Als ich nach so vielen Jahren ihre Stimme am Telefon hörte, spürte ich, wie eine heiße Welle in mir aufstieg, und ich wünschte, bei ihr zu sein, wie ich es vor so langer Zeit im Café Laumer gewünscht hatte; und daß uns über unseren Sohn ein gemeinsames Schicksal verband, katapultierte mich in den längst vergessen geglaubten Existentialistenhimmel von l’Amour fou — wo man sich in meinem Alter allerdings nur wenige Augenblicke aufhalten sollte.
Sie wollte mit mir kommen. Und sie kam mit mir. Und kehrte nur noch selten in die Bockenheimer Landstraße zurück, und wenn, nur auf einen Sprung, um sich etwas zum Anziehen oder ein paar Bücher zu holen. Ich, der ich ein notorischer Langschläfer war, gewöhnte mir an, um sieben aufzustehen. Denn das war Dagmars Zeit. Wir frühstückten in meiner Küche. Dort hatte ich noch nie gefrühstückt, der Küchentisch war zugedeckt mit meinen Büchern und meinen Papieren und meiner Schreibmaschine, ich war immer ein paar Straßen weiter zu Eduscho gegangen. Manchmal fuhren wir in ihrem gelben R4 über die Autobahn zum Flughafen und dort über das Kreuz, das das bekannteste Kreuz Deutschlands war, und wieder zurück und weiter in die Richtung, in die das riesige blaue Schild wies, auf dem als letztes Ziel Hamburg angegeben war; schauten auf die Großstadtskyline hinter den Schrebergärten, diesen von Menschenhand erschaffenen Horizont, auf den alle Frankfurter so stolz waren; ich erzählte von Manhattan, wo ich erst vor einem halben Jahr eine Woche lang gewesen war, und wir nahmen uns vor, Geld zu sparen und bei der nächsten Gelegenheit gemeinsam hinüberzufliegen; und wir fuhren und fuhren, bis wir Hunger bekamen, verdrückten bei einer Raststätte ein Sandwich und kehrten in der Dunkelheit wieder heim. An anderen Tagen spazierten wir eng umschlungen am Main entlang, als wäre hier Paris, sie in ihrem schwarzen Mantel aus Ziegennappaleder, der ihre zarte Figur so elegant betonte und für den sie zwei Monate in den Semesterferien bei der Post gearbeitet hatte; wir setzten uns auf einen der betonierten Blumenkästen in der Zeil, drehten Tabak und rauchten und beobachteten die Strebsamen und Besorgten, die Getriebenen und Entschlossenen und dachten, zu denen gehören wir auf alle Fälle nicht mehr, und dachten, seit neuestem gehören wir nur noch uns selbst. Ich erzählte ihr von meinem Vater und seinem traurigen Ende, und sie hörte mir zu und sagte:»Schreib über ihn!«Aber das konnte ich nicht. Ich sagte:»Noch kann ich es nicht.«(Am Telefon nach über zwanzig Jahren fragte sie mich, ob ich inzwischen über meinen Vater geschrieben hätte.»Immer noch nicht«, hatte ich ihr geantwortet.)
Abends blieben wir meistens zu Hause. Während ich meine Griechen-Römer-Porträts verfaßte oder Manuskripte für Geschichte Oberstufe lektorierte, redeten wir miteinander, hörten Schallplatten, hauptsächlich ihre — die Brandenburgischen Konzerte von Bach, Ein deutsches Requiem von Brahms, alles von Bob Dylan und, was mir am besten gefiel, The Heart of Saturday Night von Tom Waits (als wir uns trennten, nahm ich die Platte, ohne zu fragen, mit, sie liegt heute noch bei meinen Sachen).
Ich ließ mich antreiben — von ihren Launen, ihren fixen Ideen, ihren Zukunftsträumen und ihrer permanent auf Hochtouren arbeitenden Maschine zur Erzeugung von immer neuen Selbstbildnissen. Ich begann wieder zu schreiben — kurze Geschichten, die alle den gleichen Helden hatten, nämlich einen zehnjährigen Buben, der Jacob hieß und einen verrückten Vater hatte und eine Mutter, an die nicht heranzukommen war, und der sich in einer großen Stadt herumtrieb, die Wien heißen konnte. Die Geschichten waren nicht länger als zwei, drei Seiten und hatten als Vorbild die Nick Adams Stories von Hemingway. Jeden Tag schrieb ich eine, weil sich Dagmar jeden Tag eine bei mir bestellte. Wenn ich sie mittags in der Mensa traf, wo sie mit ihren Kommilitonen aus dem Seminar saß und Reisauflauf oder Schinkennudeln oder Hackbraten mit Püree aß, konnte es vorkommen, daß sie mir ins Ohr flüsterte:»Ich freue mich auf heute abend!«
Irgendwann, wieder mittags in der Mensa, wandte sie sich abrupt von der immer etwas schief lächelnden jungen Lehrerin mit den hervorstehenden Schlüsselbeinen und dem schmächtigen Oberkörper ab — mit der zusammen sie an einem Referat über die Theorie des sogenannten» heimlichen Lehrplans «arbeitete (die sich ohne jeden Substanzverlust in den Satz» Der Schüler weiß, was der Lehrer hören will «zusammenfassen ließ) — und sagte mit lauter, stolzer Stimme, so daß es alle am Tisch hören konnten:»Sebastian, ich wünsche, daß du mir von nun an jeden Abend zwei deiner Kurzgeschichten vorliest. «Die am Tisch saßen, die schief Grinsende und die beiden Pädagogen mit den Kohlenschaufelbärten, die ich nicht auseinanderhalten konnte, betrachteten mich wie ein prähistorisches Studienobjekt, und Dagmar verkündete in einem Tonfall, als lüfte sie auf allgemeinen Wunsch hin nun endlich mein Inkognito:»Ja! Er ist Schriftsteller. Jetzt wißt ihr es. Und zwar der beste, den ich kenne. Ihr werdet euch an ihn erinnern. Schaut ihn genau an.«