozusagen als lockere Freizeitbeschäftigung zwischen seinen gedankenschnellen Läufen zum unendlich weiten Horizont seines Weltkreises, dabei alle Zahlen markierend, die durch eins und durch sich selbst und sonst durch nichts geteilt werden können, in der verrückten Hoffnung, irgendwann einen Algorithmus zu finden, der ein Schlüssel wäre, der in alles, in alles paßte. Diese Landschaft, erzählte er Carl zehn Jahre später während eines Kongresses, habe sich durch Carls Erläuterung der Riemannschen Vermutung zu einem Gebirge gehoben, und zwar innerhalb weniger Minuten.) Daß er ihm nicht ebenfalls nur etwas vormachte, schloß Carl aus der Tatsache, daß Makoto Sergeant Cousins belog, als dieser ihn einmal fragte, was sie beide denn bei ihren vormittäglichen Spaziergängen redeten. Makoto sagte:»Jake hat mir von seiner Kindheit in Wien erzählt und ich ihm von meiner Kindheit hier. «Nicht ein Wort in dieser Richtung war jemals zwischen ihnen gefallen. Ohne daß sie es ausgesprochen hätten, waren sie sich einig, daß ein Mann wie Cousins es nicht zu verstehen vermochte, daß es eine Lust war, über Zahlen zu sprechen und dabei keinen Gedanken über den Gebrauch außerhalb ihrer selbst aufzubringen. Carl erinnerte sich an die Spaziergänge mit seiner Professorin Emmy Noether in Göttingen; auch damals war es den meisten seiner Kommilitonen unverständlich gewesen, drei Stunden nichts anderes zu tun als» Mathematik zu reden«. Carl hatte lange Zeit nicht genug kriegen können von der» Erkundung des Zahlenuniversums«. Makoto hatte die Flamme in ihm wieder angefacht.