Ich fragte ihn, ob ich mir den einen oder anderen von Makotos Briefen ansehen könne.
«Sie existieren nicht mehr«, antwortete er.
Im Sommer 1955, drei Jahre nach dem Abzug der Amerikaner aus Japan, in den Semesterferien, bevor Carl den Lehrstuhl an der Universität Innsbruck übernahm, trafen Carl und Makoto einander wieder, eben bei jenem Mathematikerkongreß in Tokio. Carl war der stolze Zeuge von Makotos großem, wenngleich umstrittenem Triumph. Aber am Abend gerieten sie in Streit miteinander, und am folgenden Tag tauchte Makoto nicht mehr beim Kongreß auf, und niemand wußte, wo er war. Etliche, die ihn und seine Thesen und vor allem seine intuitive Herangehensweise kritisiert hatten, sahen in seinem Fernbleiben eine Bestätigung ihres Verdachts, daß dieser junge Mann ein Scharlatan sei, ein Bluffer, ein Spieler, ein Spinner. Makoto Kurabashi nahm am weiteren Verlauf des Kongresses nicht mehr teil. Woraufhin auch Carl abreiste. In Wien teilte ihm die Bank mit, der Dauerauftrag für das monatliche Salär sei vom Empfänger storniert worden. Makoto wollte kein Geld mehr von seinem Mäzen. Carl schrieb ihm einen Brief. Er bekam keine Antwort. Er schrieb ihm einen zweiten Brief und bekam wieder keine Antwort; und auch auf einen dritten Brief bekam er keine Antwort.
Einen Tag, bevor mich meine Eltern auf den Zug nach Innsbruck brachten, damit sie ungestört in Kreta ihre Liebe, ihre Ehe, ihr Leben reparieren könnten, kam der Brief, worin der völlig entgeisterte Sergeant Cousins Carl mitteilte, daß sich Makoto Kurabashi während einer Demonstration gegen den amerikanischen Präsidenten mit einer Rasierklinge die Schlagadern an beiden Armen aufgeschnitten habe.
Er sei, erzählte Carl, in die Uni-Bibliothek gelaufen und habe im Zeitungsarchiv alle verfügbaren Tageszeitungen ab dem 15. Juni durchgesehen.
«Auch am Tag deiner Ankunft war ich in der UB. Ich habe zu Margarida gesagt, sie soll von der Anichstraße zum Bahnhof gehen, wir würden uns dort treffen, um dich gemeinsam abzuholen. Ich war sehr verwirrt, wirklich sehr verwirrt. Ich hatte ihn auf einigen Bildern in den Zeitungen erkannt. Meinte ich jedenfalls, sicher war ich mir nicht. Ich habe gespürt, daß du enttäuscht warst, weil ich mit meinen Gedanken nicht bei dir war, und ich hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Du hast von der Fahrt erzählt. Eine so lange Reise für einen Zehnjährigen ganz allein, und ich konnte dir einfach nicht zuhören. Ich war zu aufgewühlt. Auf einem der Bilder, ich glaube es war in Le Monde, habe ich Makoto erkannt. Das war er. Das Bild war zwar ziemlich grob gerastert, weil sie es vergrößert hatten, um die Szene heranzuholen. Die Arme weit in die Luft gestreckt. Und das weiße Gesicht. Er war es. Und du hast geredet und geredet. Irgendwann bist du verstummt. Beim Abendessen zu Hause hast du kein Wort mehr gesagt. Margarida hatte alles schön hergerichtet. Sie wußte, daß du Senfgurken so gern hast und Essiggurken, sie hat verschiedene Sorten eingekauft. Und Salami aus Italien, die hat sie am Markt besorgt. Du bist dagesessen und hast ein Gesicht gezogen, als würdest du auf Rache sinnen. Ja, das ist wahr. Margarida hat mir in der Nacht Vorwürfe gemacht, hat gefragt, was mit mir los sei und so weiter.«
Ich kann mich nicht erinnern, daß Carl auf mich geistesabwesend gewirkt hätte oder in irgendeiner Weise verwirrt oder aufgewühlt. Im Gegenteil. Nach dem, was bei uns zu Hause los war, vor allem, was in den vorangegangenen Monaten los gewesen war, empfand ich die Atmosphäre in der Anichstraße auf angenehmste Weise entspannt. Meinetwegen hätte niemand etwas sagen müssen, und niemand hätte mir zuhören müssen, und wenn ich plötzlich verstummt war, dann weil mir klargeworden war, was für eine Last das Reden ist. Ich war in den dauerhaften Frieden eingekehrt. So sah ich das.
