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Carl begegnete Edith Stein noch ein zweites Mal, das muß Ende der dreißiger Jahre gewesen sein. Er hatte geschäftlich in Holland zu tun, als er erfuhr, daß sie in Aachen einen Vortrag hielt. Der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt, vor achthundert Zuhörern sprach sie über Thomas von Aquin. Da trug sie bereits das Ordenskleid. Nach dem Vortrag drängte er sich hinter die Bühne. Zwei Priester stellten sich ihm in den Weg. Er sagte, er wollte mit Frau Dr. Stein sprechen. Das sei nicht möglich, sagten sie. Er sei doch mit ihr bekannt, bat er, er wolle sie nur begrüßen. Das sei nicht möglich, wiederholten die beiden. In diesem Augenblick trat sie aus einer der Türen in den Gang, sah Carl an und wies ihn ohne ein Wort in ihre Garderobe. Die Tür ließ sie offen. Ein Klavier stand in dem Raum und ein Sofa aus purpurnem Samt. Auf einem Tischchen lag das Manuskript ihrer Rede. Sie drehte die Blätter um und schrieb auf die Rückseite:»Du bist Carl. «Er sei so befangen gewesen, daß er ihr den Bleistift aus der Hand nehmen wollte. Sie schrieb:»Du darfst sprechen. «Aber er wollte nicht sprechen. Sie lächelte und gab ihm den Bleistift.»Ich habe Sie nicht vergessen«, schrieb er. Sie schrieb:»Ich habe Dich auch nicht vergessen, Carl. Wie geht es Deinen Tanten?«Er schrieb:»Ich habe lange nichts von ihnen gehört. «Sie schrieb:»Besuch sie! Sag ihnen Grüße von mir! Sag ihnen, ich habe sie nicht vergessen.«»Ihr Vortrag hat mich sehr bewegt«, schrieb er.»Danke!«schrieb sie. Er schrieb:»Ist es denn gar nicht möglich, daß wir miteinander sprechen können?«Sie zeichnete ihm mit ihrem Daumen ein Kreuz auf die Stirn und sagte leise:»Gott schütze dich!«Und führte ihn zur Tür.

Carl fuhr nach Göttingen und besuchte seine Tanten. Franziska Herzog war krank, ihre Tochter Kuni pflegte sie. Sie wußten gut Bescheid über Edith Stein, nahmen aus der Ferne Anteil an ihrem Leben, soweit das für sie möglich war.»Sie hat uns sehr geholfen«, sagten sie. Viele Jahre später, als der Seligsprechungsprozeß eingeleitet wurde, besuchte ein junger Dominikanerpater die inzwischen hochbetagte Kuni Herzog und befragte sie im Auftrag der Kongregation in Sachen Heiligsprechung über die Zeit, als sie sich Nachhilfeunterricht in Philosophie hatte geben lassen. Er brachte ihr die Autobiographie von Edith Stein mit — Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Da erfuhr sie, daß ihre junge Lehrerin damals nicht weniger verzweifelt gewesen war als sie selbst und ihre Mutter.»Ich konnte«, las sie,»nicht mehr über die Straße gehen, ohne zu wünschen, daß ein Wagen über mich hinwegführe. «Kuni Herzog schickte das Buch zusammen mit einer Abschrift des Interviews an Carl.

Drittes Kapitel

1

Nach drei Wochen verließ ich Carl mit dem festen Vorsatz, unverzüglich mit der Arbeit an seiner Lebensgeschichte zu beginnen. Einige Seiten hatte ich noch während meines Besuchs niedergeschrieben (mit der Hand), mich aber doch nicht entschließen können, sie ihm vorzulesen; zumal es sich lediglich um die nur wenig redigierte Abschrift von meinem Diktiergerät handelte. (Später ließ ich das Gerät übrigens nicht mehr mitlaufen — außer einmal noch, als er mich ausdrücklich darum bat; weil er, wie er sagte, mich nicht in die Verlegenheit bringen wolle, das Erzählte in eigene Worte fassen zu müssen.) Zu Hause in Wien war ich zu erschöpft, um mich gleich an den Schreibtisch zu setzen.

