Ich schilderte ihm den Fall. Er lachte nur. ›Undenkbar!‹ rief er aus.
Ich hatte den Brief bei mir, zweimal zusammengefaltet in meiner Rocktasche. Er legte diskret eine Serviette über die Schrift, betrachtete lange Briefkopf und Emblem.
›Oder vielleicht doch‹, sagte er schließlich und schmunzelte, nahm sich aber gleich zusammen und bemühte sich um einen flachen, objektiven Geschäftston, der gar nicht zu ihm paßte. ›Man weiß ja nicht, was für Geister in der Provinz Befehlsgewalt innehatten. Kann durchaus sein, daß irgendein Soldat Sohn einer Druckerei war und sich bei seinen Vorgesetzten einhauen wollte. Hat er dem Kommandanten vielleicht eine Idee ins Ohr gesetzt. Nach dem Motto: Wir sind ein besonderer Haufen, brauchen also ein eigenes Briefpapier.‹
›Und wenn das nicht der Fall ist‹, fragte ich. ›Was kann die Erklärung für diesen Briefkopf sein?‹
›Daß der Verfasser das Briefpapier allein für sich und seine Zwecke hat anfertigen lassen‹, sagte er, und er wurde sogar zornig. ›Was soll das hier sein? Zwei Lilien? Eine Doppellilie? Eine Verhöhnung vielleicht? Daß der Fälscher den Doppeladler zu einer Doppellilie umgedeutet hat?‹
›Wie? Fälscher?‹ fragte ich und mischte brav eine Prise Empörung in das Ä.
›Allerdings!‹ triumphierte er. ›Das hier, mein Herr, kommt dem Tatbestand der Dokumentenfälschung gleich!‹ — Sein Triumph war nicht die Begleitmusik zu seiner Expertise. Er galt mir. Als hätte er soeben nicht meinen Vater eines Vergehens überführt, sondern mich. Aber eigentlich war es ja nicht Triumph, der seine Stimme hob, sondern ein aufgestautes Achtung-aufgepaßt! dem offenkundig in den letzten Jahren niemand Gehör geschenkt hatte. Und nun legte dieser Zeitenfremdling ausgerechnet mir seine Abrechnung vor, als hätte er auf so eine Gelegenheit gewartet, seit er zum letztenmal beim Barbier gewesen war, und als wäre ausgerechnet ich entweder der Buchhalter des Antichristen, der die große Umwertung der Moral in den vergangenen sechzig Jahren zu verantworten hatte, oder — wer weiß! — der Scout des Erlösers, der gekommen war, um die Lage für eine bessere Zukunft zu sondieren. ›Jawohl, Fälschung und Betrug‹, rief er aus — und ich kam in den Genuß der wohl seltsamsten Rede, die ich je gehört habe.
