Ich war zu aufgewühlt, um zu schlafen. Ich stieg wieder in die Bibliothek hinunter, öffnete die Schnüre an seinem Rucksack: Eine Straßenkarte von Deutschland, eine von Frankreich, ein Notizbuch, das mit einem Gummiband umschlungen war, an dem einige Haare hingen, eine Schachtel Camel mit drei Zigaretten darin, ein gelbes Plastikfeuerzeug, ein Nokia-Handy, aber kein Ladegerät, ein sorgfältig in Zeitungspapier eingebundenes Buch über Comics — ich blätterte darin, konnte mich aber nicht darauf konzentrieren —, der Standard von gestern — also war er schon wenigstens zwei Tage in Österreich —, eine mit buntem Isolierband reparierte Geldbörse — Inhalt: 15 Euro und Münzen, ein Personalausweis, eine in Plastik verschweißte Mitgliedskarte eines Schachvereins und ein Steckschach, so groß wie eine CD-Hülle. Keine Wäsche war im Rucksack und auch kein Waschzeug.
Ich nahm mir eine Camel und rief Robert Lenobel an. Ich ließ es so lange klingeln, bis sich der Anrufbeantworter einschaltete. Ich wählte noch einmal. Er meldete sich, aus dem Schlaf gerissen, ich erklärte ihm die Situation. Bis ich damit fertig war, war er wach.
«Wo schläft er?«fragte er.
«Oben im Arbeitszimmer.«
«Heute geht das«, sagte er.»Morgen soll er irgendwo anders schlafen, nicht ausgerechnet oben, wo er jederzeit aufs Dach hinausgehen und in den Innenhof springen kann.«
Ich sagte, ich sei nicht aufgelegt für solche Späße. Er sagte, das seien keine Späße.
«Ich weiß nicht, ob er morgen noch hier ist«, sagte ich.
«Du mußt ihn halten«, sagte er.
«Kannst du ihn dir anschauen?«fragte ich.
«Du kannst ihn jederzeit zu mir bringen«, sagte er.»Aber das geht nur, wenn er es will, das ist dir doch klar.«
«Ich kann mit ihm morgen ins Sperl kommen«, sagte ich,»und du kommst auch, und wir tun, als ob es zufällig wäre, und du schaust ihn dir an.«
«Gut«, sagte er,»ruf mich an, wenn er aufgewacht ist.«
Eine Weile blieb ich auf dem Fauteuil in der Bibliothek sitzen. Vor drei Jahren hatte ich mir das Rauchen abgewöhnt, immer habe ich der Versuchung widerstanden, Evelyn die Zigarette anzuzünden. Ich hatte auch jetzt keine Lust zu rauchen. Es entsprach dem klassischen Klischee, in so einer Situation rückfällig zu werden. Ich wünschte mir, daß alles gut ausging. Vielleicht sind die guten Ausgänge standardisiert, und was wir Klischee nennen, ist in Wahrheit ein höheren Orts ausgetüftelter Ablauf, der absichtlich simpel ist, damit auch die Dümmsten mit ihm zurechtkommen. Ich ging in die Küche und rauchte Davids Camel zum Fenster hinaus.
4
Dagmar und ich: Wir haben uns von Anfang an gestritten, und wir haben immer gestritten. Und immer gleich — Thema und Improvisation, wie Jazz. Nur zweieinhalb Jahre waren wir zusammen gewesen, von Herbst 1977 bis Mai 1980; diese Beziehung wurde für mich zum Modell für all die fehlgeschlagenen Beziehungen, die folgten. Als ob jeder Fehler, den ich beging, in der Zeit mit Dagmar prototypisch vorgeprägt worden wäre. Jedes Scheitern habe ich diesem ersten Scheitern angelastet.
Ich wohnte in Frankfurt in der Danneckerstraße, das ist über dem Main in Sachsenhausen, in einer Wohnung mit einem sehr ausgefallenen Grundriß. Der Eigentümer hatte eine Wand eingezogen, eine zweite Wohnungstür eingesetzt und so aus einer zwei Wohnungen gemacht; ich hatte den Teil mit der Küche, mein Nachbar den Teil mit dem Bad. Mein Arbeitszimmer und mein Schlafzimmer (ebenfalls mittels einer Mauer aus einem zwei gemacht) waren lichtarm und schmal; die Küche aber hatte großzügige Maße, sie war asymmetrisch geschnitten und durch zwei Stufen, die sich über ihre Diagonale zogen, in zwei Bereiche geteilt. Das wirkte sehr extravagant. Ich saß gern einfach nur auf einem Sessel und schaute mir meine Küche an. Im vorderen Teil prunkte ein amerikanischer Kühlschrank, türkis und wuchtig wie ein aufrecht geparkter Omnibus, hinten bei der Fensterfront standen ein alter Schwarzweißfernseher, ein Radio, mein Plattenspieler, ein kleines Sofa und als Besonderheit eine nachträglich vom Vermieter eingebaute Badewanne aus meerblauem Kunststoff, die einen zarten Geruch nach Chlor verströmte, der mich an ein Freibad im Sommer erinnerte; ich empfand das durchaus als angenehm. Auf die beiden Zimmer hätte ich verzichten können; ich hielt mich immer in der Küche auf.
