Ich schlief ein und erwachte, weil mir jemand eine Hand auf die Schulter legte und sich zu mir niederbeugte. Es war der liebe Gott. Als ich die Augen öffnete, bestand für mich kein Zweifel. So war er uns im Religionsunterricht vorgestellt worden. Ein weißer Bart bis zur Brust. Lange, borstige weiße Haare. Der Schnauzbart über dem Mund gelblich. Auf der Stirn strenge, steile Furchen. Die Augen eines Adlers. Er sagte etwas. Ich verstand ihn nicht. Das bestätigte meinen Eindruck. Wie soll ein Mensch den lieben Gott verstehen? Portugiesisch sprach er nicht. Deutsch auch nicht. Gott spricht die Sprache aller Menschen, die allerdings kein Mensch versteht. Er zog mich an einer Hand hoch und ließ meine Hand nicht mehr los. Er führte mich, und nach wenigen Minuten waren wir vor dem Hotel. Bevor er die Lobby betrat, beugte er sich abermals zu mir nieder, legte den Finger auf meinen Mund, legte den Finger auf seinen Mund, sagte einen Satz in seiner Sprache und ließ mich stehen.
Ich wartete ein paar Minuten vor der Drehtür, wartete auf die Freude darüber, daß ich gerettet war. Eine dumpfe Erleichterung strömte von meiner Magengrube aus; es war nicht Freude, aber es tat gut, und ich hätte mich gern eine Stunde hingelegt.
Durch die Glasscheibe sah ich den lieben Gott und Carl in der Halle beieinanderstehen. Sie unterhielten sich; das heißt, der liebe Gott sprach auf Carl ein, als wollte er ihn von etwas sehr Wichtigem überzeugen. Und da schoß mir der Gedanke durch den Kopf, Carl könne doch nur der Teufel sein. Mit wem sonst würde der liebe Gott so wortreich in seiner Sprache sprechen können? Mit wem sonst würde er es wollen? Wen sonst gab es, den der liebe Gott so wortreich zu überzeugen versuchte? Mir hatte niemand von Faust erzählt oder von Hiob. Ich wußte nicht, daß sich die beiden von Zeit zu Zeit treffen. Aber es war doch logisch, oder? Es gab Dinge zu besprechen. Es mußte Dinge geben, die nur auf höchster Ebene besprochen werden konnten. Und ich? Was war mit mir? Ich war als Begleiter des Teufels in diese Stadt gekommen. Ich hatte mich in dieser Stadt verirrt. Der liebe Gott hatte mich gefunden. Und er hatte mich dem Teufel zurückgebracht. Was hatte das alles zu bedeuten? Wie hätte ich mich verhalten sollen? Hätte ich mich dem lieben Gott widersetzen sollen? Wäre das meine Prüfung gewesen? Wie sollte ich mich nun verhalten? Was erwartete der liebe Gott von mir? Meine Eltern hatten sich davongemacht und mich dem Teufel anvertraut. Wußten sie, was sie getan hatten? War mit ihnen abgesprochen worden, was mit mir in dieser fremden Stadt geschehen würde? Und Margarida? Sie würde auf meiner Seite sein. Davon war ich überzeugt. Ich wußte es. Ja, das wußte ich.
Was ich für die Sprache aller Menschen gehalten hatte, die ein Mensch nicht versteht, war Schwedisch gewesen, und der liebe Gott hatte einen Namen; er war kein Geringerer als der Logiker Per Johan Bexelius von der Universität Stockholm gewesen. Er hat Carl nicht verraten, daß er mich auf der Straße gefunden hatte; und ich habe Carl diese Geschichte nie erzählt. Margarida habe ich sie erzählt. Und Maybelle.
(Übrigens: Erst als wir wieder in Lissabon waren, erfuhr ich — und auch nur zufällig —, daß São Paulo in Brasilien liegt. Ich hatte es tatsächlich nicht gewußt! Ich, der ich mich so sehr für Erdkunde interessierte, daß ich sogar mein Tagebuch danach benannte! Margarida und Carl hatten immer nur von São Paulo gesprochen, hatten als selbstverständlich vorausgesetzt, daß ich wisse, in welchem Land diese Stadt liegt. Brasilien! Ich war in Brasilien gewesen! In dem Land, in dem Vava, Didi und Mario Zagallo lebten, Zito, Bellini. Und Pelé, der beste Mittelstürmer der Welt. Ich war in dem Land gewesen, in dem Garrincha lebte, mein absoluter Liebling, dem ich nach der Fußballweltmeisterschaft von 1958 ein pralles Sportheft gewidmet hatte: Manoel Francisco dos Santos, geboren im Urwald, rechtes Bein O, linkes Bein X, linkes Bein zudem sechs Zentimeter kürzer, der» Engel mit den krummen Beinen«, wie er genannt wurde,»Der Stolz des Volkes«, der Clown, der seine Gegner mit seinen Dribblings in Verwirrung jagte. Eine Zeitlang hatte über meinem Bett ein Zeitungsbild von Garrincha gehangen. Meine Mutter hatte es ausgeschnitten und mit einer Stecknadel an die Tapete geheftet. — Ich war in Brasilien gewesen und hatte es nicht gewußt!)