›Fälschung und Betrug haben sich in jedes Wort hineingeschlichen, und jetzt ist sogar die Wahrheit verlogen, hier stehen wir! Sie kommen aus Amerika, habe ich gehört. Kommen Sie ruhig aus Amerika, meinetwegen kommen Sie halt aus Amerika! Dem Land der großen Präsidenten — Woodrow Wilson, Franklin Delano Roosevelt … Wir haben niemand Vergleichbaren. Und das schon lange nicht mehr. Ganz Europa hat niemand Vergleichbaren vorzuweisen, das möchte ich betonen. Erst haben wir auf euch heruntergeschaut, jetzt schaut ihr auf uns herunter. Als die Kronen von den Köpfen fielen, da waren die Köpfe naturgemäß nichts mehr wert. Gott hat die Entscheidung den Menschen überlassen, wem sie dienen wollen. Da stimmen Sie mir als Amerikaner sicher zu. Ich sage zur Demokratie: Meinetwegen! Wissen Sie, ich glaube, Gott hat das Herz eines Kindes. Erst hat ihn ein Philosoph für tot erklärt, dann hat ein englischer Naturgeschichtelehrer seine Schöpferkraft angezweifelt, da wird er sich gedacht haben: Macht doch euren Dreck allein! Und hat die Hand von den Dynastien gezogen. Manchem gekrönten Kopf hat allerdings die Krone auch vorher schon nicht helfen können. Ich hatte die Ehre, im Mai 1910 zu der Delegation zu gehören, die unseren Thronfolger nach London zur Beerdigung von Eduard VII. begleitete. Da habe ich die Ursache allen Übels mit meinen eigenen Augen gesehen: Wilhelm II., den deutschen Kaiser. Ihm hat nicht Gott die Krone aufgesetzt, sondern eher der andere, ich kann es mir nicht anders erklären. In der ersten Reihe ritt er, auf einem Grauschimmel, in der scharlachroten Uniform eines britischen Feldmarschalls, den Schnurrbart aufgezwirbelt zu zwei Miniaturbajonetten. Jeder wußte, wie sehr er seinen verstorbenen Onkel gehaßt hatte. Dennoch: Zur Rechten des neuen Königs ritt er nun. Georg V. hatte es ausdrücklich angeordnet. Zur Linken soll reiten der Herzog von Connaught, der Bruder des Toten, zur Rechten soll reiten der deutsche Kaiser. Siebzig Nationen waren vertreten! Allein vierzig kaiserliche oder königliche Hoheiten! Hinter Wilhelm II. ritten die Könige Friedrich von Dänemark und Georg von Griechenland, die Schwäger des Toten, weiter die Könige Haakon von Norwegen, Alfons von Spanien, Manuel von Portugal und der farbenprächtige, mit einem seidenen Turban geschmückte Ferdinand von Bulgarien. Anwesend waren auch der Erbe des türkischen Sultans, Prinz Jussuf, und der Bruder des japanischen Kaisers, Prinz Fushimi, und der Bruder des russischen Zaren, Großfürst Michael. Unser Franz Ferdinand mit wehendem grünem Federbusch ritt in der fünften Reihe, neben dem jungen König Albert von Belgien. Das hat uns ein klein wenig verstimmt, zählte unsere Monarchie doch zu den fünf großen europäischen Mächten, und nachdem es das Protokoll vorsah, daß die Herrschaften in Dreierreihe ritten, wäre ein Platz in der dritten oder wenigstens vierten Reihe angemessen gewesen. Unter den zaghaften Schlägen des Big Ben ritten die Herrscher der Welt durch das Schloßtor, scharlachfarben, purpurn, preußisch-blau, golden, mit wippenden Helmbüschen. Etwas Schöneres habe ich nicht erlebt. Übrigens auch Ihr Amerika war vertreten. Der ehemalige Präsident Theodore Roosevelt war als Sondergesandter der Vereinigten Staaten anwesend. Zum Glück gab es da noch zwei andere Herren in Zivil, den Schweizer Gaston-Charlin und den französischen Außenminister Pichon, sonst wäre sich der Vertreter Ihres Landes wohl deplaziert vorgekommen. Nie vorher in der Weltgeschichte war so viel Auserwähltheit auf einem Fleck Erde versammelt. Und ich sage Ihnen, ich habe gespürt — ich, ein kleiner Ministerialbeamter —, daß hier mehr vor sich geht als die Beerdigung des Königs von England. Gott wollte der Welt noch einmal