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Ich weiß, Sebastian, Margarida hat dir alles erzählt. Alles, was sie wußte. Wie wir beide sie kennen, dürfen wir davon ausgehen, daß sie keinen Rest für sich behalten hat. Sie unterhielt ein so eindeutiges Verhältnis zur Wahrheit, daß man wegen Nicht-Vorhandenseins von Unwahrheit und Lüge in einem dialektischen Sinn nicht einmal von Wahrheit sprechen konnte. Sie hat einfach immer gesagt, was der Fall ist. Das ist eine merkwürdige Gabe oder ein merkwürdiger Mangel, ich konnte mich in der Beurteilung dieser Eigenschaft nie für das eine oder das andere entscheiden. Als sie während des Krieges nach Los Alamos kam, erzählte sie mir an unserem ersten Abend, daß sie Daniel in Lissabon getroffen habe. Aber erst auf meine Frage hin, ob etwas Außergewöhnliches passiert sei, seit wir uns das letzte Mal gesehen hätten. Ja. Es sei. Daß sie Daniel aufgesucht habe. Sie ihn! Sie hat ihn verführt. Daß sie mit Daniel Guerreiro Jacinto in seiner Wohnung zusammengelebt habe wie Mann und Frau. Fast vier Jahre lang. Von Ende 1939 bis Mitte 1943. Ich fragte, ob sie sich von mir trennen wolle. Sie sagte — wörtlich: ›Was für eine verrückte Frage!‹ Sie hatte tatsächlich nicht ein einziges Mal über Scheidung nachgedacht! Während der ganzen Zeit nicht. Sie hatte natürlich auch nicht mit Daniel über eine Scheidung gesprochen. Auch er hat nicht ein Wort darüber verloren. Nicht ein Wort in vier Jahren! Worüber haben die beiden denn geredet! Sie sei einsam gewesen, sagte sie, habe lange nicht gewußt, wo ich sei, ob ich überhaupt noch sei. Die klassische Antwort der klassischen Soldatenfrau. Sie hätte sich jeden anderen nehmen können. Warum gerade Daniel Guerreiro Jacinto, von dem sie sich ja getrennt hatte, weil sie mich hatte haben wollen? Über diesen Daniel Guerreiro Jacinto hatte sie gespottet. Sie und ihr Vater hatten über ihn gespottet. In meiner Gegenwart. Weil er mit Dreißig noch immer im Ornat eines Studenten der ehrwürdigen Universität von Coimbra in der Stadt herumstolzierte. Der alte Durao ist mit leicht nach hinten hängendem Oberkörper durch die Gänge seiner Wohnung gehatscht, und Margarida hat gebrüllt vor Lachen. Ich hatte damals die Partei ihres ehemaligen Verlobten, seines ehemaligen Schwiegersohns in spe ergriffen, hatte sie beide zurechtgewiesen. Es war mir unfair vorgekommen. Neben so einem Verlierer will man nicht der Gewinner sein.

Nein, das hatte alles nichts mit Einsamkeit zu tun gehabt, daß sie Trost brauchte und so weiter. Sicher hat sie das selbst geglaubt, irgendwie hat sie es wohl selbst geglaubt, aber auch nur irgendwie. Ich denke, diese Anhänglichkeit an diesen Mann, diesen schwachen Mann, diesen so wenig intelligenten, an rein gar nichts interessierten Mann war ihr selbst ein Rätsel, muß ihr ein Rätsel gewesen sein. Eheleute sind einander Zukunft und Vergangenheit in zunehmendem Maße und immer weniger Gegenwart, und zwar, paradoxerweise, je mehr Alltäglichkeit sie zusammen anhäufen. Eheleute leben in der Gewißheit, daß sie schon lange zusammenleben und daß sie noch lange zusammenleben werden. Margarida und Daniel aber hatten keine nennenswerte gemeinsame Vergangenheit und keine gemeinsame Zukunft, ihr Leben fand ausschließlich in der Gegenwart statt. Ich kann mir so einen Zustand nicht einmal vorstellen. Wahrscheinlich ist Gegenwart wie eine Droge, die die meisten von uns nur in rasender Flüchtigkeit ertragen. Daniel war einer, der diese Droge unverdünnt in sich aufnahm. In diesen vier Jahren — gut, sie hätten genügend Zeit gehabt, einen See von Alltäglichkeit aufzustauen, um die Gegenwart damit zu verdünnen — aber diese vier Jahre, sagte ich mir, waren eine Ausnahme — Krieg, ich verschollen, sie hatten in einem widersinnigen Ausnahmezustand gelebt: Quasi-Eheleute und Liebespaar in einem. Ich sah das Unverwechselbare ihrer Beziehung in deren Bedingtheit begründet, nicht in den Charakteren der Beteiligten — vielleicht sollte ich eingrenzen: nicht in Daniels Charakter. Das war wohl ein Irrtum.

