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So eilig hatte man es in der Redaktion? So wenig Zeit gab man dem großen Zeitgenossen noch? Und dieser» Sendeplatz«— wann war der? Noch im Laufe dieses Monats? Oder erst im März? Oder im April? Oder im Mai? Bis wann mußte Herr Professor Candoris unbedingt gestorben sein, damit der Termin eingehalten werden konnte?

Ich brauchte bei Carl nicht erst nachzufragen, ob ihm ein weiteres Interview recht sei. Es war offensichtlich gewesen, wie gut ihm die junge Frau gefiel. Mir hatte sie auch gefallen. Und weil ich inzwischen auf der Rekonvaleszenzleiter acht Tage weiter war und diesmal nicht den finsteren Charismatiker spielen wollte, der sich im schwarzen Mantel ins Freie verdrückte, während der Meister vor der Bücherwand angehimmelt wurde, richtete ich mich her: Ich badete, rasierte mich, wusch mir die Haare, fönte und zerwuselte sie, warf mir eine Handvoll Rasierwasser (Chanel pour monsieur) ins Gesicht, riß vor dem Spiegel hundert Grimassen, um meine Mimik etwas aufzumischen — herauskam ein ziemlich törichtes Raubvogelgesicht —, und zog den kakaobraunen zeitlosen Dreiteiler an.

Veronika Brugger — so hatte sie sich am Telefon vorgestellt —, ich war gerade mit meiner Toilette durch, da klingelte sie bereits an der Tür. Carl schlief noch. Frau Mungenast entweder auch, oder sie beschäftigte sich anderweitig in ihrem Zimmer. So hatte ich Gelegenheit, mit ihr allein ein paar Worte zu wechseln.

Sie war mir nicht so aufregend in Erinnerung; sehr hübsch, aber etwas ausgehungert war sie mir erschienen. Sie war in einem silbergrauen Golf mit ORF-Logo an den Seiten von der Stadt heraufgekommen, eine gesteppte Bomberjacke in Militärfarbe hielt sie unter den Arm geklemmt und blickte mir gerade in die Augen, als ich ihr die Tür öffnete. Sie hatte sich an diesem Tag in enge Jeans gezwängt, der Bauchnabel war frei und genoß den Föhn, über dem Gürtel rechts und links an den Seiten war der gerüschte Rand eines schwarzen Slips zu sehen; die Haare, so blond, daß kein Zweifel an ihrer Unechtheit aufkommen konnte, hatte sie diesmal zu einem zerzausten Knoten aufgesteckt. Mit weit offenem Mund lachte sie mir entgegen.

Sie kannte mich. Sie kenne mich natürlich, sagte sie. Musikanten habe sie gelesen (wenn ich das höre, muß ich die Augen schließen, damit man nicht sieht, wie mir die Augäpfel nach oben schnellen; da habe ich über zwanzig Bücher geschrieben, die meisten davon eindeutig besser als mein erstes, aber das erste kennen die Leute; die meisten nur das erste). Auch verschenkt habe sie das Buch schon mehrere Male. Als sie noch beim Hörfunk gearbeitet habe, habe sie zwei Literatursendungen aus Musikanten gestaltet, als Sprecher habe sie Christian Brückner gewonnen, die Synchronstimme von Robert De Niro, und als irgendwann vor Weihnachten die Tiroler Tageszeitung eine Umfrage unter Journalisten, Künstlern und anderen Persönlichkeiten abgehalten habe, welches ihre zehn Lieblingsbücher seien, habe sie als Nummer zwei —»Sorry!«—, hinter Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins von Milan Kundera, Musikanten von Sebastian Lukasser genannt. Am besten habe ihr die Geschichte über diesen genialen amerikanischen Sandler-Komponisten und Johann Sebastian Bach gefallen und auch die Geschichte über Johann Strauß und Robert Johnson.»Ich liebe Robert Johnson. Ich habe mir eine CD gekauft, ja, wegen dieser Geschichte. Das ist wahr. Und seither liebe ich Robert Johnson.«

«Niccoló Paganini, nicht Johann Strauß«, korrigierte ich.

«Aber Johann Strauß kommt auch vor.«

«Duke Ellington und Johann Strauß.«

«Wirklich Duke Ellington?«

«Ja, ich denke schon.«

«Wie sind Sie auf die Idee mit den Doppelporträts gekommen?«

«Es hat sich so ergeben.«

«Wie ergibt sich so etwas?«

«Wenn jemand, der gut zahlt, etwas von einem will, und zwar sehr schnell.«

Sie lachte auf einer Seite ihres Mundes und hob die Braue darüber; als wollte sie sagen: interessanter Aspekt, schon gespeichert, wird demnächst eingesetzt.»Sind Sie mit Professor Candoris befreundet?«

«Ja.«

«Sind Sie verwandt mit ihm?«

«In gewisser Weise.«

«Wie kann man ›in gewisser Weise‹ verwandt sein?«

«Genau das versuche ich herauszukriegen.«

Ich sei ihr beim letztenmal schlechtgelaunt vorgekommen (ich kam mir bei diesem Gespräch schlechtgelaunt vor, dabei war ich es gar nicht; ich sah nur wieder einmal ein, daß ich kein sehr geschickter Stratege in solchen Angelegenheiten war). Sie habe ihr Gewissen durchgehechelt. Ob sie vielleicht irgend etwas gesagt habe, was mich verstimmt haben könnte?

