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Weiter Carls Erzählung:
«Irgendwann meinte ich, doch auf etwas gestoßen zu sein. Sieh dir das Blatt genau an! Nicht die Schrift diesmal, sondern das Briefpapier! Briefpapier des XX. Korpskommandos Brixen. Mit aufgedrucktem Emblem. Das soll wohl eine Doppellilie sein, schätze ich. Aber: Ein Emblem des XX. Korpskommandos Brixen — was soll das sein? Daß eine Militärkommandantur ein eigenes Briefpapier hatte? Und ein eigenes Emblem? Jede k.u.k. Kommandantur ein eigenes Briefpapier mit eigenem Emblem?
Zufällig traf ich Rudi Papuschek, ›unseren Herrn Papuschek‹. Er freute sich, mich zu sehen. Sein Haar war schwarz und ölig wie immer, am Kinn hing immer noch das kleine Hexenmeisterbärtchen, das Gesicht war aber deutlich schmaler, als ich es in Erinnerung hatte. Ein Mittel, sich den Bart und die Haare zu färben, hat er immerhin, dachte ich. Um ein deutliches Stück zu sehr freute er sich. Das Zuviel an Freude sollte natürlich einen Vorwurf verdecken. Es hatte sich unter den Angestellten meines Großvaters herumgesprochen, daß ich mit den Amerikanern nach Wien zurückgekehrt war. Ich lud ihn ins Café Mozart zu Kakao und Kuchen ein. Demonstrativ zahlte ich mit Dollars. Auch das hätte dem Alten vom Rudolfsplatz gefallen, denke ich. Ich wußte, Rudi Papuschek war immer ein glühender Monarchist gewesen, jedenfalls bis in die dreißiger Jahre hinein. Wie er die Welt und die Menschen nach 1938 sah, wußte ich nicht.
›Können Sie sich vorstellen‹, sagte ich zu ihm, ›daß eine k.u.k. Korpskommandantur, sagen wir im Jahr 1905, sagen wir in Brixen, ein eigenes Briefpapier hatte?‹
Er wunderte sich nicht. Tat so, als ob ihm so eine Frage täglich vorgesetzt würde, seufzte empfindsam durch die Nase. Er werde sich erkundigen, sagte er. Er wußte, die Antwort wird vergolten. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag um die gleiche Zeit am selben Ort.
Als ich kam, hatte er bereits gegessen. Er hatte wirklich Hunger. Der Vater seines Schwagers, sagte er, ein gewisser Hofrat Dr. Mader, inzwischen längst pensioniert, sei unter dem Kaiser in einflußreicher Stelle im Kriegsministerium tätig gewesen, der könne solche Fragen kompetent beantworten. Meine Erlaubnis vorausgesetzt, habe er bereits mit ihm gesprochen, und er sei gern bereit, mir Auskunft zu geben. Was hatte er sich doch für eine Blasiertheit angewöhnt! Er war unser bester Mann gewesen. Wenn Herr Papuschek über Kakao oder Kaffee referierte, konnte man meinen, der Plantagenbesitzer persönlich halte hof in unserem Geschäft. Seine Philosophie hatte gelautet: Unternehmer und Angestellter dienen beide dem Produkt, und wenn der Angestellte sich davor hütet, daneben noch anderes im Sinn zu haben, die Politik zum Beispiel, dann stehen sich die beiden auf Augenhöhe gegenüber — ja, fast wie Ministrant und Bischof vor dem großen Herrgott. Konnte es sein, daß diese Einstellung über den Krieg hinweg nicht zu halten gewesen war? Daß unserem Herrn Papuschek eine andere Weltsicht mehr eingeleuchtet hatte? Daß unser Herr Papuschek in den letzten Jahren vielleicht sogar jemand gewesen war? Und daß er nun wieder zurückkehren wollte in den süßen Schoß des Feinkosthandels und daran arbeitete, sich wenigstens die Formen wieder anzuerziehen, wo doch der Inhalt fehlte, jedenfalls noch fehlte? Es gab kein Produkt, das Unternehmer und Angestellter auf gleicher Augenhöhe hätten anbeten können, der große Herrgott war ja schon seit längerem tot, und nun war auch die Ware tot, wenigstens scheintot …
Der Vater des Mannes von Herrn Papuscheks Schwester, also dieser Herr Hofrat Dr. Mader vom k. u. k. Kriegsministerium, saß zwei Tische von uns entfernt, ein würdig unwirsch aussehender Mann mit weißem, um die Mundpartie herum gelbem Bart, der ihm bis auf die Brust herabwallte. Er hatte ebenfalls bereits gegessen.