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Ich ging durch die Franzensgasse, vorbei am Haus Nummer 17, kehrte um, aber ich drückte nicht auf den Klingelknopf neben ihrem Namen. Bevor ich nach Innsbruck in die Klinik gefahren war, hatte ich zu ihr gesagt:»Wir wollen es lassen. «Sie hatte genickt und sehr ernst korrigiert:»Wir tun so, als ob wir es lassen.«»Nicht als ob«, hatte ich gesagt,»es gilt.«»Du wirst sehen, es gilt nicht«, beharrte sie.»Wenn du wieder zurück bist, ist alles gut, und du rufst mich an. «Ich wußte natürlich, was sie dachte. Er hat Angst, impotent zu werden, dachte sie, er rechnet damit, weil er einer ist, der immer mit dem Schlimmsten rechnet und immer Vorkehrungen treffen will für den Fall, daß das Schlimmste eintritt. — Das» Schlimmste «war nicht eingetreten, die Nervenstränge waren erhalten geblieben.

Evelyn arbeitete als Kuratorin im Haus der Fotografie. Die vorangegangenen eineinhalb Jahre hatte sie damit zugebracht, eine Ausstellung über das» Wien der Jahrhundertwende «vorzubereiten. Je intensiver sie sich damit beschäftigte, desto weiter dehnte sie den Begriff der Wende aus, so daß schließlich in Klammern neben den Titel» von 1889 bis 1916«gesetzt wurde, vom Selbstmord des Kronprinzen Rudolf in Mayerling bis zur Ermordung des österreichischen Ministerpräsidenten Graf Stürgkh durch Friedrich Adler. Aber auch das genügte ihr nicht; eine Ausstellungswand sollte zudem mit» Vorgeschichte«, eine andere mit» Nachgeschichte«übertitelt werden. Im Ganzen umspannte das Projekt also fast achtzig Jahre. Ihre Redlichkeit und ihre Gewissenhaftigkeit begeisterten mich, und ich war es schließlich, der sie bat, ihr bei der Auswahl der Fotos helfen zu dürfen. So saßen wir manchmal bis spät in die Nacht hinein in ihrem Büro und breiteten Hunderte Bilder über ihren Schreibtisch, betrachteten sie unter der Lupe, notierten Registriernummern, bewegten uns im Geist durch die Straßen und Jahrzehnte — von» Klein Venedig «im Prater während der Weltausstellung zur Einweihung der Votivkirche (die fremd und spielzeughaft wie angeliefert auf dem freien Feld stand), von den Verrohrungsarbeiten des Wienflusses beim Karlsplatz zum Trauerzug für Kaiserin Sisi (zum Thema Sisi plante Evelyn einen eigenen Schrein, der nach der Ausstellung in die Schausammlung des Hauses aufgenommen werden sollte), von fleckigen Bildern mit hohläugigem Kinderelend aus den Vorstädten zu einer elfenzarten Aufnahme von Schloß Bellevue, wo Sigmund Freud, wie aus der Bildlegende zu entnehmen war,»am 24. Juli 1895 zum erstenmal einen Traum vollständig gedeutet hatte«. Erst war die Ausstellung als ein schlankes Überbrückungsprojekt gedacht gewesen, aber unter Evelyns uneitlem Diktat hatte sich die Verlegenheitslösung schließlich zu einer Paradeschau entwickelt. Eines Tages stand sie breitbeinig mit Hüftknick vor meiner Tür und sagte kaugummikauend:»Es gibt einen Katalog, und zwar keinen kleinen!«Ich stellte meine eigenen Arbeiten zurück, und wir begannen, die Texte zu formulieren; Evelyn schrieb an einem einleitenden Essay, ich übernahm die Bildunterschriften — etwa die Hälfte stammte von mir, die andere Hälfte schrieben wir gemeinsam. Irgendwann, es war im Spätsommer und schon zwei Uhr in der Nacht, saßen wir draußen vor dem Haus der Fotografie auf einer der Parkbänke, Evelyn rauchte.»Es wäre doch schade«, sagte sie,»wenn die Ausstellung nur in Wien gezeigt würde. Sie müßte auch in anderen Städten zu sehen sein. Zum Beispiel in Moskau. Die Moskowiter sind verrückt nach Fotos. «Am nächsten Tag sprach sie mit dem Direktor, der erklärte im Handumdrehen die Idee zu seiner eigenen und setzte, wie er es nannte,»das Werkl in Gang«. Heraus kam eine Schildbürgeriade. In Folge» bürokratischer Sachzwänge«, von denen jeder einzelne von wahrhaft kakanischer Absurdität war, wurde die Ausstellung zu guter Letzt gar nicht in Wien gezeigt, sondern exklusiv in Moskau.

Wenige Tage, bevor ich nach Innsbruck fuhr, war Evelyn von Schwechat abgeflogen, um gemeinsam mit ihren russischen Kollegen die Ausstellung im Moscow House of Photography aufzubauen. Nach meiner Operation rief sie mich am Handy an. Sie war aufgekratzt von dem» sagenhaften Erfolg «der Ausstellung, immer wieder, mitten im Wort, mußte sie Luft holen.

«Eine fünfzig Meter lange Schlange vor der Eingangskasse! Sechs Zeitungen haben mit Bild berichtet!«

Die Verbindung war schlecht, und mir ging es schlecht.»Wir passen nicht zueinander«, sagte ich.