zeigen … aber was wollte er der Welt zeigen? Ich verstehe es nicht! Verstehen Sie, was uns passiert ist? Wie das passieren konnte. Europa ist tot. Wir sind eine Horde geworden. Ich habe von dem deutschen Kaiser Wilhelm II. nie etwas gehalten, und Sie können mir frei heraus glauben — ich weiß es nämlich —, auch unser Kaiser Franz Joseph hat nichts von ihm gehalten, weil von diesem Herrn einfach nichts zu halten war — aber: Daß Ihr Präsident Wilson sich nach dem Ende des Krieges an seinen Schreibtisch setzt und einfach so mit seiner amerikanischen Füllfeder hinschreibt, er fordere, daß der deutsche Kaiser abdankt … Sie kommen also aus Amerika, so. Und Sie treffen die Wiener — und in Berlin ist es nicht anders, Sie können mir das frei heraus glauben —, und Sie sehen diese Menschen, und Sie sehen in ihren Gesichtern, daß sie nicht wissen, was ihnen passiert ist. Auf einmal ist alles so geworden, wie es keiner haben wollte. Millionen Menschen keilen sich ineinander, jeder will etwas, die meisten wollen, daß gar nichts passiert, und am Ende kommt etwas heraus, das nicht einer von ihnen wollte. Ist das nicht nachgerade die unwahrscheinlichste Lösung? Wissen Sie, was ich während der ganzen Zeit, als der Hitler an der Macht war, getan habe? Ich habe gelesen. Als eine Art der Sühne. Wenn alle um mich herum den Arm zum Gruß erhoben hatten, saß ich darunter wie unter den Dachsparren des Teufels und habe die Frage studiert, was gewesen wäre, wenn Wilhelm II. den Reichskanzler Bismarck nicht entlassen hätte. Mein Herr, dann säßen Sie nicht hier, sondern wären immer noch in Ihrem Amerika, in Ihrem Texas oder in Ihrem Neu York oder diesem Chicago, von dem man so viel Schlechtes hört, und ich meine, das wäre wohl auch Ihnen lieber, habe ich recht? Fürst Bismarck war kein Freund von Österreich, das wird man auch in amerikanischen Schulen lehren, wenn es so etwas wie amerikanische Schulen überhaupt gibt, er war nicht einmal ein Freund des Deutschen Reiches, er war kein Freund Englands und kein Freund Frankreichs, und den Russen hat er wie jeder vernünftige Mensch mißtraut. Er hat seine Frau geliebt, das kann man nachlesen. Aber Freunde hatte er keine. Er wollte, daß alles so weitergeht, wie er es begonnen hatte, und nur, wenn es unbedingt notwendig wäre, ein bißchen anders. Und das ist auch das, was ich immer gewollt habe. Ich bitte Sie um eine ehrliche Antwort, mein Herr: Wenn eine Sache so klar ist wie diese, daß die Geschichte anders und zum weitaus Besseren sich entwickelt haben würde, wenn der deutsche Kaiser den deutschen Kanzler nicht entlassen hätte, sollte Gottvater in so einem Falle nicht verfügen — nur in so eindeutigen Konstellationen wie dieser, verstehen Sie mich richtig, nur in solchen historischen Knoten, wo man die Abzweigung, hier zum Guten, hier zum Schlechten, genauestens identifizieren und datieren kann — 20. März 1890 —, daß man noch einmal zurückdarf, jedenfalls dann, wenn die Folgen so sind wie in dem vorliegenden Fall. Ihr Amerikaner habt das Auge Gottes auf eure Geldscheine drucken lassen, ich weiß nicht, was ich davon halten soll, aber vielleicht hat es Gottvater ja in eure Hände gelegt, die Vorbereitungen zu treffen, daß wir tatsächlich noch einmal zurückdürfen. Es gibt Leute bei uns, die glauben das. Glauben Sie das? Wissen Sie womöglich Näheres? Unter diesem Gesichtspunkt hätte die Einmischung Ihres Präsidenten Wilson damals seine Berechtigung gehabt und auch, daß Ihr Präsident Truman diese Bombe auf Japan geworfen hat, und auch, daß Ihr General Eisenhower seinen Soldaten drei Tage Plünderungsfreiheit gegeben hat. Und was diesen Brief hier betrifft, dessen Kopf Sie mir zur Beurteilung vorlegen, er würde ein zweites Mal nicht geschrieben …‹