Выбрать главу

Am letzten Tag des Kongresses, eben am 13. März, war ich es überdrüssig, mich nur in unserem Zimmer oder in der Halle oder im Innenhof des Hotels aufzuhalten. Ich wollte ein Stück die Straße hinunterschlendern und nach hundert oder zweihundert Metern umkehren und in die andere Richtung gehen, ebenfalls hundert oder zweihundert Meter, und noch einmal in die eine Richtung, diesmal aber auf der anderen Straßenseite, und zurück in die andere Richtung, ebenfalls auf der anderen Straßenseite. Ich hatte noch nie so hohe Häuser gesehen, sie waren so hoch, daß ich mich gar nicht richtig mit dem Gedanken abfinden konnte, es seien Häuser. Wie kann man solche Gegenstände, die eher wie glatte Felsen mit viereckigen Löchern darin aussahen, mit dem gleichen Wort belegen wie die Einfamilienhäuschen, an denen man vorbeispazierte, wenn man mit der U4 nach Hütteldorf gefahren war, um am Wienfluß entlang ins Grüne zu gelangen? Es waren so viele Menschen auf der Straße! Dauernd stieß ich an jemanden an. Ich sah nicht sehr viel mehr als Bäuche, Rücken, Beine und Arme in bunten Hemden, Blusen, Schuhen. Und Gesichter sah ich, wie ich noch nie welche gesehen hatte — schwarze, braune, sehr weiße, bläuliche. Aber die verschiedenen Hautfarben beeindruckten mich nicht so sehr wie die verschiedenen Faltungen der Haut. Manche Gesichter erschienen mir wie auf ein kleineres Format zusammengelegt; wenn der Mann oder die Frau redete oder lachte, konnte ich mir ausmalen, zu welchen Dimensionen der Mund, um nur ihn zu nennen, aufgedehnt werden könnte. Und alle redeten. Einer redete mit dem anderen, der ebenfalls redete, aber nicht unbedingt mit dem einen. An die Musik des Portugiesisch der Lisboer war ich gewöhnt; das Portugiesisch der Bürger von São Paulo, wenn es im freien Chor der offenen Straße erklang, hatte etwas Trommelndes an sich, als bezöge es seinen Rhythmus vom immergleichen Aufsetzen der Füße auf dem Pflaster. Und ich bewegte mich in ebendiesem Rhythmus vorwärts. Ich zog meine Jacke aus und löste den Krawattenknoten, mein Rücken war naß, und der Schweiß rann mir über das Gesicht und bis hinunter zum Hals. Alle schwitzten. An einem Stand mitten auf dem Gehsteig — der Gehsteig schien mir nicht schmaler zu sein als die Fahrbahn der Ringstraße in Wien — war ein Stand aufgebaut mit einem Dach aus grün-gelbem Stoff, an dem gab es Eis und farbige Zuckerkugeln in der Größe von Tischtennisbällen zu kaufen. Ich nahm ein Eis und eine weiße Kugel mit roten Meridianen. Ich drückte mich in eine Seitengasse, in der nicht so viele Leute waren, stellte mich in den Schatten und leckte abwechselnd das Eis und die Zuckerkugel.

Ich wußte nicht, wie weit ich auf dem Boulevard bereits gegangen war, ob tatsächlich nur hundert oder zweihundert Meter oder schon einen Kilometer oder gar weiter. Die Hitze, der Lärm, das Gedränge hatten mich erschöpft und mir jedes Gefühl für Proportionen genommen in Zeit und Raum. In der Seitengasse fiel die Sonne nicht bis zur Straße herab, die Häuser standen zu eng, auch zog ein kühler Wind hindurch. Als ich das Eis aufgeschleckt hatte, ging ich weiter in die Gasse hinein. Ich hatte Durst. Ich konnte das Ende der Gasse nicht sehen, weil sie in einem leichten Bogen nach rechts zog, der nicht aufzuhören schien, und bald wußte ich nicht mehr, in was für einem Winkel zum Boulevard ich ging. Hier fuhren nur wenige Autos, es waren hier kaum Geschäfte, und wenn, hatten sie keine Auslagen, sondern nur spärliche, angestaubte Türöffnungen, die nicht bis zum Boden reichten und vor denen Holztreppen mit drei oder vier Stufen standen. Die Läden vor den Fenstern waren angewinkelt, in den höheren Stockwerken, wo die Sonne die Hauswände erreichte, waren sie geschlossen. Nach vielleicht einem halben Kilometer verbreiterte sich die Gasse zu einem Platz, die Fahrbahnen teilten sich um einen kleinen Park, in dessen Mitte ein Springbrunnen seine Fontäne in den Himmel schickte. Ein Trinkbrunnen war auch dort, man mußte mit der Hand auf einen Messinghebel drücken, dann sprang eine schmächtige Kopie der Fontäne aus dem Messingbecken, und wenn man sich drüberbeugte, mitten in den Mund hinein. Ich trank, bis mir der Bauch weh tat. Ich zog die Schuhe aus und die Strümpfe, krempelte die Hosenbeine hoch und stellte mich ins Wasser. Ein Schleier des Springbrunnens traf mich wie ein kühler Nebel. Ein paar dunkelhaarige Buben, die nur Unterhosen anhatten und sonst nichts, reichten sich gegenseitig einen Plastikstutzen zu, auf dem ein windradähnliches Gebilde steckte; sie zogen kräftig an einer Schnur, der Propeller drehte sich und hob sich rasant in die Höhe; einer schaffte es bis über die Baumwipfel, es bestand Gefahr, daß der Propeller dort hängenblieb. Ich saß in dunkler Hose und weißem Hemd, eine Krawatte um den Hals, den Knoten gelockert, am Rand des Springbrunnens, die Jacke sorgfältig zusammengelegt auf den Knien — natürlich war ich eine Provokation für sie. Sie bauten sich vor mir auf, trauten sich aber nicht näher als fünf Schritte an mich heran. Sie fuchtelten mit den Händen und sagten Sachen zu mir, die ich nicht verstand. Aber ich hatte keine Angst vor ihnen, sie wollten mir nichts tun; ich war ein Ärgernis für sie, und dafür wollten sie mich ein wenig ärgern, das war alles. Nach einer Weile wandten sie sich von mir ab und spielten weiter. Irgendwann kam einer von ihnen zu mir, hielt mir den Stutzen hin und ließ mich den Propeller steigen. Sie fragten mich etwas, was ich nicht verstand. Ich sagte:»Não entendo. «Da trotteten sie davon, die Gasse hinunter, woher ich gekommen war.