Margarida durfte nicht oben auf der Mesa wohnen. Das war nur den Frauen einiger weniger Wissenschaftler erlaubt, nur denen, die von Anfang an dabeigewesen waren. Wir besorgten uns am Fuß des Jemez-Plateaus in einem Ort namens Pojoaque eine kleine Wohnung, und ich fuhr am Abend hinunter, blieb über Nacht. Ein Zimmer mit einer Küche, die halb im Freien war, und ein Schlafkabinett, in ein Mückennetz gepackt. Und blühende Kakteen draußen. Ich wußte nicht, ob die Blüten echt waren oder aus Seide und nur aufgesteckt. Ich fand es sehr romantisch. Aber Margarida wurde es bald zu eng, und wir zogen nach Santa Fé. Dreimal in der Woche übernachtete ich bei ihr, den Rest der Zeit verbrachte ich bei meiner Arbeit oben auf der Mesa, es wäre sonst zu aufwendig gewesen. Das erinnert mich übrigens an meinen Vater. Wie er in seinem Brief geschrieben hatte, daß er die Erlaubnis bekommen habe, drei Nächte in der Woche zu Hause zu verbringen und nicht in der Kaserne. So ähnlich war es. Ich mußte zwar nicht um Erlaubnis ansuchen, aber man riet mir, meine Zeit in der genannten Weise einzuteilen. Es gibt wahrscheinlich keine langweiligere Stadt als Santa Fé 1944. Ich konnte es Margarida nicht verdenken, nach drei Monaten hat sie sich auf die Heimreise nach Lissabon gemacht, eine Odyssee, meine Güte! Und natürlich nahm sie die Beziehung zu Daniel wieder auf.

Als nach dem Krieg meine Arbeit für den DMAD beendet war, hatte ich zuerst vor, von Tokio nach Lissabon zu fliegen, Margarida abzuholen und mit ihr nach Wien zu fahren, um dort endlich unser gemeinsames Leben zu beginnen. Aber ich entschied mich schon nach ein paar Tagen in Lissabon, allein nach Wien zu ziehen. Ich war zu feige, mich zu stellen. Was für ein ungleicher Kampf wäre das gewesen! Profane Zeitlichkeit trifft auf ewige Gegenwärtigkeit. Und was, wenn Daniel immer der Geliebte bleiben würde, gleich, was geschähe? Vielleicht war er ja zum Geliebten geboren, vielleicht bestand ja sein einziges Lebensziel darin, Margaridas Geliebter zu sein. Ich war immer der Meinung gewesen, der Mensch weiß bei den meisten Dingen, die er tut oder läßt, nicht, warum er sie tut oder läßt, und zwar nicht deshalb nicht, weil er die Zusammenhänge nicht versteht, sondern weil gar keine Gründe für Tun und Lassen existieren. Nur weil in der logisch-physikalischen Welt Kausalität herrscht, heißt das noch lange nicht, daß es Gründe gibt, warum Margarida nicht von diesem Mann, dessen Bestes sein Name war, loskommen konnte. Ich schrieb Margarida aus Wien einen Brief, gleich nachdem ich gelandet war. ›Wenn Du es willst, komm!‹ Die Wahrscheinlichkeit, daß sie der Brief erreichte, war sehr gering. Tatsächlich hat sie ihn nicht erhalten. In Wien bewegte ich mich in einem Niemandsland und in einer Niemandszeit, im Nirgendwo und Nirgendwann. Das hat mir die Brust erleichtert.

Im Herbst 1947 trafen wir uns in Marseille. Ich hatte mit ihr telefoniert, hatte sie angelogen, hatte gesagt, ich müsse in Marseille etwas erledigen, etwas Geschäftliches. ›Treffen wir uns auf halbem Weg‹, hatte ich am Telefon zu ihr gesagt. Aber Margarida hat dies nicht in einem übertragenen Sinn verstanden, wie es von mir beabsichtigt war. Am Abend sind wir trotz der Warnung des Hotelmanagers durch den Hafen spaziert, der sich immer noch in einem schreienden Zustand befand. Wir waren uns vertraut wie ein altes Ehepaar. Ich fragte sie, und sie antwortete: ›Ja.‹ Ich habe nur gefragt: ›Hast du ihn getroffen?‹ Mehr nicht. Mehr wollte ich nicht wissen. Weil ich mich vor den Details fürchtete. Solange ich die Box nicht allzuweit öffne, dachte ich, so lange darf ich Hoffnung haben, die Katze sei moribund und nicht in der Lage, mir ins Gesicht zu springen. Nach diesem Treffen haben wir fast zwei Jahre lang nichts voneinander gehört.

Schließlich schrieb ich ihr noch einmal einen Brief. Das war im März 1949. Ich hatte deinen Vater kennengelernt und deine Mutter und hatte meinen Beitrag geleistet, damit sie zueinanderfanden, und nun wollte ich, daß auch Margarida und ich wieder zueinanderfinden. ›Ich lebe in einem leeren Haus‹, schrieb ich. ›Komm zu mir!‹ Und sie ist gekommen. Wieder habe ich sie gefragt. ›Ja‹, sagte sie, ›ich habe Daniel getroffen.‹ ›Getroffen?‹ fragte ich. ›Wir haben zusammengelebt‹, sagte sie. ›Ihr habt zusammengelebt‹, sagte ich, ›wie wir beide nie zusammengelebt haben. Du kennst ihn viel besser als mich. Du hast viel mehr Nächte neben ihm gelegen als neben mir. Wäre es nicht logisch, sich einzugestehen, daß er der richtige ist für dich? Willst du die Scheidung?‹ Und sie sagte wieder: ›Was für eine verrückte Frage! Natürlich will ich mich nicht scheiden lassen.‹ Sie zog zu mir nach Wien. Nicht die geringsten Anzeichen von Sehnsucht konnte ich an ihr feststellen. Daß ihr Daniel fehlte. Nein. Was für eine kapitale Frau! Wir haben nie mehr über ihn gesprochen.