«Warum nicht«, fragte sie.

«Zum Beispiel, weil du zweiunddreißig bist und ich fünfzig«, sagte ich.

Sie platzte heraus vor Lachen.»Nach zweieinhalb Jahren kommst du darauf?«

So sicher war sie sich, daß meine immer wieder vorgebrachten Einwände gegen unsere Paarschaft für sie nichts weiter als ein Spleen waren; so sicher, daß wir beide zusammenbleiben würden, weil wir zusammengehörten. Diese Zweifellosigkeit wäre mir erträglicher gewesen, wenn sie sich mit ein wenig Pathos zu einem Klischee verbunden hätte; aber für Evelyn war die Liebe ein rein irdisches Ding, das für sich schön genug war und keinen Sanctus aus welcher Himmelsrichtung auch immer benötigte.

Sie sagte:»Die Black Muslims raten: Halbiere das Alter des Mannes, zähl sieben dazu, so alt soll die Frau sein. Rechne nach, was bei uns herauskommt!«

Ich sagte:»Woher weißt du das?«

Sie:»Aus einem Film über Malcolm X.«

Sie wäre gern mit mir zusammengezogen; hatte mir das schon nach den ersten drei Wochen unserer Beziehung dargelegt und wiederholte es nach jedem Frühstück.»Ich verdiene nicht schlecht, und du verdienst auch nicht schlecht, wir könnten uns etwas wirklich Großes leisten, vielleicht sogar ein Haus etwas außerhalb. «Ich arbeitete gern mit ihr zusammen, ich hörte ihr gern zu, und ich mochte es, wenn sie mir zuhörte. Wir hatten es gut im Bett. Aber nichts, was wir zusammen taten, wies über sich hinaus. Weder wenn wir zusammen arbeiteten noch miteinander schliefen, langweilten wir uns.

Seit zwölf Jahren wohne ich in der Heumühlgasse, erst als Mieter, inzwischen als Eigentümer. Ich habe viel Geld und viel Gewohnheit in mein Zuhause gesteckt. Ich hatte erst vor einem Jahr einen Teil des Dachbodens dazugekauft und zu einem Arbeitszimmer ausgebaut. Wenn ich jetzt an meinem Schreibtisch sitze (den ich mir von einem befreundeten Architekten bis ins kleinste nach meinen Wünschen habe anfertigen lassen, mehr ein Cockpit als ein Schreibtisch ist daraus geworden), schaue ich auf einen Teil des flachen Blechdaches, wo ich im Sommer Tisch, Sessel, Liege und Sonnenschirm aufbauen darf und vor allem: zu dem ich allein Zutritt habe; und ich schaue weiter über die Dächer der Wienzeile — ein Stück Stadtprofil, das ich jederzeit frei aus dem Gedächtnis nachzeichnen könnte; strecke ich mich ein wenig, kann ich den Turm der Stephanskirche sehen; an den Abenden fliegen die Krähen und Raben durch den Himmel vor meinem Fenster, hinaus nach Westen, nach Hütteldorf, wo sie im Park um das Irrenhaus Steinhof ihre Schlafplätze haben. Einen fausthohen Stapel mit Skizzen hatte ich angefertigt und meinem Freund vorgelegt, der sie umgezeichnet und verbessert hat, bis am Ende ein ideales Arbeitszimmer auf dem Papier aufgerissen war, das nicht größer als nötig sein würde, eingerichtet mit drei miteinander verbundenen Tischen von verschiedener Höhe, mehreren raffiniert verteilten Regalen, einem bequemen Sofa, zwei hohen, durch Knopfdruck beschattbaren Fenstern und einer schmalen Tür hinaus aufs Dach. Ich öffne die Tür, die Luft des frühen Frühlings läßt mich glücklich sein, und daß ich allein hier lebe, empfinde ich als eine Gnade. Ich höre die Chinesen, die den Laden im Erdgeschoß besitzen; sie hocken im Innenhof, putzen ihren Kohl, reden und lachen miteinander, manchmal rufe ich ihnen zu, und sie antworten mir; an heißen Tagen fault der Abfall in der Mülltonne und stinkt bis zu mir herauf. Unten in meinem ehemaligen Arbeitszimmer ließ ich eine Wand einziehen, eine Hälfte sollte ein neues Badezimmer werden, die andere ein neues Schlafzimmer. Die Arbeiten am Badezimmer waren gerade im Gange, als ich meine Diagnose erhielt. Ich habe den Fliesenleger angerufen und den Auftrag auf unbestimmte Zeit verschoben. Aus meinem bisherigen Schlafzimmer wurde ein zweiter Bibliotheksraum, von dem aus eine Wendeltreppe hinauf in mein neues Arbeitszimmer führte; aus der fensterlosen Dusche sollte ein kleines Archiv für Zeitungen, Zeitschriften, Fotokopien und die Belegexemplare meiner Bücher werden. — »Als ich in diese Wohnung eingezogen bin«, sagte ich zu Evelyn,»warst du einen Kopf kleiner als ich. Sogar in den Gestank von faulendem chinesischem Gemüse bin ich verliebt.«»Ich habe schon verstanden«, sagte sie, und es klang nicht bitter.