Ich hatte mir zuviel zugemutet. Am Morgen unter der Dusche wurde mir schwindlig, so daß ich mich auf den Boden setzen mußte. Ich hatte nicht die Kraft, das Wasser abzudrehen, und atmete flach und starrte auf die Fugen zwischen den Kacheln und konzentrierte mich darauf, mich nicht zu übergeben. Der Tag begann, gleich war Mittag und schon Nachmittag und Dämmer. Eine Stunde lang spielte ich auf der Gitarre, das lenkte mich ab. Oder ich spazierte durch die Stadt, das half auch ein wenig; oder am Donaukanal entlang; oder ein Stück die Praterallee hinauf und wieder hinunter. Zwei Herren und eine Dame, hoch in den Siebzigern alle drei, verwahrt in gefütterten Wildledermänteln, überholten mich, verlangsamten aber bald ihren Schritt und fielen zurück, und als ich zu ihnen aufgeschlossen hatte, paßten sie sich meinem Tempo an, so daß wir in gleicher Höhe nebeneinander auf der Mitte der Allee gingen. Aus ihrem Gespräch konstruierte ich mir eine Affäre zu dritt, die vielleicht schon ein halbes Jahrhundert zurücklag. Oder ich fuhr mit der U4 hinaus nach Schönbrunn und streifte ziellos durch die Gärten, in denen sich die ersten Blätter lindgrün entfalteten — es war, als löste sich bei ihrem Anblick das Eisenband um meine Brust, aber wenn ich den Blick abwandte und weiterging, zog sich das Band wieder zusammen; oder ich schlich bei Dunkelheit durch die Gassen des vierten und fünften Bezirks, in den Manteltaschen zur Sicherheit zwei Einlagen (Tena Lady Normal, die mir Carls Krankenschwester, Frau Mungenast, empfohlen und besorgt hatte). Ich kaufte bei Virgin auf der Mariahilferstraße eine CD von Wes Montgomery mit einer Aufnahme von Heartstrings, weil Carl und ich dieses Stück so oft gehört hatten. Zu Hause schaltete ich den Player nach ein paar Takten ab, die Musik riß ein Loch in mir auf. Ich verspürte ein Gelüst nach Delikatessen, aber das erwies sich nicht als ein Aufbrechen wiedergewonnener Sinnesfreude, sondern als ein querulantisches Pochen auf Revanche —»Das steht mir jetzt bei Gott zu!«—; und egal, was ich mir auf dem Naschmarkt oder beim Schönbichler oder beim Meinl am Graben oder in dem dämlich teuren neuen Feinschmeckergeschäft hinter dem Stephansdom einpacken ließ, mehr als zwei Bissen brachte ich nicht hinunter. Ich war mutlos und sank von Stunde zu Stunde tiefer in Trübsinn und Einsamkeit, und die Angst, der Krebs könnte doch nicht restlos entfernt worden sein, meldete sich wieder. Vor dem Schlafengehen durchforschte ich den Tag nach Spuren jener Weisheit, die angeblich in der Krankheit liege und die Einsichten von lang wirkender Dauer und großer Erklärungskraft mit sich bringe. Nichts.

2

Ich hätte Evelyn anrufen können. Ich hätte sie anrufen sollen. Ich wußte, sie wartete auf ein Zeichen von mir. Ich tat es nicht. Legte den Hörer wieder auf. Ich fürchtete und hoffte zugleich, ihr zufällig auf der Straße zu begegnen; daß sie, die Hände in den Hosentaschen, den Kragen ihres metallblauen, gesteppten Blousons aufgestellt, sich nahe an der Hauswand haltend, mit ihren ausladenden Männerschritten auf mich zukam — hochgewachsen, athletisch, gerade wie ein Maibaum; schwarz überfärbte, mit Pomade glänzend geringelte, enge Locken; ein Lippenpaar, das sich in scharfen Winkeln traf, darüber ein dunkler Schimmer Flaum; mediterraner Teint, an den Wangen gesprenkelt von zart ockerfarbenen Aknenarben aus der Zeit von Rudolf Kirchschlägers und Ronald Reagans Präsidentschaften —; daß sie zwei Finger an die Schläfe hob und sie mir zum Gruß entgegenschleuderte, ein schiefes Matrosengrinsen im Gesicht.

Als Kind habe sie heftig gestottert, erzählte sie mir. Ihre Mutter (Vater gab es keinen) habe, als sie noch nicht lesen und schreiben konnte, mit ihr zusammen ein Stottertagebuch geführt. Einmal in der Woche sei sie beim Logopäden gewesen, dort habe sie gelernt, daß sich das Stottern verringere, wenn sie flüstert. Das habe ihr Sicherheit gegeben. Als sie in die Schule eintrat, verschwand das Stottern restlos. Sie habe allerdings immer gewußt, daß sich der Feind nur zurückgezogen, daß er aber nicht ihr Haus verlassen habe. Und tatsächlich, mit Zwanzig fing es wieder an. Sie begab sich abermals zum Logopäden, inzwischen wußte man mehr über die Balbuties, sie leide an einer latenten klonischen Form, hieß es. Sie schloß sich einer Selbsthilfegruppe an, in der jeden Dienstagabend gemeinsam gesungen, gesprochen und geflüstert wurde. Nach einem Jahr hatte sie ihr Leiden im Griff. Wenn sie aufgeregt ist, kann es geschehen, daß sie bei manchen Startlauten hängenbleibt. Dann senkt sie ihre Stimme zu einem Flüstern, und es ist vorbei. Wenn das Flüstern versagt, wechselt sie die Methode und redet gegen das Stottern an.»Das ist, wie wenn man mit Nitroglycerin eine brennende Ölquelle löscht«, erklärte sie mir.