Ich hatte inzwischen definitiv mein Studium beendet — Geschichte und Latein — und tat kaum noch so, als ob ich an meiner Dissertation arbeitete. Ich war so nah bei mir selbst wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich lebte gern allein. Nach dem Selbstmord meines Vaters hatte ich den Himmel über meinem Kopf neu zusammensetzen müssen — eine Woche war ich bei meiner Mutter in Vorarlberg gewesen, eine Woche mit ihr zusammen bei Carl in Innsbruck, eine Woche in New York; immer wieder hatte ich den gleichen Satz vor mich hergesagt, wie eine Beschwörungsformeclass="underline" »Das ist eben unser Leben. «Nach einem halben Jahr war diese Arbeit getan. Der Satz kam mir abgeschmackt vor; ich hatte alle Arznei aus ihm herausgesaugt. Ich war einigermaßen im Frieden und konnte wieder an meinen Vater denken — mit weniger Selbstvorwürfen, weniger Entsetzen, weniger Verwirrung und weniger Zorn. Und ich konnte mir das Foto ansehen, auf dem er seine Gibson in den Armen hielt und auf dessen Rückseite er mir als Geburtstagsgruß geschrieben hatte, ich solle mir einfach vorstellen, ich sei die Gitarre. Und ich konnte mir auch wieder Aufnahmen von ihm anhören — die letzten Aufnahmen, die er, wenige Monate bevor er an sein Ende gekommen war, zusammen mit Toots Tielemanns, der die chromatische Mundharmonika spielte, und einem Bassisten in einem Züricher Studio für eine Schweizer Plattenfirma eingespielt hatte.
Was ich zum Leben brauchte, verdiente ich mir zum einen an der Universität als Tutor bei den Lateinern, zum anderen mit gelegentlichen Lektoratsarbeiten für den Hirschgraben-Schulbuchverlag (Geschichte für die Oberstufe) und mit einer Serie von Viertelstunden-Biographien über große Griechen und Römer, die ich mir aus dem Plutarch zusammenschrieb und jeden Donnerstag zum Hessischen Rundfunk in die Bertramstraße 8 brachte, wo sie von einem Schauspieler gelesen und am Sonntag in der Nacht sowie am Montag vormittag im Bildungsprogramm gesendet wurden. Alles in allem hatte ich damit mein Auskommen.
Dagmar war dreiundzwanzig, ich siebenundzwanzig, als wir uns kennenlernten. Sie wohnte im Westend in der Bockenheimer Landstraße zusammen mit einer Germanistikstudentin (noch heute, wenn ich an sie denke, dreht sich mir der Magen um). Dagmar studierte Psychologie ohne zweites Fach. Sie sagte, sie finde es bescheuert, daß ich Latein studiert hätte. Ich sagte, ich könne das Wort» bescheuert «nicht besonders leiden, sie solle bitte ein anderes wählen. Sie sagte, sie wisse aber kein anderes Wort dafür. Ich schlug» idiotisch«,»krank«,»dumm«,»verrückt«,»beschissen «und» hirnverbrannt «vor. Ich sagte, ich zum Beispiel finde es idiotisch, krank, dumm, verrückt, beschissen und hirnverbrannt, Psychologie ohne zweites Fach zu studieren.»Am Ende kannst du gar nichts, ich kann wenigstens Latein!«— Das war im Dezember. Im November erst hatten wir uns kennengelernt.