Ich wollte aber nicht hinter den Buben hergehen, sie hätten sich etwas denken können, und vielleicht wären Mißverständnisse daraus entstanden. Ich dachte, wenn ich die Gasse weitergehe und bei der nächsten Abzweigung nach rechts abbiege, müßte ich wieder auf den Boulevard kommen. Ich dachte, es sei gar nicht anders möglich.

Es war aber anders möglich. Als ich merkte, daß ich den Boulevard auf diese Weise nicht erreichte, sondern im Gegenteil, wie ich am Stand der Sonne ablesen zu können glaubte, mich immer weiter von ihm entfernte, drehte ich um, prägte mir aber den Wendepunkt ein, eine Kleidernäherei — offene Türen, offene Fenster, auf der Straße übermannshohe Kleiderständer, dazwischen zehn Nähmaschinen, vor denen Frauen saßen, Strohhüte auf dem Kopf. Ich ging, woher ich gekommen war, kam an keiner zweideutigen Gabelung vorbei; aber den Platz mit dem Springbrunnen fand ich nicht. Alles erschien mir bekannt, alles sah aus, als wäre ich eben erst daran vorbeigegangen, und doch war alles anders. Die Straße war breiter, als ich sie in Erinnerung hatte, und sie war schnurgerade, und sie ging leicht aufwärts. Wo war ich gelandet? Ich kehrte abermals um, wollte noch einmal bei der Kleidernäherei starten; aber nun fand ich die Kleidernäherei nicht. Statt dessen war an ihrer Stelle ein Viadukt. Die Häuser waren hier höchstens drei Stockwerke hoch, dazwischen dehnten sich freie Plätze, auf denen Betonrohre lagen oder Ziegel gestapelt waren oder wildes Gras wucherte. Niedrige Hütten lehnten aneinander. Als wäre ich in eine andere Stadt geraten. Die Menschen bewegten sich anders, schneller, zielgerichteter, ungeduldiger, schweigend. Sie würden mir nicht helfen wollen, dachte ich. Aber wie hätten sie mir helfen können? Ich wußte den Namen des Hotels nicht. Seit vier Tagen hatte ich das Hotel nicht verlassen, aber den Namen wußte ich nicht! Ich drehte um, lief, bis mir der Schweiß über den Rücken und die Brust rann, zwang mich zum Gehen, ging mit hängendem Kinn; die Jacke band ich mir mit den Ärmeln um den Bauch. Ich kämpfte gegen die emporsteigende Panik an, die mich unaufmerksam sein ließ und meine Erinnerungen löschte. Bald kam mir alles unbekannt vor, und ich marschierte nur noch vorwärts, weil Stehenbleiben ein Eingeständnis meiner Hoffnungslosigkeit gewesen wäre. Ich ging auf die hohen Häuser zu, die so weit entfernt waren, daß ich nicht glauben konnte, von dort gekommen zu sein. Aber einen anderen Anhaltspunkt hatte ich nicht. Ich merkte, daß ich laut vor mich hin redete. Daß ich mit meiner Mama redete. Ich war überzeugt, sie spürte weit weg von hier auf der Insel Kreta, daß ihr Kind verlorengegangen war; zugleich aber mißtraute ich meinen Gefühlen und war mir alles andere als sicher, ob es sich bei dieser Mama um meine handelte. Schließlich setzte ich mich im Schatten eines Hauses auf den Boden und war nur noch starr vor Entsetzen.