«In mir«, entgegnete ich, in mir herrscht zur Zeit ein solcher Ausnahmezustand, daß jedes Wort, das eine Frau an mich richtet, nur eine Verstärkung der guten Kräfte sein kann. Das habe ich natürlich nicht gesagt. Wär’ aber die Wahrheit gewesen. Ich sagte einfach nur:»In mir …«und brach ab und fuchtelte mit meiner Hand irgendeine Figur in die Luft, aus der sich bei gutem Willen eine charmante Andeutung auf was auch immer lesen ließe.

Ich brauchte dringend eine Frau — die Stimme einer Frau, den Geruch einer Frau, einen Blick in ihre rosa-warme Mundhöhle, ein bißchen glaubwürdige Bewunderung, gerade so viel, damit ich nicht in Verlegenheit geriete —; das alles um so dringender, als eine sexuelle Befriedigung außer Reichweite und deshalb als Ziel erst gar nicht anvisiert war. Die Männerkrankheit war meine Quarantäne; ich war abgeschirmt gegen Brüste, Arsch, Venushügel und Schamlippen, gegen gaumentiefe Küsse und Hand anlegen und Hand anlegen lassen; ich war angewiesen und reduziert auf liebe Blicke, liebe Worte, Umarmung — kurz: das Herz. Ich sah der Frau Brugger an, daß sie mich durchschaute; und es störte sie nicht, daß ich den Umweg über ihre mütterlichen Gefühle wählte, um sie auf mich — auf mich, nicht auf meine Bücher — aufmerksam zu machen; sie würde mir ihre mütterlichen Gefühle zwar nicht zur Verfügung stellen, aber sie würde mir wenigstens den Anschein geben, als wäre dieser Weg möglich. Tatsache ist, daß mir das genügte. Vorläufig. Irgendwann, dachte ich, werde ich wiederhergestellt sein, und dann ließe sich ja vielleicht an diesen Nachmittag anknüpfen.

«Schreiben Sie an etwas Neuem?«fragte sie.

«Ich recherchiere noch.«

Ich bat sie, auf dem Sofa beim Kamin Platz zu nehmen. Ich setzte mich in Carls Lehnstuhl. Ob sie rauchen dürfe. Sie zog eine Schachtel rote Gauloises aus der Bomberjacke, ich ritzte ein Streichholz an, sie hielt mit den Daumenballen meine Hand fest, als sie die Flamme einsog, burschikos, kumpanenhaft, sie trinkt lieber Bier als Wein, dachte ich.

«Kommt Professor Candoris darin vor?«

«Ja.«

«Sind Sie deshalb hier?«

«Auch deshalb.«

«Wieder ein Doppelporträt? Wer ist der andere?«

«Nur ein Porträt.«

«Das verstehe ich. Dumme Frage von mir. Wen sollte man an seine Seite stellen? Er ist der intensivste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Ich gebe zu, ich verstehe nicht viel von seinem Fach. Ich habe mir sagen lassen, seine Vorlesungen seien sehr anspruchsvoll gewesen, und er habe wenig Toleranz gegenüber den Begriffsstutzigen geübt, und eine solche bin ich, glaube ich. Ich habe gestern und vorgestern ein langes Gespräch mit Dr. Hechenberger geführt. Kennen Sie Dr. Hechenberger? Er ist Dozent bei den Mathematikern und mit Professor Candoris befreundet. Er hat mich gebrieft. Ich habe ihn gefragt: ›Was ist Professor Candoris für ein Mensch?‹ Vor allem, sagte er, vor allem sei er ein sehr hilfsbereiter Mensch.«— So hilfsbereit manchmal, daß es an einen Charakterfehler grenzt, hätte ich ergänzen wollen. — Sie blickte zur Decke, als lausche sie einer Musik.»Ich beneide Sie um Ihre Arbeit, wissen Sie das? Ich muß mir überlegen: Was sagt der Kameramann? Was sagt die Cutterin? Was sagen die von der Redaktion in Wien? Sie schreiben, was allein Sie für richtig halten. ›Porträt des Mathematikers als sehr alter Mann‹!«Ihre Stimme klang satt, dunkelbraun, wie Samt.