Im Café Laumer haben wir uns kennengelernt, zwei Blocks von ihrer Wohnung entfernt. Dagmar saß mitten im süßen Kuchenduft und fröstelte. Sie hatte die Ärmel ihres Pullovers über die Hände gezogen und machte einen krummen Rücken. Ihre Augen waren schattig, das sah weniger verrucht als verweint aus. Ich mochte es, wenn sie ihren krummen Rücken machte, vom ersten Augenblick an mochte ich es. Es wirkte lauernd und zugleich hilflos, kindlich kämpferisch, aber doch angsteinflößend, weil nicht abzuschätzen war, wieviel Bereitschaft zum Äußersten in dieser Körperhaltung ihren Ausdruck fand. Sie trank Tee, wärmte sich die Hände am Glas, las ein Buch und schrieb in ein kleines schwarzes Heft. Das Café war voll, und ich setzte mich an ihren Tisch. Ihre Haare, blond mit goldenen Streifen, fielen über ihren Pullover, sie waren dünn und glatt, und das bewirkte, daß sie noch schmächtiger aussah. Sofort lenkte sie das Gespräch auf Wesentliches. Aber wesentlich war für sie alles. Jedes Thema, jeder Gegenstand, die unscheinbarsten Angelegenheiten bekamen allein durch die Art, wie sie darüber sprach, existentielles Gewicht. Wenn ich in ihr schmales, wegen des leicht vorspringenden Kinns herzförmiges Gesicht sah, befürchtete ich, daß ich in meinem bisherigen Leben fast alles verpaßt hatte; das war mein Unglück, aber mein Glück war, daß mir durch diese Frau die Chance geboten wurde, das Versäumte nachzuholen. Schon in der ersten Stunde präsentierte sie ihre Palette: ein unsteter Blick; immer abwechselnd ein wenig Seelenschmerz, ein wenig Mißtrauen, ein wenig Ablehnung; gleich darauf, als hätte jemand eine Seite in ihrem Herzbuch umgeschlagen, Hingabe und naives Weltvertrauen, was in mir augenblicklich einen Reflex von Ritterlichkeit auslöste, ein so altmodisches Gefühl, daß ich es tatsächlich nur aus Büchern kennen konnte. Dann, ohne mir auch nur eine Sekunde zum Umdenken zu gönnen, schnitt kalte Doktrin mein Wort ab, und sie schien nur noch aus Desillusioniertheit, Konsequenz und Arroganz zu bestehen; sie begann, mich zu agitieren, hielt mir einen Vortrag über die Arbeiterklasse, nämlich die» Arbeiterklasse an sich«, was etwas anderes sei als die» Arbeiterklasse für sich«— dieses der anzustrebende Idealzustand der Bewußtheit der eigenen Ziele und Interessen, jenes das schiere, dumpfe Dasein, bestehend aus Fressen, Saufen, Malochen, Fernsehen, Vögeln und Pennen —; eine Unterscheidung, die, soweit ich es verstand, darauf hinauslief, das An-sich mit gutem Gewissen als Rechtfertigung vorweisen zu können, wenn das Für-sich unterdrückt, geknebelt, geschunden und erschlagen wurde. (Später, wenn sie diesen Propagandaton anschlug, schmetterte ich sie ab, indem ich sagte:»Hör auf mit dem schwäbischen Nihilismus!«Darüber ärgerte sie sich maßlos. Es war eine Anspielung auf ihre Mitbewohnerin, die aus Plochingen stammte und außerdem Mitglied des Zentralkomitees des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands, abgekürzt KBW, war. Dagmar fürchtete sich vor dieser Frau, sie haßte sie; und bewunderte sie, jedenfalls genug, um ab und zu ihren Parteisprech zu kopieren.) Ich weiß, manche hielten Dagmar für wenig ernsthaft, meinten, sie probiere lediglich aus, jongliere mit Charakteren wie eine Schauspielerin, schlüpfe aus Übermut oder purer Darstellungssucht in immer verschiedene Rollen. Ich dachte das anfangs auch. Wer ist sie wirklich, fragte ich mich. Sie setzte Farbtupfer, die ein Bild ergaben, dessen Sujet auf den ersten Blick — auf viele erste Blicke — nicht zu erkennen war und nicht zu erkennen sein sollte. Das reizvolle daran war, daß sie ihre Strategie absichtlich durchschaubar hielt; und das war eine Aufforderung — oder eine Warnung: Verlaß dich auf gar nichts, in Wahrheit bin ich ganz anders! — ; vor allem aber war es eine Bitte: Tu mir nicht weh! Manchmal verstummte sie, und ihr Blick kehrte sich nach innen, und ihr Gesicht zeigte sich so anmutig verschlossen, daß jeder, der um sie war, innehielt, als wäre er Zeuge von etwas Beispiellosem.»Was war mit dir plötzlich?«fragte ich sie einmal.»Nichts«, sagte sie.»Aber was hast du gedacht?«»Gar nichts.«