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Am Anfang hatten wir im Ton zwar freundliche, aber doch enervierende Debatten geführt, weil ich partout nicht erklären konnte, warum ich nicht bei ihr über Nacht bleiben wollte, und auch nicht wollte, daß sie bei mir über Nacht blieb. Wir saßen auf ihrem Bett oder in ihrer Küche, die Tigerkatze Pnini hockte daneben und wandte ihren Kopf von ihr zu mir und wieder zurück, als sähe sie einem Match zu. Evelyn ist nicht nur eine optimistische, sie ist vor allem eine pragmatische Frau. Sie schlug vor:»Gib uns zwei Nächte, das ist ein fairer Kompromiß. «Einmal in der Woche schlief ich bei ihr, zweimal sie bei mir.»Man muß nicht zusammenwohnen, wenn man zusammen lebt«, sagte sie. Und dann hörte ich, wie sie am Telefon zu jemandem sagte:»Heute geht’s nicht, vielleicht morgen, heute ist mein Geliebter bei mir. «Ich geriet in Panik. Weil sie von mir als ihrem Geliebten gesprochen hatte. Einen Atemzug später bereits dachte ich, ich muß dringend einen Psychiater aufsuchen. Wie sollte sie mich denn sonst nennen? Ihren Lebensabschnittspartner? Ihren Mann? Ich sprach mit Robert Lenobel darüber, er ist Psychoanalytiker und der einzige Freund, der mir in Wien geblieben ist, zwei-, dreimal in der Woche treffen wir uns zum Frühstück im Café Sperl. Er sagte:»Begib dich in eine Analyse! Fünfzig ist genau das richtige Alter dafür. Es kostet nicht mehr allzuviel, und man ist alt genug, um sich nicht mehr zu wundern, wenn nichts dabei herausschaut.«

Evelyn wünschte sich ein Kind. Ich gebe zu, das rührte mich, und das sagte ich ihr auch.

«Du hast von dir ein Bild des Künstlers als Schurken«, bemerkte sie dazu, nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und sagte ohne jeden Unterton von Ironie:»Aber du bist kein Schurke.«

Und das rührte mich noch mehr. Wahrscheinlich bin ich kein Schurke, aber ein unkontrolliert eitler Narr bin ich auch nicht; und daß es verantwortungslos, hoffärtig und dumm in einem ist, einen Menschen in die Welt zu setzen, nur weil man von sich selbst gerührt ist, das mußte ich nicht beweisen, indem ich es tat.

«Was denkst du, warum die meisten Menschen auf der Welt sind?«führte sie ihre sanfte Argumentation weiter.»Jetzt einmal nur die gerechnet, die mit Absicht gezeugt worden sind und nicht aus Versehen. Meine Mutter ist als Zwanzigjährige in der Camargue am Strand gelegen und hat sich ausgemalt, wie schön es doch wäre, wenn neben ihr ein Kind durch den Sand kriecht. Daraufhin hat sie die Pille abgesetzt und sich einen Algerier aufgerissen. Und jetzt bin ich auf der Welt.«

Nachdem der Krebs zweifelsfrei festgestellt worden war und der Arzt mir die Therapie erklärt hatte, sagte ich zu Evelyn — wobei ich mich bemühte, meine Erleichterung zu verbergen:»Sie schneiden nicht nur die Prostata heraus, sondern auch die Samenbläschen. Das müssen sie tun, denn in der Prostata wird die Flüssigkeit produziert, die den Samen verdünnt, damit er die Samenleiter nicht verklebt. Ich werde keine Kinder mehr zeugen können.«

«Aber jetzt kannst du es doch noch«, konterte sie völlig korrekt.