5
Nachdem ich uns ein paar Brote mit Wurst und Käse gerichtet und eine Kanne von Frau Mungenasts Kräutertee aufgewärmt hatte, sagte Carl, ich solle mein Diktiergerät holen und es neben ihn auf den Beistelltisch stellen, wie ich es an unserem ersten Abend getan hatte; er wolle mich» nicht in die Verlegenheit bringen, das Folgende in eigene Worte fassen zu müssen«.
Wenn seine große Rede an unserem ersten Abend in ihrem Duktus etwas Memoirenhaftes gehabt hatte, so war sie nun, an unserem letzten Abend — was ich jedoch nicht wußte —, eine Beichte und nichts anderes.
Carls Stimme:»Sebastian, hörst du mir zu? Als wir beide, du und ich, in São Paulo waren — hörst du mir zu? — , war mein Hauptgedanke zu jeder Stunde gewesen: Ich werde mit großer Wahrscheinlichkeit nicht umhinkommen, einen Menschen zu töten.
Margarida dachte, ich sei Daniel Guerreiro Jacinto nie begegnet, ihrem Geliebten, ihrem ehemaligen Verlobten, dem schönen Mann mit dem schönen Namen. Das stimmte aber nicht. Ich habe ihn beobachtet. Ich würde sagen, bei jedem unserer Besuche in Lissabon fand ich Gelegenheit, ihn zu beobachten. Es war nicht schwer gewesen herauszubekommen, wo er arbeitete, wo er wohnte, wie seine Lebensverhältnisse waren. Dieser gutaussehende Mann. Einer, den nichts aus der Ruhe zu bringen schien. Auch nichts Interessantes. Angenommen, man hätte den Zeigefinger Gottes ausgegraben, er hätte zu denjenigen gehört, die mit der Schulter gezuckt hätten, wenn überhaupt. Ich war irgendwann neben ihm an einer Bushaltestelle gestanden. Von mir beabsichtigt natürlich. Ich habe ihn beobachtet. Schamlos. Ein wenig gekränkt war ich. Empört sogar. Weil er mich nicht kannte. Woraus ich schloß, daß Margarida mit ihm nicht viel über mich gesprochen hat. Warum nicht? Aus Diskretion? Margarida war nicht diskret. Wenn sie etwas nicht war, dann diskret. Aus Loyalität mir gegenüber? Kaum. Bei einem so extrovertierten Menschen wie Margarida würde sich Loyalität gerade darin geäußert haben, daß sie mit ihm über mich gesprochen hätte. Er wußte, daß sie verheiratet war. Das war alles. Und er hat sich nie nach mir erkundigt. Ist das normal? Es ist nicht normal. Ich habe ihm zehn Minuten lang ins Gesicht gestarrt. Ein Mensch, der das nicht bemerkt, ist krank. Einer, den das nicht stört, ist ebenfalls krank. Er hat sich nicht gefragt, wer ist dieser Kerl, was will der, oder ob ich vielleicht Margaridas Mann sein könnte. Ich an seiner Stelle, du an seiner Stelle, wir hätten das gedacht. Neunundneunzig von hundert Männern hätten das gedacht. Neunhundertneunundneunzig von tausend. In diesen zehn Minuten — verzeih die Arroganz, es ist keine — habe ich Daniel Guerreiro Jacinto durchschaut: ein Kinderschwimmbecken, angefüllt mit klarem, kaltem Wasser. Was gibt es darin zu sehen? Ich habe Margarida einmal gefragt, ob zwischen Daniel und mir eine Gemeinsamkeit existiere. Sie sagte: ›Keine Ahnung.‹ Immer, wenn ich sie nach Daniel fragte, sagte sie: ›Keine Ahnung.‹ Oder: ›Denk nicht darüber nach, es bringt nichts, es bedeutet nichts.‹ Ich glaubte, etwas Gemeinsames entdeckt zu haben. Daniel trug einen diskret eleganten Anzug, anthrazit, ein rohweißes Hemd, eine tiefrote Krawatte mit gelben Punkten, schwarze Schuhe und einen Staubmantel in der Farbe von nassem Sand. Tadellos. Perfekt. So tadellos, so perfekt, daß keine Improvisation mehr möglich war — und auch nicht nötig war. Ich fragte Margarida, ob sich Daniel — wie ich — immer die gleichen Sachen schneidern lasse. ›Ja‹, sagte sie. Na also.