Ich fragte ihn, ob er mir schildern wolle, was weiter in ihm vorgegangen sei, nachdem er den Brief von Sergeant Cousins gelesen und die Bilder in den Zeitungen gesehen habe. Er dachte lange nach — so lange, daß ich wieder einmal meinte, er sei auf dem Strom seiner Gedanken aus der Welt gedriftet und nehme gar nicht mehr wahr, was um ihn herum vor sich gehe.
«Nichts weiter«, sagte er endlich.»Ich habe mir jedenfalls nicht die Schuld daran gegeben, falls du das meinst. Ich habe versucht, ihn zu vergessen.«
«Und ging das?«
«Es ging sogar sehr schnell. Zum Glück bin ich ein Unmensch. Außerdem: Du warst ja bei uns. Du hast unser Leben verändert, Sebastian, meines und auch Margaridas Leben. Weißt du das? Meines hast du vielleicht sogar gerettet.«
Ich wollte darauf antworten, dies sei eine Last, die ich nicht tragen könne; der Einwand wäre einundvierzig Jahre zu spät gekommen — damals hatte ich die Last offensichtlich tragen können, nur hatte ich nichts davon gewußt.
«Aber doch nicht wegen eines mathematischen Problems habt ihr gestritten?«sagte ich.
«Wer hat sich gestritten, Sebastian?«fragte er, eine Veränderung zum Spitzen hin war deutlich. Ich ahnte, daß wir beide uns gleich streiten würden.
«Du und dieser junge Mann.«
Carl hielt die Hand über die Augen, ein zusammengeschobener transparenter weißer Fächer, und blinzelte mich an.»Natürlich wegen eines mathematischen Problems. Weswegen sollten wir sonst streiten?«
«Und er hat jeden Kontakt zu dir abgebrochen? Bis zu seinem Tod?«
«Auf ewig, würde ich sagen.«
«Wegen einer Meinungsverschiedenheit mathematischer Natur?«
«Aber ja.«
«So etwas tut doch kein Mensch!«
«Du weißt das, stimmt’s?«Und damit war seine gute Laune erledigt.
«Du willst, daß ich über dich schreibe«, lenkte ich ein, bemühte mich um einen versöhnlichen Ton.»Deswegen bin ich hier, Carl. Ich will mein Bestes geben. «Ich stand auf und löste die Bremse, drehte den Rollstuhl um und schob ihn auf den Weg zurück, der an den Geleisen entlangführte. Der Wind sprang uns aus allen Richtungen an, wirbelte Schnee um uns, und doch waren unsere Gesichter in der Sonne.»Du hast mir dieses erschreckende Video gezeigt. Du hast mir die traurige Geschichte dieses jungen Mannes erzählt. Ich weiß nun, daß du dich um ihn gekümmert hast, daß du zurückgesteckt hast gegenüber diesem Sergeant, daß du dich selbstlos um diesen jungen Mann gekümmert hast …«
«Keine Sentimentalitäten!«fuhr er mir ins Wort.»Und sag nicht dauernd ›dieser junge Mann‹! Er hat einen Namen. Und ›dieser Sergeant‹ hat ebenfalls einen Namen. Hast du sie dir nicht notiert? Tu es jetzt! Du hast doch dein kluges Heft bei dir. Schreib die Namen auf!«
«Ich habe die Namen aufgeschrieben, als du sie zum erstenmal genannt hast. Ich habe dich gefragt, wie man sie schreibt, und du hast sie mir diktiert. Hast du das vergessen?«
«Sprich nicht mit mir wie mit einem Schwachsinnigen!«Er klammerte sich an den Lehnen fest und richtete sich auf.»Warum sind wir nicht sitzen geblieben, wo wir waren? Dort war es doch schön! Es hat angenehm nach Fichtenrinde gerochen. Ich kann es mir nicht leisten, auf solche Sinneseindrücke zu verzichten. Was gab es an diesem Platz auszusetzen? Du hältst es nicht lange an einem Ort aus, das ist dein Problem, Sebastian. Wohin schiebst du mich? Ich will nicht nach Hause! Fahr mich jetzt ja nicht nach Hause! Ich will zum See hinunter, hörst du! Wo fährst du mich hin?«
«Wenn du es wünschst, fahr ich dich zum See hinunter. Es wird aber gleich heftig zu schneien beginnen. Wenn es dich nicht stört, mich stört es nicht.«
«Es wird nicht schneien.«
«Versuch’ dich bitte zu erinnern, worum es bei dem Streit ging!«
«Es ging um ein Problem der Zahlentheorie, das du ohnehin nicht verstehen würdest. Also, was soll’s! Schreib einfach: ›Sie haben sich gestritten.‹ Punktum.«