Die Niedergeschlagenheit nach meiner Rückkehr aus Innsbruck entwickelte sich zu einer bösen Depression. Die Vormittage waren schlimm. Ich meinte, der Naschmarkt mit seinen Farben, den Gerüchen und den Stimmen — es herrscht ja Einigkeit darüber, daß dies alles im Verbund für Lebensfreude steht — werde mich aus meiner Vergeblichkeit retten, die ich bis zur Mittagswende vor mir hertrug. Ich frühstückte in Bekir Ünals türkischem Café mit der Illy-Werbung auf dem Dach — Joghurt und Gurken, Fladenbrot und Milchkaffee. Bekir leistete mir Gesellschaft, ihm gehört auch das Teegeschäft gegenüber, wo seine Tochter bedient, eine großäugige, feiste, hübsche, junge Frau mit Kopftuch, die eine begabte Sazspielerin sei, wie ihr Vater erzählt. Wenn ich an ihrem Pavillon vorbeigehe, ruft sie mir zu, ob ich ein Glas Tee wolle; den Tee gib’s umsonst, ich nehme einen Sesamtaler dazu. Zu Bekirs Imperium gehören weiters ein Gemüseladen, ein Delikatessengeschäft und ein Kebab-Stand. Er hat mich vor ein paar Jahren einmal zu sich nach Hause eingeladen. Seine Frau war zusammen mit der Tochter nach Antalya zu ihren Eltern gefahren.

Mein Arzt, Dr. Strelka, der mich operiert hatte, sagte am Telefon, das sei eine ganz normale postoperative Depression; sie vergehe und werde abgelöst von einer postoperativen Euphorie, um die er mich beneide; alle seinen Patienten hätten ihm von dieser Phase vorgeschwärmt.»Beschäftigen Sie sich«, sagte er,»aber wenn möglich, mit etwas, was Ihnen nicht am Herzen liegt. Sonst kann es sein, daß Sie sich für lange Zeit jeden Gedanken daran verderben.«

Es gab eine Menge wichtiger Dinge zu erledigen, die mir alle nicht am Herzen lagen — Korrekturfahnen einer Sammlung von Erzählungen lesen (es waren Geschichten, die ich im Lauf von zwanzig Jahren in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen und im Rundfunk veröffentlicht hatte), die Einkommensteuererklärung mit meinem Steuerberater zusammenstellen, neue Termine mit dem Fliesenleger vereinbaren. So vergingen vier Wochen, und ich schrieb nicht eine Zeile; ich warf nicht einmal einen Blick in meine Notizhefte — C.J.C. 1 usw. bis C.J.C. 7. Daß ich Carl telefonisch nicht erreichte, daß ich gar nichts mehr von ihm hörte, tauchte die Erinnerung an meinen Besuch in ein bedrückend irreales Licht. Warum rief er nicht zurück? Oder ließ zurückrufen? Hatte ich ihn gekränkt? Hätte ich mehr Engagement zeigen sollen? Oder hatte er das Interesse an unserem Projekt verloren? Hatte inzwischen der Zweifel obsiegt, ob ich der richtige sei, sein Leben zu erzählen? Sah er in dieser Art der Lebensverlängerung über das Leben hinaus am Ende doch keine Genugtuung für das Unrecht, das ihm mit dem Tod angetan würde? — Alle meine Angelegenheiten erscheinen mir in einem unfertigen Zustand.

3

Und dann: Freitag nacht, Mitte April. Ich war gerade von einem Spaziergang durch die Innenstadt nach Hause gekommen. Es klingelte an meiner Wohnungstür. Ich hatte keinen Zweifel, daß es Evelyn war. Sie besaß einen Schlüssel zu meiner Wohnung. Sie hatte ihn noch nie gebraucht, sie wollte ihn auch nicht gebrauchen, sie wollte ihn nur besitzen. Ich lugte durch den Spion und sah den Kopf eines jungen Mannes — schulterlanges lockiges Haar, Zigarette im Mundwinkel. Ich fragte, wer da sei, und eine kräftige Stimme antwortete:

«David. Dein Sohn.«